Keine Rezension – oder doch? Zur Premiere von „Korczak und die Kinder“ in Hamburg

 Von Johanna R. Wöhlke


Lieber Hans-Peter!

Es sei mir gestattet, in diesem Fall einmal das ganz Andere zu versuchen, um der Premiere eines Theaterstückes gerecht zu werden, schließlich spielte ein Freund die Titelrolle. Umstände und Inhalte, liebe Leser und Leserinnen, mögen Sie diesem Artikel auf der DAP- Seite entnehmen:

https://die-auswaertige-presse.de/2011/08/januz-korczak-ist-auferstanden-2/

 

Den jüdischen Arzt, lieber Hans-Peter, den hast Du an diesem Abend nicht gespielt. Du warst Dr. Januz Korczak, der jüdische Arzt Januz Korczak, der gemeinsam mit zweihundert Kindern aus einem Waisenhaus in Warschau im KZ Treblinka in den Tod ging. Es könnte sogar sein, dass ich ihn nie mehr von Dir werde trennen können, wenn wir uns begegnen – und das ist ja nicht so sehr selten der Fall.

Als junge Frau mit Interesse an Geschichte und Politik, die dann schließlich Politische Wissenschaften studierte, weil sie dachte, dadurch könne sie erfahren „was die Welt im Innersten zusammenhält“, habe ich mich eingehend mit dem Dritten Reich beschäftigt. Das war nicht nur in meiner Schule und im Studium möglich, das war mir auch ein persönliches Anliegen. Aber lesen alleine, das genügte nicht. Der Besuch einiger Konzentrationslager und Gespräche mit ehemaligen Inhaftierten bis heute im engeren Umkreis brachten Klarheit, echte Klarheit. Diesen Teil der deutschen Geschichte in seiner Grausamkeit zu erfassen, ist aber auch dadurch nicht möglich. Es ist wahrscheinlich nie möglich.

Schon damals, ich bin 1950 geboren, waren wir natürlich keine Zeitzeugen mehr und auf das Erzählen angewiesen, das Erzählen und das schauende Erleben im entsetzten Nachvollziehen zum Beispiel auch bei einem Besuch in Auschwitz. Seit ich dort war, habe ich nie mehr ein KZ betreten. Ich erinnere, dass mir schlecht wurde und ich die Bilder und Beklemmungen lange Jahre nicht los wurde: ein Haufen von Brillen, Gebisse, Goldzähne… Die ewigen Fragen blieben. Antworten kamen viele und führten doch nicht zu dem Ergebnis, eine sichere Hoffnung darauf aufbauen zu können, dass so etwas nie wieder würde geschehen können.

 

Die Gespräche innerhalb der Familie und mit Freunden fanden immer dort ein Ende, wo jemand leicht und auf die leichte Schulter nehmend Worte sagte wie: „Kann alles nicht so schlimm gewesen sein. Wir haben davon nie etwas erfahren!“ oder „ Hitlers gab und gibt es viele auf der Welt.“ Es fanden nicht nur Gespräche ein Ende. In diesem Fall fanden auch Beziehungen ein Ende. Es gibt Grenzen im Denken, die zu überschreiten es nicht mehr möglich macht, mit dem Gegenüber freundschaftlich zu kommunizieren. Wenn es nicht möglich war, Beziehungen zu beenden, weil sie im engsten Familienkreis angesiedelt waren, dann blieb nur die innere Emigration, eine beklemmende Lebenserfahrung.

Als ich, lieber Hans-Peter, in Eurer Aufführung saß, die von allen Beteiligten so wunderbar auf der Bühne, die ja auch ein Altarraum war, ins Leben und Wahrnehmen getragen worden ist, da wurden diese alten Bilder wieder lebendig. Weinen? Ja, ich habe geweint. Keine Möglichkeit, das zu verhindern, auch wenn am Ende das Lächeln und der Applaus zurück in die „normale“ Welt geführt haben. Ihr habt mit wenigen, mit spartanischen Mitteln in der Ausstattung, aber dafür mit umso stärkeren Mitteln im Spiel und in der dadurch hergestellten Dichte die Emotionen geweckt, ohne die keiner angesichts einer solch grausamen Lebensgeschichte bleiben kann.

Was will ich mit diesen persönlichen Worten sagen? Es ist das Weinen, das uns beim Verstehen von Geschichte oftmals fehlt. Es ist das Empfinden können, das echte Wahrnehmen von Schmerz und Leid der anderen. Wir sind immer nur Nachvollziehende mit dem Kopf und wenn wir Mitgefühl haben, dann bleibt auch das an der Schale haften und kann nicht wirklich in den Kern vordringen. Im Grunde können wir nichts wirklich verstehen, weil dieses Grauen der NS Zeit so unvorstellbar groß ist, dass es jede menschliche Vorstellungskraft sprengt.

Deshalb ist es so wichtig, dass Ihr Schauspieler auf der Bühne agiert und uns als Menschen begegnet, die im Ansatz so etwas wie Empathie wachrufen können. Deshalb ist es wichtig, dass Ihr an die Schulen geht, und den Jugendlichen von heute eine Ahnung dessen vermittelt, dass dieser Teil der deutschen Geschichte nicht vergessen werden darf. Kein Mensch von heute trägt irgendeine Schuld. Aber alle miteinander stehen wir in der Geschichte unseres Landes und Volkes und sind ein Teil davon für immer.

In diesem Fall also zolle ich Euch Schauspielern auf der Bühne den Respekt, sich in einem langen Prozess des Textlernens und Probens immer wieder und wieder emotional auf diese Geschichte und diese Gedanken einzulassen. Danke dafür! Ich könnte es nicht. Ich wünsche den Zuhörern und Zuschauern Eurer wunderbaren Produktion Tränen.

Deine Johanna