Rezension zu Zana Ramadani: Die verschleierte Gefahr. Die Macht der muslimischen Mütter und der Toleranzwahn der Deutschen. Europa-Verlag, Berlin, 2017
Politische Korrektheit ist zu einem Menetekel geworden. Einst als sprachbewusste Kategorie gestartet, hat sich der Begriff von Gegenständen und Sachverhalten abgelöst und rückverwandelt nun die Realität in bloße Sprachspiele. Wenn alles eingeebnet ist und gut Begründetes gleichrangig neben schlecht oder gar nicht Begründetem steht, ist alles gleichwertig. Kultur heißt aber auch, Unterscheidungen treffen zu können. Politische Korrektheit ist eben nicht wissenschaftliche, auch nicht epistemologische Korrektheit, sondern ein politischer Imperativ, den man teilen kann oder eben nicht. In der jetzigen Handhabung ist er brandgefährlich, nicht nur weil er gesellschaftliche Machtstrukturen verschleiert mitsamt Denunziation und Exkommunikation ihrer Gegner, sondern weil Bedeutungsfelder ausgeblendet werden, die latent bleiben, aber erspürt werden.
Zum Glück hat die ehemalige Femen-Aktivistin Zana Ramadani das begriffen und letztes Jahr ein Buch vorgelegt, das ihr – wie könnte es anders sein – einiges an Scherereien gebracht hat. Doch mutig genug, heiße deutsche Eisen anzufassen, konnte sie schon bei Femen ihr Engagement unter Beweis stellen, als sie im Jahr 2013 mit ihren Kolleginnen Heidi Klums Verkennungs-Wettbewerb, genannt ´GNTM´, bloßstellte. Im Nachgang zu der Aktion kam bei Femen-Aktivistin Hellen Langhorst ein seltsamer Rechtfertigungsdruck auf, den jene jedoch angemessen agierte: Femen kämpfe gegen Sexindustrie, Religion und Diktatur. ´Diktatur, wo?´ mochten manche fragen, ´in Nord-Korea?´ Oder vielleicht in unseren Köpfen? Nichts weniger als die allumfassende Diktatur des marktradikalen Neoliberalismus war kurzerhand Thema. So machten Femen einen gesellschaftlichen blinden Fleck mittels situativer Objektivierung sichtbar, und deren Bild-(Ver)störung bewirkte allerhand Unruhe, die im kurzatmigen medialen Raum gleichermaßen Wellen schlagen wie verhallen musste.
Hey folks, listen to the wise words of Dr. William Masters
Ladies and Gentlemen, welcome to a hilarious Off-Broadway show, featuring four highly gifted actors! The best thing: in order to enjoy this outstanding comedy, you do not even have to fly to New York. Just buy ticket and make yourselves comfortable in one of the seats at the English Theatre of Hamburg. After the much talked about classic “The Picture of Dorian Gray” now a musical! Why not? The “regulars” – meaning those who have been loyal to the Mundsburg stage for many, many years – like diversity in the theatre’s choice: start with a drama, go on with a musical or a comedy and end up with a thriller.
By doing so, you attract people who like to go to plays.
Leute, hört auf die Ratschläge von Dr. William Masters
Um Kontrastprogramme war das Theater an der Mundsburg noch nie verlegen. Und das ist auch gut so. Auf Oscar Wildes Klassiker „Das Bildnis des Dorian Gray“ folgt nun nahtlos eine ausgeflippte Off-Broadway-Comedy, die es in jeder Hinsicht in sich hat. Nur vier singende und tanzende Schauspieler, zwei Frauen und zwei Männer, bestreiten dieses temporeiche Musical und übernehmen nacheinander eine Anzahl unterschiedlichster Rollen und Charaktere.
Der weltgrößte Nahrungsmittelkonzern ist ein Schweizer Unternehmen mit deutschem Namensgeber und US-amerikanischen Gründern
Nestlés vor gut zwei Jahrhunderten am 10. August 1814 geborener Namensgeber, Heinrich Nestle, war gelernter Apotheker. Der liberale Geist wich 1839 vor staatlicher Repression in die französischsprachige Schweiz aus. Er ließ sich in Vevey, dem heutigen Hauptsitz von Nestlé, nieder und änderte seinen Namen in Henri Nestlé. Mit der finanziellen Hilfe seiner in der Heimat gebliebenen Verwandtschaft machte er sich mit einer Mühle mit Brennerei selbstständig. Mit Hilfe seiner chemisch-pharmazeutischen Kenntnisse stellte er unter anderem Flüssiggas aus Pflanzenöl her und verkaufte es von 1858 bis 1862 an Vevey für dessen Straßenbeleuchtung. Dann stellte jedoch die Stadt von Nestlés Flüssiggas auf selbst erzeugtes Steinkohlengas um. Nestlé brauchte ein neues Massenprodukt.
