Gegen das Vergessen

Von Dr. László Kova

Graue Zeiten in Ungarn (Vortrag bei der Hamburger Literaturvereinigung am 11.05.2011)

Es fällt mir schwer über die grauen Zeiten im meinem Land Ungarn zu sprechen. Leider machten sich die damaligen Regierungen an Menschenverachtung und Menschenvernichtung schuldig, besonders während der Nazi-Okkupierung Ungarns im Zweiten Weltkrieg. Aber es gab auch in diesen grauen Zeiten Menschen, die waghalsig menschlich geblieben sind und unter eigener Lebensgefahr viele Ungarn jüdischer Abstammung vor dem Holocaust retteten.

Das Datum 31. Oktober 1918 bedeutete das Auflösen der Österreichisch-Ungarische Monarchie. Danach folgte die Zeit von politischen Unsicherheiten. Nach dem sowjetischen Beispiel wurde die kommunistische Räterepublik Ungarn am 21. März 1919 ausgerufen, die nach 121 Tage Herrschsaft (am 01. August 1919) durch tschechische und rumänische Streitkräfte besiegt wurde. Am 01. März 1920 wählte die ungarische Nationalversammlung den Sieger über die Räterepublik, den Admiral Miklós Horthy zum Reichsverweser. Horthy stammte aus einer ungarischen Kleinadelsfamilie. Von Anfang an entschloss er sich zu einer militärischen Karriere, er war von Februar 1918 an der letzte Befehlshaber der k.u.k. Kriegsmarine.

1919 nahmen an der Leitung der kommunistischen Räterepublik  viele Juden teil. Dort war der mächtige Mann der Jude Béla Kun, der in der russischen Kriegsgefangenschaft zum Anhänger der russischen Bolschewiki geworden war. Der so genante ´Weiße Terror´ wandte sich gegen die Bolschewisten, Sozialisten, Kommunisten und Juden. Das erste antijüdische Gesetz unter Horthy – ein spezieller Numerus clausus für jüdische Studenten – stammte aus dem September 1920. Den Juden Ungarns wurde vorgeworfen, die ungarische Kultur zu gefährden.

Ab dem Jahr 1938 wurde in Ungarn eine Reihe antijüdischer Gesetze erlassen. Diese Gesetze trugen Züge der Nürnberger Rassengesetze. Entgegen den Wünschen von Adolf Hitler weigerte sich Ungarn unter der Leitung vom Reichsverweser Horthy, seine jüdischen Einwohner auszuliefern bzw. deren Transport in Lager zuzulassen.

Daraufhin am 19. März 1944 fielen acht Nazi-Divisionen in Ungarn ein, es heißt, Ungarn wurde okkupiert. Der Reichsverweser Miklós Horthy wurde von den verbündeten Deutschen zur Abdankung gezwungen und sein Anwesen bombardiert. Man verhaftete ihn anschließend am 16. Oktober 1944, nachdem er versucht hatte, mit der Sowjetunion einen Waffenstillstand abzuschließen.

Mit den deutschen Invasionstruppen kam ein 200 Mann starkes Sondereinsatzkommando mit dem Auftrag von Adolf Eichmann, die „Endlösung“ einzuleiten. Die deutschen Schätzungen gingen von etwa einer Million Juden aus. Die Stufen der Endlösung waren: Erfassung, Kennzeichnung, Entrechtung, Ghettoisierung, Zwangsarbeit, Enteignung und Deportation. Das von der Hitler-Armee okkupierte Ungarn wurde von der Partei der ungarischen faschistischen Pfeilkreuzlern beherrscht. An der Spitze der Pfeilkreuzer war der grausame Hitlerfreund Ferenc Szálasi. Ab dem 5. April 1944 hatten alle Juden in Ungarn den gelben Stern zu tragen. Innerhalb von zwei Monaten wurden bereits Juden, Sintis und Romas  deportiert.  Bis Ende Juni 1944 stieg die Zahl der deportierten Juden nach Auschwitz auf Rund 440.000, die vorwiegend aus den ländlichen Provinzen stammten.

