Polen verstehen

Von Joachim Frank

Unterwegs in Polen
Unterwegs in Polen

„Wohin fahrt ihr?“, fragte ein Freund ungläubig, denn tatsächlich ist Polen für viele heute immer noch ein beinahe exotisches Reiseziel. Hätte ich auf seine Frage Hawaii, Bali oder Botswana geantwortet, wäre er bestimmt weniger erstaunt gewesen. Dafür hätte seine Miene neidvolle Sehnsucht ausgedrückt und nicht mitleidige Ratlosigkeit wie jetzt. Als ich unseren Zielort Kowary nannte, fragt er: „Kommen deine Großeltern daher?“ Ich verneinte, und spätestens jetzt war eine Erklärung nötig, schließlich wären auch meine Frau und ich normalerweise nie auf die Idee gekommen, in diese polnische Kleinstadt zu reisen.

Aber unsere gute Freundin Ewa stammt aus diesem Ort, lebt allerdings schon seit Jahren mit ihrem Ehemann Göran in Schweden, wo wir unser zweites Zuhause haben. Längst sind die beiden von guten Nachbarn zu sehr guten Freunden geworden. Eines Abends saßen wir vier zusammen mit Ewas Schwester Jadwiga und deren Ehemann Roman, die ebenfalls in Kowary aufgewachsen waren und jetzt in Schweden leben. Nach einem guten Essen und einem nächsten Wodka hatte Ewa eine Idee: „Das wäre doch wunderbar, wenn wir mal zusammen nach Kowary fahren würden. Dann zeigen wir euch die schönen Landschaften und eine Menge Sehenswürdigkeiten.“

Es sollte Jahre dauern, bis dieser Plan verwirklicht wurde, weil es schwierig war, die Urlaubspläne aller zu koordinieren. Und wie sollte das gehen, mit sechs Leuten in der kleinen Wohnung, die Jadwiga und Roman mittlerweile gehörte? Letztlich fragten wir uns aber auch, was wir dort eigentlich sollten, in Niederschlesien, in Kowary?

Ich bin in den 1950er und 1960er Jahren aufgewachsen. Es war die Zeit des Kalten Krieges, und Polen lag weit weg – nicht geographisch, aber politisch und psychologisch: ein unbekanntes Land hinter dem Eisernen Vorhang. Mit dem Begriff „Schlesien“ verband ich vor allem deutschtümelnde Heimatverbände, die Ansprüche auf die früheren Gebiete erhoben. Die mochten ja eine gewisse Berechtigung haben, so meinte ich, jedoch müsse man irgendwann die Folgen des II. Weltkrieges akzeptieren, um zu einer friedlichen Koexistenz zu gelangen. Aber ehrlicherweise muss ich zugeben, mich mit den diese Gebiete betreffenden geschichtlichen Zusammenhängen nie detailliert beschäftigt zu haben. In der Zeit, als ich aufwuchs, war Deutschland ein geteiltes Land, Polen weit weg und die deutsche Geschichte der jüngeren Vergangenheit vor allem eine Geschichte der Schuld, die aus den Folgen des so genannten III. Reiches resultierte. Da blieb für Ansprüche, wie sie die so genannten Vertriebenenverbände erhoben, kein Platz in meinem Verständnis.

Kowary, das im Südosten des Hirschberger Tals am Fuße des Riesengebirges liegt, hieß bis 1945 Schmiedeberg. Die bis dahin weitgehend deutsche Bevölkerung flüchtete vor oder während der Eroberung der Stadt durch Truppen der Sowjetunion nach Westen oder wurde durch polnische Behörden zum Verlassen des Ortes gezwungen. Menschen aus dem Osten Polens und aus dem Gebiet der heutigen Ukraine wurden in dem Städtchen, das nun Kowary hieß, neu angesiedelt.
Die Entwicklung der Stadt war immer mit Bergbau, dem Schmiedehandwerk, dem Weberhandwerk und später mit der Textilindustrie verbunden. Im 20. Jahrhundert baute man zunächst Eisenerz, später Uran ab, bis die Zeche wegen Unrentabilität Anfang der 1970er Jahren geschlossen wurde. In der sozialistischen Zeit gab es unter anderem eine große Teppichfabrik mit mehreren tausend Arbeitsplätzen.
Und heute? Sind die großen Fabriken längst geschlossen und dem Verfall anheimgegeben. Wenige kleine Firmen haben sich neu angesiedelt, aber es fehlt an Arbeitsplätzen. Die Folge davon: Arbeitssuchende ziehen weg, es bleiben die Alten, Häuser stehen leer oder verfallen. Dabei hat Schmiedeberg einiges zu bieten. Der Ort wirbt mit seiner wunderschönen Umgebung um Touristen, die am Fuße der Schneekoppe hervorragend wandern, Rad fahren und im Winter Ski laufen können. Der bekannte und boomende Ort Karpacz ist nur sieben Kilometer entfernt. Dort gibt es Hotels aller Kategorien, ein Skiliftesystem und alle nur möglichen touristischen Einrichtungen. Doch Kowary liegt weiterhin unentdeckt in einem Dornröschenschlaf. Wer küsst es wach, oder richtiger gefragt: Wer investiert in eine bessere Zukunft?
Als wir am Ende unserer Reise eines der ersten Hotels des Ortes besuchten, um dort unser Abschiedsessen zu genießen, waren wir die einzigen Gäste in dem alten Herrenhaus, das mit viel Liebe und sicher auch viel Geld in ein stimmungsvolles Ambiente umgewandelt worden war. Während wir auf das Essen warteten, besichtigte ich das Haus und schaute in die ganz individuell eingerichteten Zimmer. Keines war belegt – jetzt, im Juli! Da wird es den Betreibern auch nichts nützen, dass das Essen ausgezeichnet und die Bedienung sehr freundlich war – ohne Gäste sind das schönste Hotel und das beste Restaurant nicht überlebensfähig.