Bismarck stellte mit der Indemnitätsvorlage die nationalliberale Bewegung vor die Gretchenfrage Wilhelm I. hatte 1862 Otto von Bismarck zu seinem Regierungschef ernannt, weil dieser bereit war, notfalls auch gegen die Abgeordnetenhausmehrheit die von seinem König gewünschte Heeresreform durchzusetzen. Und in der Tat hatte Bismarck die Reform durchgesetzt, ohne dass die dafür nötigen Finanzmittel vom dafür zuständigen Parlament mit seiner liberalen Mehrheit genehmigt worden wären. Entsprechend unbeliebt war Bismarck bei seinen liberalen Landsleuten.
Einigungskriege Die beiden ersten Einigungskriege führten jedoch zu einem Stimmungswandel. Das lag in diesem Falle nicht nur daran, dass Regierungen durch die Bank von gewonnenen Kriegen profitieren. Vielmehr stellten sich viele die Frage, ob die Siege auch ohne die Heeresreform möglich gewesen wären und ob durch sie Bismarcks Verfassungsbruch nicht nachträglich gerechtfertigt werde. Und viele sahen die Siege gegen Dänemark und Österreich als erste Schritte auf dem Weg zur deutschen Einheit. Die Vereinigung zumindest Norddeutschlands bis zum Main war Bismarck ja in der Tat mit den beiden ersten Einigungskriegen gelungen. Die Gründung des Norddeutschen Bundes zeichnete sich ab. Diese Entwicklung brachte insbesondere die nationalliberale Bewegung in die Bredouille. „Einigkeit und Recht und Freiheit“, waren ihr Ziel. Das Recht hatte Bismarck gebrochen, der zumindest kleindeutschen Einigung schien er Deutschland näher gebracht zu haben. Nun stellte Bismarck mit der sogenannten Indemnitätsvorlage die Gretchenfrage.
Standing ovation for this exceptional performance of Oscar Wilde’s Dorian Gray that just premiered at the TET. Paul Glaser and his “crew” consisting of four young actors won the hearts of the audience from the very beginning. If you expect a lavish Victorian interior with fancy objects and crystal chandeliers, you will be surprised to find a setting reduced to a staircase leading to an attic and a few pieces of furniture such as an ottoman and some chairs. You virtually feel and smell late Victorian London in all its different facets, including the fog, once called pea soup, that still in the early sixties of the last century was so compact that you only heard your neighbour’s step when he or she nearly touched you. Darkness and sombre music create an eerie atmosphere and remind you of Jack the Ripper who made Whitehall virtually a “no go area” at the time. Sure enough, dear spectator, the gloomy atmosphere makes the blood run cold in your veins.
Du siehst aber gar nicht gut aus auf dem Bild, Dorian
Ein „Gothic“ an der Mundsburg! Kein Zweifel, noch stimmiger kann man dieses Glanzstück aus der Feder Oscar Wildes nicht auf die Bühne bringen. Das eigentlich für seine sehr hübschen, eher braven Bühnenbilder bekannte Theater hat sich diesmal an die Maxime gehalten, dass weniger oft mehr ist. Wer ein opulentes viktorianisches Dekor erwartet, wird von einem mit äußerst reduzierten Mitteln gestaltetes Szenario überrascht. Alles in allem eine sehr gelungene Inszenierung unter der Regie von Paul Glaser, dessen unverwechselbare dramaturgische Handschrift den Besuchern des TET bereits aus dem Ende April 2015 uraufgeführten Schocker „Thrill Me“ noch in Erinnerung sein dürfte.
