Lulu goes Lacan – der Spiegel als Spiegel des Spiegels

Kommentar zu   „Der Griff ins Höschen. Lulu – Calixto Bieito entmythisiert die femme fatale.“
von Astrid Biesemeier
zur Inszenierung von „Lulu“ von Frank Wedekind, Regie: Calixto Bieito, am Nationaltheater Mannheim, Okt. 2009,   in: www.nachtkritik.de vom 13.10.2009.

Von Götz Egloff
Wo Es war, soll Ich werden“, sagt Sigmund Freud. „Wo Ich war, soll Es werden“, sagt Jacques Lacan. Was ist dieses Es, dieses dunkle Unbekannte? Es ist das Unheimliche, Verborgene, doch Gutgehütete im Menschen, das lebenslang in ihm wirkt und – Astrid Biesemeier deutet es an – überlebensnotwendig ist. Der Trieb, der Wunsch, die Phantasie – alles anthropologische Grundkonstanten, die in der einen oder anderen Form das tägliche Tun steuern, prägen, beeinflussen.
Wenn Lulu in der dramatischen Zuspitzung der Mannheimer Inszenierung „Wer von euch will mich f****n?“ schreit, geht es nicht um die Pole Sinnlichkeit vs. Überleben. Vielmehr geht das Sinnlichkeits- im Überlebensprinzip auf. Sinnlichkeit bedeutet Überleben. Überleben bedeutet Sinnlichkeit.

Das mütterliche „Gesetz des Imaginären“ – der Lebensbereich in der vorsprachlichen Zweieinheit mit der frühen Mutter – ist dem Menschen mit Beginn des Spracherwerbs auf immer verloren gegangen; stattdessen ist die symbolische Ordnung in Kraft getreten – das „Gesetz des Vaters“, das Gesetz der Sprachlichkeit. Mit sexuellem Missbrauch hat das per se nichts zu tun. Eher schon gewinnt – im Verlauf der frühkindlichen Entwicklung – die ödipale Anziehung des anderen Geschlechts an Bedeutung, und dies im Rahmen der Entdeckung des eigenen. Zunächst jedoch erblickt das Kind sein Spiegelbild und realisiert mit der Zeit seine Menschwerdung in Beziehung zum Anderen. Der Mensch erkundet sich und die Umwelt – und stellt fest, dass sein Ich auf der Suche nach etwas bleibt, das mit dem Verlust des Imaginären abhanden gekommen ist.
Lulu muss durchleben, dass ihre Menschwerdung entlang dieser Dezentrierung des Ichs stattfindet. Erst in der Hinwendung zum Anderen, dem Begehren nach dem Verlorengegangenen, entsteht das Ich. „Ich ist ein Anderer“, sagt Lacan kryptisch. Lulu sucht diesen Anderen, und zwar auf sinnlicher Ebene, nicht intellektuell oder diskursiv. Ihr Griff ins Höschen symbolisiert diese sinnliche Hinwendung zum Anderen, aus der heraus sie sich selbst zu konstituieren sucht. Lulus Geschlechtlichkeit, eine biologische Tatsache, ist Symbol ihres Begehrens, dem Begehren, das aus dem Verlust des Imaginären entsteht. Begehren bedeutet Überleben. Überleben bedeutet Begehren. Dass Lulu am Ende stirbt, ist nicht überraschend. Jeder Mensch stirbt irgendwann. Dies hat auch Michael Thalheimer in seiner Hamburger Inszenierung am Thalia Theater in 2004 dem Zuschauer bedeutet.

In der Tat, man hat es hier mit der Entmythisierung der Figur Lulu zu tun. Diese stellt eine Verspiegelbildlichung der conditio humana dar – so ähnlich wie das Malen von „Schnee auf Eis“ (Schöning zu Schwarz) die Unmöglichkeit des Einholens des Imaginären abbilden mag. Da darf dem Zuschauer schon einmal unwohl werden. Insbesondere, wenn zwischen den Akten und vom Szenenspiel abgesetzt kleine Mädchen in knappen Kostümen reizvoll und kontrastierend, wie Astrid Biesemeier feststellt, vom Verlust der Jungfräulichkeit singen.
Nimmt man dieses Singspiel als Abbild und Vorwegnahme von Lulus eigener Entwicklung, so ist zu Recht Unbehagen spürbar. Als Spiegelbild der conditio humana, also der Determinierung des Menschen als Lust- und Leidenswesen, umso mehr. Are you ready to jump, get ready to jump, lassen die singenden Mädchen verlauten, und es wird klar, dass an dieser Spiegelung des Lebens niemand vorbeikommt. Jeder muss ins Leben springen, jeder ist Lulu. Der Zuschauer muss in diesen Spiegel des Anderen schauen, um zum Ich zu gelangen. Alles andere ist Semantik.