Unsere Freunde zeigten uns im Laufe der Woche die erstaunlichen Sehenswürdigkeiten der Umgebung, wir wanderten durch wunderschöne Mittelgebirgslandschaften am Fuße des Riesengebirges, genossen in Jelenia Góra, dem früheren Hirschberg, die sommerlich-gediegene Atmosphäre inmitten einer Barock- und Renaissance-Kulisse, aber vor allem lernten wir Polen von innen kennen. Das heißt, wir lebten mit unseren Freunden unter einem Dach, trafen die Nachbarn, führten viele Gespräche. Unvergesslich wird unser fröhliches Zusammensein bleiben, das Sprachgemisch aus Schwedisch, Deutsch, Englisch und Polnisch, das viele Miteinander-Lachen.

Die polnische Gastfreundschaft ist sprichwörtlich. Aber ich will gar nicht reden von der wie selbstverständlichen Bewirtung, davon, dass wir das beste Zimmer zugewiesen bekamen, von Einladungen zu üppigen Essen, von Besuchen bei Freunden unserer Gastgeber und all den großen und kleinen Liebenswürdigkeiten, die unseren Besuch in Kowary zu etwas ganz Besonderem werden ließen. Da kam eine Nachbarin mit einer riesigen Torte zum Kaffee. Sie hatte alles Material, das es zu Kowary auf Deutsch gibt, in einer Mappe für uns gesammelt. Wir wurden zu allen Sehenswürdigkeiten chauffiert, ich bekam Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem Juniorchef einer der größeren Firmen des Ortes, um etwas aus seiner Sicht über die momentane politische und wirtschaftliche Situation zu erfahren. Im Rathaus des Ortes öffneten sich alle Türen für uns. Aber herauszuheben sind da noch die festlichen Abendessen.
Ich kann nur jedem raten, wenn er das Glück hat, in Polen dazu eingeladen zu werden, anfangs nur wenig zu essen. Auch wenn es noch so gut schmeckt, sollte man sich bloß nicht an Suppe und ersten Fleischportionen satt essen! Denn es werden immer neue Platten mit Fleisch und Fisch, Schüsseln mit Gemüse und Kartoffeln, Schälchen mit eingelegten Pilzen, Gurken und so weiter gereicht. Später folgen Nachspeisen und Käse, manchmal scheint das ganze Programm regelrecht nochmals von vorn zu beginnen. Und wenn man auch ganz tapfer so viel wie irgend möglich gegessen hat, macht die Hausfrau immerzu ein betrübtes Gesicht und fragt: „Schmeckt es dir nicht? Du isst ja gar nichts! Hast du etwas mit dem Magen?“ Den Einwand, man sei schlicht und ergreifend satt, lässt sie nicht gelten und schiebt dir eine weitere Fleischplatte hinüber. Nein, in Polen hält man nichts von der Nouvelle Cuisine, also von kleinen Portionen auf großen Tellern, hier hat gutes Essen nicht nur mit Qualität, sondern auch mit Überfluss zu tun. „Bei uns ist es nicht wie bei euch“, erklärte mir ein Pole augenzwinkernd, der lange in Deutschland gelebt hatte,
„wo man schon bei der Einladung gefragt wird: ‚Isst du ein Würstchen oder zwei?‘“

Längst hatte ich alle meine anfänglichen Zweifel vergessen, ob wir als Deutsche hier überhaupt willkommen sein würden, so freundlich begegnete man uns überall. Über die schwierige wirtschaftliche Lage wurde offen gesprochen, aber eigentlich geklagt wurde nicht. „Wie ist das Verhältnis zu Deutschland?“, wollte ich wissen. Die Vergangenheit sei nicht vergessen, aber jetzt sei eine andere Zeit, in der die Deutschen zu guten Nachbarn und Freunden geworden seien, so der Tenor vieler Gespräche. „Und das zu Russland?“, wollte ich wissen. Aber darauf erhielt ich immer ausweichende Antworten. Das Verhältnis sei geprägt von der sowjetischen Zeit, und heute sei Russland zwar kein unmittelbarer Nachbar mehr, aber doch sehr nah. Man müsse miteinander auskommen, wobei die Vergangenheit auch eine große Rolle spiele. Polen sei eben nicht nur von Deutschland, sondern auch von seinem östlichen Nachbarn oftmals schlecht behandelt worden. Die Zukunft sehe man allerdings im Westen, in Europa.

Wir waren wieder einmal zu einem Essen bei Freunden unserer Gastgeber eingeladen. Die Frauen hatten ein bisschen zu lange gebraucht, um sich schön zu machen, sodass wir uns verspäten würden. Ich fragte Ewa, wie es die Polen mit der Pünktlichkeit hielten, ob es wie in Deutschland eine grobe Unhöflichkeit sei, wenn man nicht auf die Minute zu einer Einladung erscheine. Ewa lachte, nein, das sei hier kein Problem, und dann gab sie eine ganz kurze Erklärung, die in einem viel weiteren Zusammenhang vielleicht das Geheimnis benannte, wie das kleine Polen in der Zange seiner großen Nachbarn überleben konnte. Sie sagte: „Polish people are forgiving people.“