„Das Bildnis des Dorian Gray“ ist wohl jedem Bildungsbürger und Theaterfan bekannt. Dennoch soll hier nicht auf eine längere Inhaltsangabe verzichtet werden: Lord Henry Wotton, ein ebenso eleganter wie zynischer Aristokrat, entdeckt während eines Besuchs bei dem berühmten Porträtmaler Basil Hallward das noch nicht vollendete Gemälde eines äußerst attraktiven jungen Mannes namens Dorian Gray. Continue reading „“The Picture of Dorian Gray” – die neue Premiere am English Theatre of Hamburg“
Zur Ausstellung „18/I ihr habt es alle gewusst“ von Ele Runge im Berenberg-Gossler-Haus, Hamburg-Niendorf
von Maren Schönfeld Fotos: Ele Runge
CARPETS, medusa, Fotofragmenteriung, 80 x 80 cm (Ele Runge)
Mit dem ersten Blick sieht das Auge grafische Formen, die wie Teppichmuster aussehen, allerdings fast nur in Schwarz, Grautönen und Weiß. Ich stehe zunächst weit entfernt. Deutlich und harmonisch erscheint mir das grafische Muster, oben und unten, rechts und links gespiegelt. Es strahlt eine Ordnung, Struktur und Symmetrie aus, die eine beruhigende Wirkung auf mich haben. Ich schaue diese Carpets, wie Ele Runge sie nennt, gern an. Dann trete ich näher und mit jedem Schritt vereinzelt der Blick die Elemente dieses Musters. Es sind keine grafischen Formen, sondern winzige organische: Menschen, gehend oder eng zusammen hockend, in Tücher gehüllt. Menschen, deren Gesichter resigniert sind. Menschen, die klagende Posen einnehmen, Menschen hinter Zäunen, Menschen auf der Flucht. Je tiefer ich in den Carpet eintauche, je dichter ich davorstehe, desto verstörender wirkt er. Trete ich zurück, verliert sich die Vereinzelung wieder, das Gebilde verwandelt sich erneut in eine grafisch strukturierte Fläche. Diese Symbolhaftigkeit empfinde ich sofort als stimmig: Die Masse des Leids berührt uns nicht, aber das einzelne Schicksal schon. Die vielen einzelnen Schicksale sind so eine große Masse, das sie uns überfordern. Wir nehmen sie als eine Art Abstraktion wahr. Bewegungen, Wanderungen finden statt, ohne dass wir sie beeinflussen können und egal, wie wir dazu stehen. Dort sind die Grenzen unserer auf Selbstoptimierung getrimmten Welt und dort ist auch der Rand unseres Suppentellers, über den hinauszuschauen Ele Runge uns auffordert. Continue reading „Unbunt eindringlich“
Vor 127 Jahren wurde der Grundstein zum Altbau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gelegt
Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gehört zu den Sehenswürdigkeiten West-Berlins. Außer der „Puderdose“ (Hauptbau) und dem „Lippenstift“ (Turm) gehört zu dem Ensemble auch der „hohle Zahn“. Im Gegensatz zu den Nachkriegsbauten des Architekten Egon Eiermann reicht die Geschichte von Franz Heinrich Schwechtens Altbau bis in die wilhelminische Zeit zurück.
Wilhelm II. hatte ein gestörtes Verhältnis zu seinen Eltern, der Mutter Victoria und dem von ihr stark beeinflussten Vater Friedrich III. Der liberale Friedrich III. verhielt sich zwar loyal zu seinem Vater, aber er verfolgte eine andere politische Linie als der konservative Wilhelm I., was ihr Verhältnis belastete. Da verwundert es nicht, dass Wilhelm II. seinen Großvater mochte. Anfänglich mochte er auch dessen Kanzler Otto von Bismarck, aber das hatte sich über die Zeit so sehr geändert, dass er diesen 1890 zum Rücktritt drängte. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Wilhelm II. für seinen Großvater die Bezeichnung „Wilhelm der Große“ durchsetzen und ihn als Heros der neusten preußischen und deutschen Geschichte hervorheben wollte.
by Maren Schönfeld (German version), English summery by Uta Buhr
Sofi Oksanen, Photo: Toni Härkönen
The German fairy tale “Rapunzel” – one of many tales collected by the Brothers Grimm – forms the basis of Sofi Oksanen’s new novel. Do you remember? Rapunzel, the young woman who is endowed with the most beautiful long hair imaginable which serves her secret lover as a ladder to see her in her tower on top of a castle. Generations of children and young adults all over the world were and still are enchanted by this charming and thrilling tale.
In 2017, “Norma” was published in German language under the title “Die Sache mit Norma.” The author is the daughter of a Finnish father and an Estonian mother, born and raised in Central Finland. Russian animal tales and other stories inspired her to create the post-modern figure of Norma. It goes without saying that a writer of Sofi’s stature does not merely tell us a story, but spices her novel with fine doses of feminism and social problems. Just imagine, in 2010 19 million people went on a pilgrimage to the Indian Tirupati Temple to offer their hair to the gods. As a matter of fact, the temple sells the hair very expensively to celebrities such as Jennifer Lopez and Paris Hilton as hair extensions! To make a long story short: There is not enough hair to satisfy the “need” for it worldwide. Some gangs meanwhile even go so far as to steel women’s hair by cutting it while their victims are trying to cross the street. Afterwards these gangsters chop off on their mopeds. Continue reading „“Norma” – the new book by Sofi Oksanen“
