»Gerecht, aber unnötig«

erschienen in der PAZ von Dr. Manuel Ruoff
Vor 160 Jahren fiel in Sewastopol die militärische Vorentscheidung des Krimkrieges

Als einen „gerechten, aber unnötigen Krieg“ bezeichnete der britische Politiker Benjamin Disraeli den Krimkrieg, von dem sein Kollege, Landsmann und Zeitgenosse George Villiers meinte, man habe sich in ihn „hineintreiben lassen“. Wie heute stand auch damals die Krim im Fokus eines Konfliktes der Westmächte mit Russland und es lohnt einen Vergleich.

Anders als heute war damals die Krim nicht Streitobjekt, sondern Kriegsschauplatz. Dass die Westmächte die Entscheidung fernab Mitteleuropas suchten, lag an einem weiteren Unterschied zu heute. Damals war in Deutschland die Außenpolitik noch nicht von den Interessen des Westens bestimmt. Deutschland beziehungsweise die deutschen Staaten taten deshalb das, was unabhängige Länder gemeinhin tun, wenn ihre Interessen nicht berührt sind: Sie verhielten sich neutral. Die lange russische Westgrenze zu Preußen und Österreich stand damit für einen Angriff des Westens auf Russland nicht zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund entschlossen sich die beiden Seemächte Großbritannien und Frankreich, Russland von See her an dessen Küste anzugreifen. Sie wählten dafür die Krim.
Der nach der russischen Halbinsel im Schwarzen Meer benannte Krieg gilt als einer der letzten Kabinettskriege. Andererseits war er sehr fortschrittlich. Schon damals spielte Gräuelpropaganda auf angelsächsischer Seite eine wichtige Rolle. Am 30. November 1853 wurde im Hafen von Sinope die osmanische Schwarzmeerflotte von russischen Schiffen innerhalb von zwei Stunden in Brand geschossen und versenkt, nachdem knapp zwei Monate zuvor, am 4. Oktober 1853, das Osmanische dem Zarenreich den Krieg erklärt hatte. Die britischen Leitmedien, allen voran die „Times“, machten daraus das „Massaker von Sinope“. Daraufhin erklärten Großbritannien und Frankreich am 27. beziehungsweise 28. März 1854 Russland den Krieg.
Vorher, Ende Dezember 1853, hatten die beiden westeuropäischen Großmächte bereits eine gemeinsame Flotte ins Schwarze Meer entsandt. Ähnlich wie heute den Vereinigten Staaten bereitete damals dem Vereinigten Königreich allein schon das russische Machtpotenzial Sorgen. Großbritannien fürchtete den Durchstoß der russischen Seemacht durch die Seeengen in das Mittelmeer. In dieser Situation bestiegen die Briten und ihre französischen Verbündeten die Höhle des Löwen. Ihre gemeinsame Flotte belagerte mit Landungstruppen den Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol auf der Krim. Dabei kam es zu einem Stellungskrieg mit starkem Munitionsverbrauch, von dem Kriegsberichterstatter zeitnah berichteten, auch dieses bereits ein Vorgeschmack auf den Ersten Weltkrieg.
Nach der Erstürmung des Forts Malakow sahen sich die russischen Verteidiger am 8. September 1855 gezwungen, Sewastopol zu räumen. Mit dieser kriegsentscheidenden Niederlage verlor Russland den Status der ersten Macht auf dem europäischen Kontinent, den es in den Befreiungskriegen vom Ersten Kaiserreich Napoleons I. übernommen hatte, an das Zweite Kaiserreich Napoleons III. In dessen Hauptstadt wurden nun Friedensverhandlungen geführt, die in den Frieden von Paris vom 30. März 1856 mündeten. Ein wesentliches Kriegsziel hatten die Briten dabei erreicht. Das Schwarze Meer wurde neutralisiert und demilitarisiert.
Für Berlin, das im Krimkrieg eine konsequentere und weniger zweifelhafte Neutralität gewahrt hatte als Wien, erwies sich dessen Verlauf als vorteilhaft. Der russische Kriegsverlierer konzentrierte in der Folgezeit seine Kräfte und sein Engagement darauf, die Kriegsergebnisse gegen den Widerstand der Kriegssieger zu revidieren, und hatte gar kein Interesse daran, durch Widerstand gegen Berlins Lösung der deutschen Frage mit einer weiteren Großmacht in Konflikt zu geraten. Zudem spielte auch Dankbarkeit für Preußens Neutralität im Krimkrieg eine Rolle, dass Sankt Petersburg Berlin bei der deutschen Einigung im Osten den Rücken freihielt.
1989 war es umgekehrt. Diesmal ging Russland in Vorleistung. Ohne entsprechende Gegenleistung verzichtete Michail Gorbatschow auf die Unterstützung des Regimes in Ostberlin und leistete keinen Widerstand gegen die Vereinigung West- mit Mitteldeutschlands. Entsprechend groß ist die Enttäuschung in Russland, dass Deutschland nun das Regime in Kiew unterstützt und die Vereinigung Russlands mit der Krim bekämpft.
Wie Russland auf vermeintliche Undankbarkeit reagiert, erfuhr Österreich während der deutschen Einigung unter preußischem Vorzeichen. Das Zarenreich hatte dem Habsburgerreich während der 48er Revolution geholfen, gegen den Widerstand ungarischer Separatisten Ruhe und Ordnung wieder herzustellen. Umso enttäuschter war es im Krimkrieg über Österreichs – im Gegensatz zur preußischen – dem Westen wohlwollende Neutralitätspolitik. Die Rechnung für diese vermeintliche Undankbarkeit präsentierte Russland der Donaumonarchie mit einer Preußen wohlwollenden Neutralitätspolitik bei dessen kleindeutscher Lösung der deutschen Frage gegen und ohne Österreich.
Mal sehen, bei welcher Verlegenheit Russland der Bundesrepublik die Rechnung für deren aktuelle vermeintliche oder reale Undankbarkeit präsentiert.