Singen und Sibirien

Von Johanna Renate Wöhlke

Die Geschichte ist kurz und enthält trotzdem ein Universum an Gedanken. Als ich sie hörte, kamen mir die Tränen. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann das zuletzt bei einem Interview als Begleiterscheinung geschehen ist.

Es war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges irgendwo an der Elbe in der sowjetischen Zone. Dem deutschen Soldaten winkte kein gutes Schicksal. Die russischen Soldaten hatten ihn zusammen mit anderen deutschen Soldaten gefangen genommen. In einem Holzschuppen saßen sie und warteten darauf, nach Sibirien abtransportiert zu werden. Das hatte man ihnen angekündigt.

Sibirien also –  weit entfernt von der Familie, das Schicksal ungewiss, die Lage aussichtslos, die Hoffnung auf dem Nullpunkt. Was hatte dieses Leben noch für einen Wert, was für einen Sinn und warum eigentlich sollte man es noch leben?

Die russischen Soldaten saßen immer nachmittags beim Wodka zusammen und sangen russische Weisen, betranken sich und sangen und sangen. Wer kennt russiche Volksmusik nicht, wer kennt sie nicht, die „Kalinka“ ?

An einem Nachmittag fasste sich der deutsche Soldat ein Herz. Er stand auf und begann laut zu singen. Seit seiner Jugend hatte er im Chor gesungen. Singen war sein Hobby und seine Freizeitfreude gewesen. Er sang, was er sicher erinnerte, liebte und auswendig konnte: deutsche Operettenlieder.

Die russischen Soldaten hörten zu und applaudierten. Von diesem Nachmittag an musste er ihnen immer vorsingen, deutsche Operettenlieder im Angesicht von Wodka und zukünftiger  Gefangenschaft in Sibirien.

Er sang sich damit ins Leben zurück. Als das Lager aufgelöst wurde, entließen die Russen ihn nach Hause zu seiner Frau und den Kindern.