Gedanken zum Herbst

erschienen im Gemeindeblatt der Michaelis-Gemeinde Hamburg Neugraben, Herbstausgabe 2010

Von Johanna R. Wöhlke

Bäume rufen im Frühjahr, im Sommer und im Herbst Begeisterungsstürme hervor. Dichter besingen das junge, zarte Grün, Hymnen und Lobgesänge werden über den Frühling und sein vom Winter erlösendes Grün geschrieben, Maler und Künstler machen sich Bäume zum Thema: Endlich, der Winter ist vorüber. Das Grün der Bäume kündet es an, leitet über in den Sommer und dann in den bunten Herbst, in den wunderschönen bunten Herbst!

Dann fallen die Blätter. Sie liegen herum, erzeugen Unlust und Ärger. Ja, der „rundum pflegeleichte“ Baum für menschliche Bedürfnisse ist von der Natur nicht vorgesehen. Genauso wenig, wie der rundum pflegeleichte Mensch nicht vorgesehen ist. Es gibt ihn nicht. Es bleibt auch ihm nicht erspart, ein Leben zwischen Frühling und Herbst zu führen.

Was schreibe ich da? Es bleibt ihm nicht erspart, ein Leben zwischen Frühling und Herbst zu führen? Das müsste anders lauten, viel anders, nämlich so: Es ist ihm geschenkt, ein Leben zwischen Frühling und Herbst zu führen. Diese Aussage träfe unser Leben besser. Wir erleben und durchleben die Jahreszeiten und die Jahreszeiten des Lebens und sollten den Vergleich nicht scheuen, auch dann nicht, wenn sich an uns die Farben des Herbstes zeigen.

Sind sie nicht wunderschön? Zeigen sie nicht das ganze Lebensspektrum gelebter Zeit? Sie machen uns nichts vor, sind ehrlich, offen und sogar bezaubernd. Halten wir uns nicht mit Trauer darüber auf, dass alles vergänglich ist. Bewahren wir uns die Gewissheit, dass jeder von uns in seinem gleich vergänglichen Leben sein Reservoir an Farben sammelt, seine eigenen Farben entwickelt und in sein Leben und das anderer Menschen einzuweben vermag.

Ein buntes Blatt zu sein im Teppich des Lebens, das ist uns bestimmt. Das können wir nicht ändern. Nehmen wir es an. Entwickeln und verschenken wir unsere Lebensfarben im Herbst mit Freude.

Foto: WolfTek