Das Märchen Rapunzel war der Ausgangspunkt für Sofi Oksanens 2015 in Finnland, 2017 in Deutschland erschienenen Roman „Norma“ (deutscher Titel: „Die Sache mit Norma“). Für die estnisch-finnische Autorin, in der Kindheit geprägt von russischen lehrreichen oder Tiermärchen, war die revolutionäre Geschichte von Rapunzel das Lieblingsmärchen. So kreierte sie eine, wie sie sagt, postmoderne Version dieser Märchenfigur. Aber es wäre nicht Sofi Oksanen, bekämen wir es nicht auch mit Feminismus und gesellschaftlichen Fakten zu tun. 19 Millionen Menschen kamen 2010 zum indischen Tirupati-Tempel, um ihre Haare den Göttern zu opfern[1]. Die Tempel verkaufen das Haar, längst reicht es nicht mehr, um den Bedarf in der Welt zu decken. Extensions, wie sie Jennifer Lopez und Paris Hilton tragen, sind beliebt und werden teuer bezahlt. Längst ist das Geschäft mit den Haaren ein weltweites geworden. Im chinesischen Taihe wurden 2012 mit Haarexporten 88 Millionen Dollar erwirtschaftet.[2] Es gibt Orte auf der Welt, in denen sich zwei Bandenmitglieder auf einem Mofa einer an der Ampel stehenden Frau nähern und ihr – ratsch! – die Haare abschneiden, um damit zu türmen und sie zu verkaufen. Doch die Frauen im Tempel geben ihre Haare freiwillig her, andere gegen einen geringen Preis. Am wenigsten bekommen weltweit die Frauen, die ihre Haare abgeben. Am meisten kassieren Männer, die diese Geschäfte machen. Continue reading „Rapunzel und die Mafia“
Gertrude Stein aus der Sicht von Alice B. Toklas aus der Sicht von Gertrude Stein
Arche Verlag Zürich
Rund 90 Jahre ist es her, dass Gertrude Stein unzählige Künstler und Denker in Paris versammelte. Picasso und Dalí gehörten dazu, Juan Gris, Georges Braque und Tristan Tzara, Mitbegründer des Dadaismus. Die Surrealisten – Surrealismus sei die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, so Walter Benjamin im Jahr 1929 (1) – hatten sich der Kommunistischen Partei zugewandt; das heute noch existierende Verlagshaus Gallimard veröffentlichte die Zeitschrift „La Révolution Surréaliste“ von 1924 bis 1929. Nachdem André Breton dem Motiv der Begegnung eine ganz neue Dimension eingehaucht hatte, sollte Jacques Lacan, der Salvador Dalí in den 1930ern traf, das Trauma als verpasste Begegnung konzipieren – ein unerhörter Ansatz. Continue reading „Die Autobiographie von Alice B. Toklas“
von Maren Schönfeld
Fotos: Jennifer Hymer und Julia Mihály
Ninon Gloger
Madama Butterfly ist der Titel für das zweite Konzert des Non-Piano/Toy Piano Festivals am 11.11.2017 in Hamburg im resonanzraum St. Pauli. Eingestellt auf einen ungewöhnlichen Abend mit ungewohnten Klängen auf Spielzeugklavieren, sprengt das Erlebte allerdings jede Vorstellungskraft. Solisten, die zwei oder gar drei Instrumente während eines Stücks spielen; das Zusammenwirken eines Flügels mit dem Toy Piano; acht Melodicas im Zusammenspiel mit Tuba und Hihat – es ist kaum in Worte zu kleiden, was die furiosen Musikerinnen und Musiker aus aller Welt auf der Bühne präsentieren.
Haben Sie jemals ein Duett aus Spielzeugklavier und Tablet gehört? Julia Mihály (Deutschland) hat in ihrer Komposition „Baby Spin to Superman Reserve Variations (UA)“ beides zusammengebracht. Sie selbst übernimmt in der Aufführung das Tablet, während Bernhard Fograscher, der sich ansonsten auch mit dem zweimanualigen Vierteltonklavier beschäftigt, das Pink Butterfly Piano bespielt – mit einer langen Unterhose bekleidet, nachdem er sich zuvor Schuhe und Straßenhose ausgezogen hat, denn er muss sich schon sehr klein zusammenkrümmen, um am Mini-Piano Platz nehmen zu können. Continue reading „Das Zeug zum Spielen“
Congratulations – what a hilarious play! “Boeing Boeing”, masterly directed by Clifford Dean, marks another “Best of” in the long line of great performances on the stage of the English Theatre of Hamburg. How come that a plot going back to the sixties of the last century is still so popular and elicits almost thunderous applause from the audience. The answer is as simple as that: humour does not know deadlines – witty plays never get stale, no matter at what time they were written. “Boeing Boeing” perfecty reflects the European lifestyle of the “swinging sixties.” Those in the audience who still remember the feeling of liberty and the winds of change after the grey and bitter post-war years will enjoy the charm and lightness of this outstanding comedy written in French by the Swiss-born author Marc Camoletti and translated into English by Beverly Cross and Francis Evans.
Kompliment! Mit dieser temporeichen Komödie von Marc Camoletti hat das English Theatre sich selbst übertroffen. Und das soll angesichts des vielfältigen Spielplans dieser kleinen Bühne schon etwas heißen. Warum ist dieses leichtfüßige Stück aus den etwas spießigen sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts bis heute ein Hit – immerhin wurde es weltweit unzählige Male aufgeführt und schaffte es sogar ins Guiness Book of Records? Allein in Paris , wo die Komödie ihre Erstaufführung erlebte, lief sie neunzehn Jahre lang. Der Erfolg von „Boeing Boeing“ beruht sicherlich auch darauf, dass dieses Stück die Epoche einer „heilen Welt“ widerspiegelt, die das Publikum nach den gerade überwundenen bitteren Nachkriegsjahren an einem neckischen, höchst amüsanten Bäumchen-wechsel-dich Spiel teilnehmen lässt, das seinesgleichen an Komik sucht.