Über 200.000 ungarische Juden verblieben zunächst in Budapest. Dort wurden sie ab Juni 1944 in speziell gekennzeichneten „Judenhäusern“, ab November auch in Ghettos interniert. Noch vor der vollständigen Einschließung der Hauptstadt durch die vorrückende Rote Armee Weihnachten 1944 wurden Zehntausende Budapester Juden in Konzentrationslager nach Deutschland deportiert, um dort in der Rüstungsindustrie Zwangsarbeit zu verrichten. So gelangen z.B. der später berühmte Filmemacher Gyula Trebitsch und der mit dem Nobelpreis 2002 ausgezeichnete Literat Imre Kertész nach Hitlerdeutschland. Vor der unmittelbaren Ermordung der Zwangsarbeiter wurde zunächst abgesehen. Bereits auf den Fußmärschen zur Grenze zum Deutschen Reich kamen jedoch Tausende um.

Viele Juden in Budapest konnten zunächst gerettet werden.

Unter den Rettern der Juden erwähne ich hier Henryk Slawik (*1894; †24. oder 25. August 1944 KZ Mauthausen). Er war ein polnischer Politiker, Diplomat und Sozialarbeiter, der während des Zweiten Weltkrieges durch Ausstellen falscher polnischer Pässe mehr als 5.000 ungarische und polnische Juden aus Budapest vor dem Holocaust bewahrte. Er wurde später in das Konzentrationslager Mauthausen gebracht, wo er, wahrscheinlich im August 1944, erschossen wurde. Seine Ehefrau überlebte das KZ Ravensbrück und fand nach dem Krieg ihre Tochter wieder, die in Ungarn von der Familie József Antall Senior versteckt worden war. Der Sohn von József Antall Senior, also József Antall Jr., war nach der Wende vom 1990 bis 93 ungarischer Premierminister.

Bis Ende Oktober 1944 stellte der salvadorianischer Konsulatssekretär George Mandel-Mantello über 1600 Schutzpässe aus. Unter den weiteren Rettern muss der Apostolische Nuntius Angelo Rotta erwähnt  werden.

Der schwedische Raoul Wallenberg (geb. 1912-1947) verteilte als Diplomat sogenannte schwedische Schutzpässe. Diese Dokumente identifizierten die Inhaber als schwedische Staatsbürger. Er organisierte gemeinsam mit dem Schweizer Gesandten Carl Lutz (1895-1975), Harald Feller und Friedrich Borndie Unterbringung seiner Schützlinge in über 30 Schutzhäusern, die als „Schwedische Bibliothek“ oder „Schwedisches Forschungsinstitut“ ausgewiesen – und mit schwedischen Flaggen dekoriert wurden. Die Schutzhäuser bildeten ein internationales Ghetto um die Große Synagoge in Budapest, in dem sich etwa 30.000 Menschen befanden. Wallenberg gelang es dank amerikanischer Dollars, die große Zahl seiner Schützlinge zu versorgen, richtete in jedem Haus eine Krankenstation ein und bewahrte sie vor dem sicheren Tod. So konnte Wallenberg den mehr als 80.000 Juden helfen.

Während sich die Hitler-Armee im Rückzug befand, wurde ein fünfstufiges Verteidigungssystem in Ungarn mit jüdischen Zwangsarbeitern gebaut. Mit dem Herannahen der Roten Armee erging Ende März 1945 in den Lagern entlang der Befehl, die jüdischen Schanzarbeiter in Richtung Mauthausen zu evakuieren.

In den meisten Fällen mussten die Zwangsarbeiter einen Teil des Weges zu Fuß zurücklegen. Die täglich zurückgelegten Strecken und die mangelhafte Ernährung nahmen ihre Opfer. Dazu kam noch der Befehl, die körperlich Schwachen zu erschießen.

 

Falls jemand von der Zivilbevölkerung den marschierenden Zwangsarbeitern etwas überreichte, z.B. Trinkwasser oder Nahrung, wurden sie von den Aufsehern im besten Fall brutal geschlagen und getreten oder einfach erschossen.

Die Morde an Tausenden ungarischen Juden passierten im Zuge der Evakuierung. Die Erschießung von Kranken und Nichtmarschfähigen bei den Evakuierungen aus Konzentrationslagern war eine gängige Praxis. Es gab einen von der SS ausgeführten Befehl, Juden in Kampfgebieten zu erschießen.

Diese unmenschliche Zeit der neueren Geschichte ging mit der Ausdrängung der Hitler-Armee aus Ungarn zu Ende. Das Budapester Ghetto wurde am 18. Januar 1945 von der Roten Armee befreit. Von den 825.000 Personen, die in Ungarn innerhalb der Grenzen von 1941-45 lebten und als Juden angesehen wurden, kamen im Holocaust etwa 565.000 ums Leben, während 260.000 die Kriegsjahre überlebten.

