Ein Patchwork-Oedipus

Von Hans-Peter Kurr

Aus dem Deutsches Schauspielhaus Hamburg

Text: Hans-Peter Kurr

Jokaste und Oedipus

Der Beifall war stark, anhaltend, jubelnd, ohne Hemmung. Auch an ( zuweilen unverständlichen) Lachern fehlte es nicht, zum Beispiel, wenn Kreon sich ohne Not selber den Habitus eines Krüppels anerzogen hatte (, möglicherweise, um seinem Menschenbruder Oedipus zu gefallen?). Die Rede ist von der Schauspielhaus –Premiere des bedeutendsten Bühnenwerkes, das in der Theaterliteratur existiert, dem Sophokleischen „Oedipus“. Und auch das trifft nur begrenzt zu. Genaugenommen hat Regisseurin  Alice Buddeberg ( offenbar – wie man einem Programmheft-Beitrag entnehmen kann – unter tätiger Mithilfe ihrer Dramaturgin  Nicola Bramkamp) eine Art Patchwork-Oedipuns zusammengestrickt. Nicht ohne Reiz, das Ganze, aber das Verstehvermögen manchen Zuhörers, der nicht tief in der antiken  Mythologie beheimatet ist, gewiß überschätzend.

Buddeberg allerdings scheint es darauf angelegt zu habe, die Geschichte des Oedipus bis zum wirklichen Ende zu berichten…..und das funktioniert bei Sophokles nur, wenn man – wie es in antiker griechischer Zeit an drei  Tagen geschah –  die gesamte Trilogie (Rex, Kolonos und Antigone) auf die Bühne stemmt oder , wie an der Kirchenallee, einen Flickenteppich aus Sophokles, Aischylos, Euripides und schließlich noch unserem Nahezu-Zeitgenossen Henri Ghéon zusammennäht.

So beginnt hier alles mit dem zweiten Sophokles -Teil, der Ankunft des bereits Geblendeten vor Athen, der im nahegelegenen Hain von Kolonos seinen Frieden finden soll. Aber die satten, eingebildeten Bürger Athens wollen den armen Wanderer nicht aufnehmen .Einen Chor von beeindruckend wundersamer Optik hat das Team hier geschaffen (Das so schwierige chorische Sprechen allerdings könnte präziser sein, noch schlimmer wird es, wenn diese Crew später ihre Hasstiraden gegen alles Fremde, Ungewohnte, Kranke aus dem Off so – scheinbar ungeschult – auf die Bühne schreit, als hätte kein Mitglied dieser Gruppe jemals  Sprechtechnik gelernt!).

Da die Regisseurin gleich zu Beginn in den zweiten Teil springt, fängt alles mit einem schier endlosen Bekennermonolog des geblendeten exilierten Königs von Theben an.  Dann erst – wie eine Rückblende – dürfen wir in den Anfang der Geschichte schauen, in der Oedipus das pestverseuchte Theben zu retten versucht, indem er Rache für den gewaltsamen Tod seines Vorgängers ( realiter also seines Vaters ) schwört, des Sehers Teiresias’ Anschuldigung, er selber sei der Schuldige, anhören muß (Warum ist der blinde Seher hier ein offenbar nicht erblindetes, grauhaariges Kind ?) , Kreon in die Verbannung jagt, die zwei Hirten empfängt, die ihm die wahren Hintergründe seiner Tragödie entschleiern.

Jokaste , Mutter, Ehefrau, Gebärerin, Tragödin ist Irene Kugler. Sie gestaltet diese verteufelt schwere Rolle,die niemals einen Lichtstrahl von außen bekommt, immer beschäftigt ist mit ihrem eigenen Ernst, ahnungsvoll in der Erkenntnis der Katastrophe, stimmtief wie Medea eindringlich  scheiternd in dem Versuch, die Heilheit der Welt zu erhalten und schließlich nicht, wie bei Sophokles vorgesehen , sich am Türrahmen erhängend, sondern sich selber in einem Wassereimer ersäufend……..meilenweit entfernt von Komik, die herrliche Leitung einer grossen Darstellerin!!

Alles andere – trotz der im Schauspielhaus ja sattsam bekannten Hochqualität der Darsteller –ist Schemen-Theater, füllt Leere, füllt die Schablone der Handlung immer neu auf dem „Spielfeld“, das hier mehr Abgründe aufweist als Standflächen. Die Figuren (Auch die Söhne Eteokles und Polyneikes, die sich gegenseitig morden und Antigone erscheinen noch, dafür fehlen Ismene und  Theseus, der König Athens, der den Greis im Original zu seinem Grab geleitet, als Zeus jenen zu sich ruft ) stehen und spielen wie Standbilder,einmal sprechen sie Kunst, dann aber wieder menschlich mit den Zungen unserer Zeit. Allen voran Markus John in der Titelrolle, der hier vor nicht allzulanger Zeit als Lear glänzte, klagt jetzt fast zwei Stunden lang Elend, Pest, Grausamkeit, Götterwillkür, Verwüstung Hoffart, Krankheit, Leid und Tod.

  Wo in der würdevoll adäquaten Textfassung des so leidvoll erkrankten Walter Jens, die hier zum Glück weiten Strecken zugrunde liegt, Noblesse und Adel des Ausdrucks herrschen, wird hier dramaturgisch kühn mit dem Dialog umgegangen, der folgerichtig an den Rändern aufweicht..

Insgesamt ein zwar reichlich verwirrender, aber auch spannend-abenteuerlicher Abend.

Foto: Kerstin Schomburg