Roswitha Quadflieg; Bilder der Ausstellung: Hanna Malzahn
Am 11. Oktober hat Roswitha Quadflieg in der Ausstellung „Ansichtssache“ (Kunstforum der GEDOK Hamburg) aus ihrem Buch „Das kurze Leben des Guiseppe M.“ gelesen und das Projekt vorgestellt. Verarbeitet Hanna Malzahn Urbanität aus ganz verschiedenen Perspektiven und in unterschiedlichen Entstehungsarten bildlich, so bringt Roswitha Quadflieg mit ihrem der Reportage nahen Buch eine (An-)Sicht auf die Geschehnisse in einer Großstadt – Berlin – ein, die Fragen aufwirft und betroffen macht: Welche Seiten hat die Stadt, von denen wir nichts mitbekommen? Welche Rolle spielen Parallelgesellschaften, die sich gebildet haben und derer die Politiker sich eher nicht annehmen? Wie ist es möglich, dass in unserer aufgeklärten Gesellschaft derart archaische Gewalttaten passieren, und zwar ständig? Continue reading „„Gewalt ist die letzte Zuflucht des Unfähigen“ (Isaac Asimov)“
Mit Fotografie beschäftigte sich Norbert Becke schon lange Zeit. Das brachte sein Beruf als Graphik-Designer so mit sich. Selbstverständlich war auch auf all seinen Reisen die Kamera dabei. Als er vor etlichen Jahren zum ersten Mal mit seiner Frau durch Afrika reiste, faszinierten ihn die Menschen, die dort leben. Er drückte auf den Auslöser und entdeckte seine Liebe zur Porträtfotografie.
Stets aufs Neue zog es ihn nach Afrika. Insgesamt reiste er durch 15 afrikanische Länder und fotografierte unter anderem Menschen in Tansania, Äthiopien, Namibia und Marokko. „Ich führe zunächst ein kurzes Gespräch“, erklärt Norbert Becke, „frage um Erlaubnis. Manchmal genügt aber schon ein Lächeln oder eine Geste, um das Eis zu brechen.“
Stolz auf den Schmuck: Dassanech-Mädchen aus Äthiopien. Fotos: Hoffmann
Viele der Frauen, die der Heidelberger fotografierte, sind stolz auf den `Schmuck´, den sie tragen. Der besteht allerdings oftmals aus weggeworfenen Gegenständen, die sie auf der Straße finden, wie zum Beispiel Flaschen, Plastikperlen oder Kronkorken. Auch das Mädchen auf unserem Foto trägt Kronkorken im Haar. Es gehört zu einem Hirtenvolk, das im Grenzgebiet von Äthiopien und Kenia lebt.
Wie geht es uns denn so in der heutigen Bundesrepublik, lautet die von Martin Dornes gestellte Frage, und die Antwort heißt: danke, ganz gut! Warum auch nicht?! ´Good – better – best – bested´, wie schon Edward Albee wusste. Dass nebenan und um die Ecke man zu anderen Ergebnissen kommt, wen kümmert´s? Nicht der Rede wert, da empirisch nicht haltbar.
Etwas zugespitzt ließe sich die alte Einsicht wiederholen, dass mit dem Kopf im Eisschrank und den Füßen im Ofen eine angenehme Durchschnittstemperatur herrscht – was besagt, dass mit statistischen Durchschnittswerten nicht nur wenig über den Einzelfall gesagt werden kann, sondern oft ebenso wenig über die Menge an Fällen. Etwas verkürzend ist dies natürlich, und Statistiken (und deren vorsichtige Interpretationen) haben durchaus ihre Berechtigung; doch muss vor raschen – und auch scheinbar weniger raschen – Aussagen auf deren Grundlage dringend gewarnt werden. Man dachte ja, mit dem Beginn des neuen Jahrtausends seien die Torheiten der datensüchtigen Vergangenheit endgültig überwunden, doch weit gefehlt. Denn so oder so ähnlich wird immer wieder einmal von durchaus seriös auftretenden Personen argumentiert – egal worum es geht. Da werden Zahlen und Daten jede Menge herangezogen, und es wird suggeriert, dass dies Fakten seien, die sich geradezu von selbst interpretieren.
