Draußen vor des Friedens Tür. Ein posthumes Interview

Von Hans-Peter Kurr

ein fiktives, weil posthumes Interview
( I. = Interviewer, L. = Wolfgang Liebeneiner, Regisseur der Uraufführung des Heimkehrer-Stückes „Draussen vor der Tür“ des Hamburgers Wolfgang Borchert 1947 an Ida Ehres Hamburger Kammerspielen, QU. = Hans Quest,
Darsteller des Kriegsheimkehrers Beckmann )

I. :
Beckmann kehrt mit Beinverletzung und Gasmaskenbrille aus dem Krieg heim. Von seiner Frau verlassen beschliesst er, seinem Leben ein Ende zu bereiten und stürzt sich in die Elbe. Doch der Fluß will ihn nicht und spült ihn wieder zurück an Land. Am Ufer bringt den gescheiterten Selbstmörder „Der Andere“ wieder zu Bewusstsein. Dieser Andere taucht immer dann in des Heimkehrers Leben auf, wenn jener sich verlassen und lebensunfähig fühlt. Der Andere ermutigt ihn stets, es noch einmal im Leben zu versuchen.
Wolfgang Liebeneiner, wir schreiben den 20. November 1947, morgen wird Ihre Inszenierung der Uraufführung dieses wichtigen Borchert-Stückes an Ida Ehres Kammerspielen im zerstörten Hamburg Premiere haben. Warum hier?

L. :
In keiner anderen Umgebung wäre „Draussen vor der Tür“ richtiger angesiedelt: Das Salz in diesem Werk ist die Verbitterung über die Situation des Menschen nach dem Untergang des „Dritten Reiches“. Borchert zeichnet insbesondere die Verbitterung derjenigen Menschen, die als Soldaten und Heimkehrer doppelt und dreifach litten, die ihr Gewissen nicht einmal mit dem Gedanken beruhigen konnten, im Krieg passiv gewesen zu sein.

I. :
Hans Quest, Du väterlicher Freund, kannst Du die Essenz Deiner Rolle für mich knapp zusammenfassen?

QU. :
Ja, selbstverständlich. Es handelt sich um die Bürde der Verantwortung, die das Inividuum im Krieg zu tragen gezwungen wird. In diesem Umfeld, bedrückt von seiner  p e r s ö n l i c h e n  Bürde,startet der Protagonist Beckmann einen verzweifelten Versuch, sich ihrer zu entledigen, indem er sie einem ehemaligen Vorgesetzten zurückzugeben versucht: „Die Verantwortung. Ich bringe Ihnen die Verantwortung zurück!“

I. :
Wolfgang Liebeneiner hält Dich für die Idealbesetzung dieser Rolle, die jede emotionale Regung aus dem nackten Stoff „stampfen“ mus, weil Borchert – dem Thema angemessen – so dokumentarisch schreibt.

QU. :
Das ehrt mich, aber mit dem Kollegen Hannes Messemer, der die Rolle demnächst in Tübingen unter den Augen des einzigen Inhabers eines Lehrstuhles für Rhetorik in Deutschland, Professor Walter Jens, spielen wird, möchte ich nicht konkurrieren.

I. :
Herr Liebeneiner,Sie sind Sohn eines Textilfabrikanten, haben Phiolosophie, Germanistik und Geschichte studiert, nahmen bereits um 1928 bei Otto Falckenberg , dem Direktor der Münchner Kammerspiele, Schauspiel-  und Regieunterricht und debutierten dort als junger Regisseur mit einer Einstudierung von Wedekinds „Frühlingserwachen“.Haben Sie bei der Vorbereitung auf Ihre Hamburger Borchert-Inszenierung das Stück „Draussen vor der Tür“ als autobiographisch empfunden?

L. :
Auf keinen Fall.Borcherts persönliche Situation nach dem Zusammenbruch Deutschlands war, trotz der Leiden wie Verwundung, Kriegsgerichtverfahren, Flucht, Krankheit und Not,
besser als die der Mehrheit seiner Schicksalsgenossen: Er war zwei Tage nach der Kapitulation ein freier Mann, konnte bei seinen Eltern wohnen und hatte sein, wenn auch geringes, Auskommen.Er versucht, mithilfe der Figur Beckmann , die Millionen junger Soldaten zu ehren, für die ,nach Jahren militärischen Gehorsams, Verwundungen, Angst und Leid jeglicher Art, jetzt, nach Beendigung des grossen Krieges, noch einmal eine Zeit von Flucht, Vertreibung, Heimatlosigkeit, Internierung oder Gefangenschaft begonnen hat.

I. :
Hans Quest, was ist – verglichen mit den grossen Rollen, die Du bisher gespielt hast – diesmal das Besondere?

QU. :
Es ist für den Charakter seiner schwarzen Nachkriegs-Fabel bezeichnend, dass Borchert sie aus eigenem Erleben, aber auch aus Zeitungsberichten nimmt,also aus der Realität unserer Alltagsereignisse. Er stellt sie nicht einfach dar, er verallgemeinert sie, indem er aus einem Einzelfall eine Kollektivschuld herleitet, in die er das Publikum einbezieht. Das umzusetzen ist eine grosse Aufgabe für einen Schauspieler. Und besonders schwer, kann ich Dir versichern, nicht ins ‚Moralinsaure“ abzurutschen!

L. :
Ja, selbstverständlich verurteilt Borchert den Krieg und seine Folgen. Aber er tut dies mit der ihm eigenen Bitterkeit. Dafür ein Beispiel:
Der Kabarettdirektor im Stück sagt zu Beckmann: „Ich habe schliesslich keinen nach Sibirien geschickt!“ Und Beckmann (ergo: alias Borchert!) antwortet:
„Nein, keiner hat uns nach Sibirien geschickt. Wir sind von alleine gegangen. Und einige sind ganz von alleine da geblieben!“
Das ist, wie für Borchert typisch, dokumentarisch und kabarettistisch zugleich. Und darin liegt die erschütternde Wirkung des Stückes……

I. :
Meine Herren, vielen Dank für dieses ( fiktive) Interview.

Postscriptum:
Der Chronist, der Euch beide zu Euren Lebzeiten noch kennenlernen durfte, bedauert, die Bemerkung anschliessen zu müssen, dass er , 64 Jahre später,die Inszenierung eines Stückes, das ebenfalls den Autorennamen Wolfgang Borchert
beansprucht, im Hamburger Thalia-Theater wird erdulden müssen, die mit Eurer professionellen Interpretation nichts mehr zu tun hat.
O, quam cito transit gloria mundi !