Ein Dichter als Holocaust-Opfer: Wir hören in Ungarn immer noch die Stimme eines wunderbaren Dichters aus der Ferne. Seine Gedichte sind nicht einfach nur Reflexionen eines Holocaust-Opfers, sondern ein Mahnmal eines Genies. Er ist Miklós Radnóti, der ungarische Dichter jüdischer Abstammung.

Miklós Radnóti (1909 – 1944) verlor bei seiner Geburt 1909 die Mutter und den Zwillingsbruder. Als er 12 Jahre alt war, starb der Vater. 1935 erwarb er das Diplom als Gymnasiallehrer. In den späten dreißiger Jahren war er als freischaffender Schriftsteller und Übersetzer (u.a. Rilke, Shakespeare, La Fontaine, Appolinaire) sowie als Mitarbeiter der renommierten Literaturzeitschrift „Nyugat“ (Westen) tätig. Während des II. Weltkrieges wurde er zur Zwangsarbeit einberufen. Während eines „Gewaltmarsches“ durch Ungarn Anfang November 1944 wurde der kranke und extrem geschwächte Dichter in Abda bei Györ/Ungarn von einem Aufseher erschossen. Seine letzten Gedichte wurden nach seiner Exhumierung in seiner Manteltasche – handgeschrieben in einem Heft – gefunden.

Gewaltmarsch

Narr, der, zu Boden sinkend, aufsteht, sich neu entlang bringt,
als wandelnder Gelenkschmerz kaum Fuß und Knie in Gang bringt,
Sich trotzdem aufrafft, dem gleich, der leicht beflügelt geht,
und ruft der Graben, „bleib doch“, dem Lockruf widersteht,
denn eben, ihn erwarte die Frau, antwortet er,
und auch ein Tod, sinnvoller und würdiger als der.
Der fromme Narr, – wo Menschen daheimgewesen sind,
dort kreist seit langem nur noch der brandversengte Wind,
Hauswand und Pflaumenbaum sind dem Boden gleichgemacht,
und Angst zerrauht den Sammet der heimatlichen Nacht.
O wenn ich glauben könnte, dass ich, was noch von Wert ist,
nicht nur im Herzen trage, nein, dass es unversehrt ist,
die Heimkehr einen Sinn hat, und in den Laubengängen
im Schatten, wo das Maus kühlt, des Friedens Bienen sängen,
Spätsommer still sich sonnte im ungestörten Traum
der Gärten, blanke Früchte schaukelten im Baum,
und Fanni würde warten blond, vor dem roten Hag,
und Schatten schiebe langsam der träge Vormittag,-
noch kann’s ja sein! so rund läuft der Mond heut seinen Lauf!
Halt ein und schrei mich an, Freund! und ja, ich stehe auf!
Bor, 15.September 1944

Vor ein paar Tagen habe ich die Möglichkeit gehabt,  das Buch „Nichts zu lachen – Die Erinnerungen“, herausgegeben vom Verlag LangenMüller München, zu lesen. Dort beschreibt der aus Ungarn stammende israelische Schriftsteller Ephraim Kishon unter anderem – wie er auf der Seite 7 sagt – „meine Jahre unter dem Joch des Hakenkreuzes“. Sein Bericht ist mehr als grausam. Zum Schluss möchte ich einige Zitate aus den Seiten 66 und 77 vorlesen: „Auch wurde mit dem Tode bestraft, wer Juden bei der Flucht half. Die Chancen, von den Ungarn oder den Slowaken nicht ausgeliefert zu werden, waren also gleich Null. Aber wieder stand das Glück auf meiner Seite und setzte mich tapferen Menschen gegenüber, die nicht bereit waren, zu kollaborieren. Ich hab es nicht vergessen, und man sollte sich immer daran erinnern, dass es auch solche Menschen in dieser furchtbaren Zeit gab.“ „Diese Menschen haben so gehandelt, weil sie gar nicht anders konnten, weil es für sie einfach selbstverständlich war. Manchmal haben sie Freunde oder Nachbarn gerettet, manchmal auch Verfolgte, die sie überhaupt nicht kannten.“

 

Dank für die Mutigen, die Menschlichkeit erwiesen. Ihr Verhalten gibt uns für die Zukunft viel Hoffnung.