Kaum etwas ist so komplex und schwer zu verstehen wie menschliches Verhalten. Es existieren jedoch durchaus Verstehens- und Erklärungsansätze, die – so komplex sie auch sind – vieles an unverständlich erscheinenden Phänomenen einer Taxonomie zuführen können. So z.B. existieren Strukturen, in denen wir uns bewegen, die – hier etwas verkürzt dargestellt – mit dem Konzept sogenannter objektiver Gewaltstrukturen erfassbar sein können. Objektive Gewalt “resides in the contours of the background which generates […] outbursts and consists of the often catastrophic consequences of the smooth functioning of our economic and political systems” (Schmid, 2011). Versteht man Schmids Verb „generate“ als „herstellen, bilden“ und nicht so sehr als „erzeugen“ im Sinne monokausaler Verursachungs-Zuschreibung, kommt man dem Kern objektiver Verhältnisse schon nahe. Die darin enthaltene potentielle Fragmentierung des Menschen ist jedoch mit statistischen Werten kaum oder nur rudimentär erfassbar. Dennoch wird nicht selten anhand von Zahlen erklärt, wie die Sachlage ist. Im Großen und Ganzen macht Dornes dies in seinem neuen Band; und würde nicht sehr viel Pseudo-Kritik zum derzeitigen bundesrepublikanischen Kapitalismus umhergeistern, man müsste ihm sein Unterfangen ganz grundsätzlich übel nehmen. Eine Kritik der Kritik ist also durchaus statthaft – doch nicht so.
Grundlegendes
Dass uns sowohl aktuelle als auch überdauernde bio-psycho-soziale Gegebenheiten (der Streit mit dem Nachbarn, die große Liebe, die Langzeitarbeitslosigkeit, das neue Auto, aber auch die einfache Tatsache, dass wir bspw. im Jahr 2017 in Deutschland leben und nicht auf Borneo oder vor fünfhundert Jahren) psychisch beeinflussen, ist selbstverständlich. Es macht einen Unterschied, wann, wo und wie wir sind, und dies mit-determiniert Depression und andere psychische Störungen. Vielleicht nicht wegen, sondern trotz eines entfesselten Kapitalismus heutiger Prägung, in dem munter jeder Legitimationsdruck für was auch immer in Luft aufgelöst wird, ist in der Bundesrepublik nicht mehr manifeste depressive Symptomatik zu verzeichnen als zuvor. Dies würde ihn nicht besser, aber einen bedeutenden Unterschied im Verständnis mancher vorgelegter Daten machen. Womöglich ist die Zersplitterung des Menschen in der Postmoderne nämlich sehr real: die tödliche Wirklichkeit der durch politischen Willen erzeugten objektiven Verhältnisse (vgl. Vester, 1993) könnte sich in dem, was Richard Sennett Korrosion (Sennett, 1998) nennt, niederschlagen. Und Depression können wir da gar nicht gebrauchen; stattdessen kann jede noch so symptomwertige Idiotie zum Lebensstil erhoben werden. Selbst wenn Charakterstruktur beständig wäre: die Korrosion derer könnte es eben auch sein. So wie beim Öffnen eines kommerziellen email-Providers am Bildschirm Werbebotschaften haften bleiben und nachwirken können, könnte sie an der Zersetzung unserer Psychen arbeiten. Insbesondere in Bezug auf die zunehmende Virtualität der Gesellschaft, in der Bildschirme Nähe suggerieren und Kategorien von Subjekt-Objekt-Differenzierung auflösen (Fuchs, 2014), ist dies sehr ernst zu nehmen. Letztens hat Eisenberg eindrücklich auf das destruktive Potential dieser gesellschaftlichen Entwicklung hingewiesen (Eisenberg, 2015).
Kulturelles
Die kulturelle Verfasstheit des Psychischen wird allzu häufig geschickt pariert, ignoriert und geleugnet. Kulturelle Verfasstheit meint auch nicht Handy ja/Handy nein, sondern Formung und/oder Verformung des Psychischen im Sinne von pathologischer Tendenz. Das Nicht-offensichtliche in psychischen Bereitschaften zu sehen (Bräutigam, 1990) sollte für Fachleute eine Selbstverständlichkeit sein. Aber man kann es durchaus auch konkret angehen: dann greift Dornes´ Diagnostik ebenso kurz; vor allem aber scheint es ihn nicht zu stören, wenn der Arm bis zur Schulter im Mülleimer nach Leergut sucht. Solange die Person, der der Arm gehört, nicht depressiv oder anderweitig klinisch gestört ist, erscheint er in Dornes´ Auswertungen nicht. Zudem folgt Dornes einer Logik, die nicht nur den leiblichen Aspekt des Psychischen (Fuchs, 2007) übersehen lässt, sondern auch den, dass kein Gehirn ohne Leib denkt und kein Leib ohne Umweltbedingungen ist, in denen er existiert (Fuchs, 2008).
