Die vertrackte 19. Stunde

erschienen in: GODOT. Das Hamburger Theatermagazin

Von Hans-Peter Kurr

„Stör ich?“ im Monsun Theater

In der Stunde, in der die ersten  Schatten das Ende des Tages ankün­digen, fragen wir uns unwill­kür­lich nach dem Sinn des Lebens oder wir spüren eine selt­same, unbe­stimmte, schmerz­liche Empfin­dung, wie den Hauch eines Todes­flü­gels, der uns streift. Neuro­pa­tho­logen spre­chen in diesem Zusam­men­hang von der „Neunzehnuhr-Angst“.

Meine Neunzehnuhr-Angst in nunmehr über 40 Thea­ter­jahren als Regis­seur, Drama­turg und Schau­spieler war Wider­wille, Abscheu, macht­lose Aufleh­nung, als verlöre ange­sichts des „fins­teren und dummen Abgrunds“, wie Montaigne diesen Zustand nennt, meine gesamte künst­le­ri­sche Arbeit ihren Wert ange­sichts der im öffent­li­chen Bewusst­sein –  und vor allem in demje­nigen der soge­nannten „öffent­li­chen Hände“ – konti­nu­ier­lich absin­kenden Achtung der gesell­schafts­po­li­tisch so wich­tigen kultu­rellen Inte­gra­tion eines gesunden demo­kra­ti­schen Systems. In allen diesen Jahren war aber die Trau­rig­keit nicht ohne Wonne, war Erge­bung und bereit­wil­lige gläu­bige Beja­hung unseres gemein­samen Künstlerschicksals.

Dieses eminent wich­tige Thema „Sterben der Kultur, speziell des Thea­ters, im gesell­schaft­li­chen Raum einer (noch) lebens­fä­higen Demo­kratie“, hat die junge, begabte Autorin und Regis­seurin Iris Matzen nun im Auftrag des Kölner Thea­ters Der Keller, eines seit Jahr­zehnten wich­tigen, risi­ko­freu­digen Privat­thea­ters in der Domstadt, zu Papier und auf die Bühne gebracht.

Die lokale Presse jubelte. Zu Recht, wie auch wir Hamburger jetzt sagen dürfen, denn: Die mutige Direk­torin des Monsun Thea­ters an der Frie­dens­allee, Ulrike von Kiese­ritzky, hat sich, obwohl ihr Haus zum Glück nicht von der Schlie­ßung bedroht ist, die hambur­gi­sche Erst­auf­füh­rung gesichert.

Der äußere Hand­lungs­ab­lauf ist schnell erzählt: Der Regis­seur Kai-Erik Cartier (Frank Maier) wird von einem Theater enga­giert, das kurz vor seiner Schlie­ßung steht. Er soll ein Stück zur Rettung des Thea­ters entwi­ckeln. Dabei muss er sich strikt an gewisse Förder­richt­li­nien halten, damit sich dieses Stück finan­zieren lässt. Es gibt nämlich Menschen, die stellen klar, was förder­würdig ist und was auf die Bühne gehört und was nicht: Wer einen Beitrag zur Inte­gra­tion von Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund leistet, ist klar im Vorteil. Wer möglichst inter­me­dial, inter­kul­tu­rell, inter­aktiv, inter­na­tional und dabei intel­lek­tuell und irre inno­vativ bleibt, bekommt den Zuschlag. Wer mit Laien arbeitet, kann ganz sicher mit Zuschüssen rechnen.

Insze­nieren oder inte­grieren? Der Regis­seur stellt sich also mit seiner Schau­spie­lerin (Cornelia Schön­wald) und seinem Pianisten (Sebas­tian Kemper) dieser schwie­rigen Frage und bemüht sich, den Zuschauern genau das zu zeigen, was sie nach Angabe der Förder­richt­li­nien auch sehen wollen. Der Unter­schied zwischen Kai-Erik Cartier und mir ist, dass wir ihm in „Stör ich?“ beim Proben dieses Himmel­fahrts­kom­mandos zuschauen und dass er eine fiktive Figur in einem fiktiven Ensemble ist. Ein Thea­ter­stück über ganz trau­rige und verarmte Thea­ter­leute – wen inter­es­siert denn das?

Aus intimer Insi­der­kenntnis haben die Regis­seurin, ihre Produk­ti­ons­dra­ma­turgin Miriam Sievers und das heraus­ra­gende Darstel­ler­trio das so wich­tige Gene­ral­thema mit viel Humor, Selbst­ironie, Idea­lismus und künst­le­ri­schem Sach­ver­stand auf die Bühne gebracht. Ja, sie sind sogar aus Köln an die Elbe gekommen für eine mini­male Gage, die kaum Reise und Unter­kunft zu decken vermag, weil sie – nach eigenen Angaben dem Bericht­er­statter gegen­über – „unbe­dingt dieses Stück auch hier spielen“ wollten: Front­sol­daten also im Kampf gegen den zuneh­menden Abbau kultu­reller Insti­tu­tionen wie Schlie­ßung von Thea­tern, Orches­tern und öffent­li­chen Bibliotheken.

Da wir aber spätes­tens seit Brecht wissen, dass Schau­spiel noch nie wirk­lich etwas Gesell­schafts­re­le­vantes verän­dert hat, die Thea­ter­leute von Gene­ra­tion zu Gene­ra­tion aber stets erneut ohne erho­benen Zeige­finger, sondern auf humor­volle Weise beleh­rend versu­chen müssen, wenigs­tens die endgül­tige Kata­strophe zu verhin­dern, sind die Abende, die jetzt im Monsun Theater statt­fanden, exem­pla­risch gelungen!