Hochinteressant nebenbei auch manche Vorstellungen, in denen ohne Unterscheidung vergangenen Zeiten pauschale Einschätzungen zuteil werden. So wird von weiblichem Entsetzen bei Entdeckung der Menstruation oder von unsteuerbarer Erregung beim Durchblättern eines Miederwäsche-Katalogs in der Nachkriegszeit gesprochen. Der zivilisierte Mensch – gerade auf dem Fahrrad unterwegs zum nächsten Veggie-Laden – ist eigentlich gestern erst erfunden worden. Gern wird mit der Möglichkeit der Fehlerkorrektur argumentiert, im Gegensatz zu vergangenen Zeiten, in denen man nach einmal getroffener Entscheidung an Arbeitsplatz, Ehemann oder Sportverein gebunden war – das ist jetzt alles vorbei, wie schön. Genau dieses Denken ist antiquiert in einer Zeit, in der massive Umwälzungen bereits allerlei Verwerfungen gebracht haben – und täglich bringen. Wenig bedacht wird dabei, auch von Dornes, dass der Anspruch, möglichst wenige Fehler zu machen, damit rapide sinken dürfte, was angesichts der Komplexität heutiger Gesellschaften und ihrer Probleme als hoch problematisch gelten muss. Das übrigens wird Billy Joel mit seinem Etikett ´Zeitalter der Inkompetenz´ gemeint haben.
Wenn Dornes einmal im-, einmal explizit, die heutige Demokratie als Lösung für alles und jedes preist, unterliegt er zudem glatt der Verwechslung von Demokratie mit Marktwirtschaft. Nicht einmal eine Legitimationskrise (Ptak, 2009) findet bei ihm statt. Colin Crouch wird erwähnt, aber rasch verworfen. Alain Badiou hingegen beschreibt die derzeitige Wählerdemokratie als „nur insofern repräsentativ, als sie zuerst konsensuelle Repräsentation des Kapitalismus ist, der heute in ´Marktwirtschaft´ umbenannt ist. Das ist ihre prinzipielle Korruption“ (Badiou, 2008, S. 97). Das derzeitige Unbehagen an vielem Beanstandungswürdigem, das z.B. in allerlei Medien-Initiativen ihren Niederschlag findet, hat in ihrer privatisierten Form oft etwas von Pseudo-Partizipation, in ihrer politisiert-verstaatlichten Form mitunter etwas Totalitäres an sich. Die unterliegende dogmatische Marktgläubigkeit samt Exkommunikation derer, die diese nicht teilen, hat Josef Berghold bereits anhand des Falles Chile beschrieben (Berghold, 2009), die emotionale Verelendung inbegriffen.
Unbewusstes
Dass Terrorismus und Konsumerismus zusammen hängen könnten, darauf will Dornes gar nicht erst kommen. Talcott Parsons hat in seiner ´oversocialized conception of man´, die Dornes (S. 64ff.) mal eben für falsch erklärt, interessante Schlaglichter gesetzt, in der mittels ich-psychologischer Identifikation mit dem Aggressor und deren Transformierung in die totale Leistungsgesellschaft als Ausgangspunkt bemerkenswerte psychische Mechanismen beschrieben werden. Manches mag Parsons vielleicht nicht exakt getroffen haben, aber präödipale, frühe Verinnerlichungen (die nicht unbedingt mit Liebesentzug durch die Mutter verbunden sein müssen), sind nichts Unbekanntes. Und schon bei Kleist sehen wir ein fühlendes Individuum im Konflikt mit der gesellschaftlichen Ordnung (Parzinger, 2011, S. 171), das ganz unterschiedlich konzeptualisiert werden kann. Gewiss will das Kleinkind nicht einfach das, was auch die Mutter will; ein komplexer dialektischer Prozess ist hier am Werk, von dem nicht abschließend als geklärt gelten kann, was genau stattfindet. Selbstredend findet aber keineswegs irgendeine bruchlose Verinnerlichung statt, sondern Kompromissbildungen in dialektischem Prozess von Aneignung und Widerstand. Da die Verhältnisse ohnehin schon nicht unbrüchig sein können (vgl. Egloff, 2015b), ist jedoch eine ´oversocialized conception of man´ in Zusammenhang mit der frühen Mutter nicht wirklich nötig. Es muss als ganz und gar ungeklärt gelten, ob übergreifende gesellschaftliche Bewegungen die symbolische Ordnung in nur noch einer dem anomischen Urvater geschuldeten fragmentierten Form existieren lassen, die, kleinianisch gesprochen, in der paranoid-schizoiden Position auch bösen Mutter-Introjekten geschuldet sein könnte, oder ob wir es im Sinne früher mütterlicher, guter Beziehungserfahrungen mit einer progressiven Bewegung hin zu Freiheit und Selbstbestimmtheit zu tun haben (Egloff, 2015b, S. 324-325). Erst innerhalb solch einer Fragestellung wären Dornes´ Selbstermächtigungsvorschläge, die keineswegs so eindeutig und unvoreingenommen auftreten, wie sie in seinem Text daherkommen, prüfbar.
Folgen wir Freud in seiner Beobachtung über die anfängliche Hilflosigkeit des Säuglings, der Urvertrauen aufbauen muss, so werden wir einer immensen Aufgabe gewahr. Ganz schlicht weitergedacht, dürfte schon an dieser Stelle der Beginn der Ideologie zu verorten sein. So wie Urvertrauen enttäuscht wird und werden muss, muss es dennoch aufrecht erhalten werden; dieser Konflikt – nachrangig, ob nun als Konflikt oder Strukturmangel konzipiert – als anthropologische Grundkonstante gedacht, begründet den Beginn des potentiell ´falschen´ Bewusstseins, dessen projektive Kraft sowohl zu Anpassung als auch zu Widerstand führt. Daher macht es wenig Sinn, dies in Abrede zu stellen, auch wenn aus einer pragmatischen Haltung heraus eine interventionistische Perspektive hilfreich sein mag. Ein schmaler Grat zwischen Hoffnung (durch Selbstwirksamkeit) und Enttäuschung (über die Desillusionierung des grandiosen Selbst) ist therapeutisch ohnehin zu gehen.
Politisches
Aus interventionistischer Perspektive wäre hier viel früher anzusetzen; prä- und perinatale Zusammenhänge und ´neurodevelopmental outcome´ sind zahlreich beschrieben worden (vgl. Roth, 2016; vgl. Egloff u. Djordjevic, 2016), ´new social deprivation´ als Vorbedingung und Ergebnis von Depravationsprozessen (Egloff u. Djordjevic, 2016) weist hin auf Psychopathologie im gesellschaftlichen Gefüge, sodass von ´new morbidity´ in einem neuen Sinnzusammenhang gesprochen werden müsste. Deutlich mehr vorzeitige Geburten scheinen Teil dieser gesellschaftlichen Entwicklung zu sein. Paul Virilio spricht nicht ohne Grund von ´Rasendem Stillstand´ (Rosa, 2005), in dem die Entzeitlichung der Subjektwerdung Programm ist – auch das nicht neu, es darf aber Gültigkeit beanspruchen. Die beschleunigte Gesellschaft produziert schon auf Ebene des Zeitgefühls vermehrt depressive Subjekte (Mensen, 2014). Dies kann subklinisch, also unauffällig sein. Es muss eben nicht ein klassisches Konzept von Depression herangezogen werden – auch nicht als Beziehungskonzept im engeren Sinn –, sondern ein Konzept narzisstischer Transformation als gesellschaftlicher Modus von „Überlebensstrategie“, wie Mensen formuliert, „- wer sich selbst nicht übermäßig wichtig nimmt und inszeniert, geht im marktbestimmten Geschäft unter -, die als ´Abfallprodukt´ oftmals eine narzisstische Depression zur Folge hat“ (Mensen, 2014, S. 119.) Dies ist in Therapie-Praxen gut bekannt, aber schwer zu operationalisieren bzw. sichtbar zu machen (vgl. Egloff, 2012b). Darum geht es, wenn Depravation aus Deprivation entsteht, und umgekehrt. Stattdessen erklärt Dornes Aktivität, Initiative und Beweglichkeit zu einer Art urwüchsigem Privileg der Mittel- und Oberschichten, ohne deren materielle Voraussetzungen zu bedenken – die glatte Psychologisierung des Sozialen. Um es sich nochmals auf der Zunge zergehen zu lassen: er meint, mit jener Aktivität, Initiative und Beweglichkeit habe das sogenannte Prekariat Schwierigkeiten (S. 120ff.) und macht Anleihen bei der von ihm so monierten Form der Sozialreportage mittels der altbekannten Sensations-Beispiele aus dem ´Spiegel´, die es natürlich gibt, die aber mit dem Begriff des Prekariats alles andere als deckungsgleich sind – dies vielleicht der schwerwiegendste Fehler in seinem Band, dessen Verwechslung folgenreich.
Modenas operationalisierter Begriff von Proletariat (Modena, 1984), der schlicht aber zutreffend dieses als von Lohnarbeit abhängige Personen definiert, zeigt auf, wie Reifikation und Kommodifikation zunächst einmal als Grundpfeiler kapitalistischer Verkehrsformen gelten dürfen, die auch die menschlichen Beziehungsformen grundlegend durchdringen (Egloff, 2015b). Doch es ist noch schlimmer gekommen: nicht nur in Deutschland ist das Proletariat durch die vielleicht infamere Variante des Prekariats abgelöst worden (eine sehr gelungene und zutreffende Darstellung der nicht nur als Malaise zu bezeichnenden Situation ewiger Praktikantinnen und Praktikanten sowie der Tendenz zu in ´Frauenberufen´ – auch akademischen – sinkenden Einkommen im Rahmen des ´gendered capitalism´ bei Feiereisen, 2011); der operational definierte Begriff von Proletariat, angewendet auf das Prekariat (empirisch in der, wie Dornes meint, kaum anzutreffenden Auflösung der Mittelschicht nachweisbar) aufersteht mittels der von Gerhard Schröder und Tony Blair mit-initiierten Erfindung der system-immanenten ´working poor´ in Europa. Heimgesucht von Unsicherheit, von Unplanbarkeit, von niedrigsten Renten usw., geht es beim Prekariat gar nicht mehr um ´klassische´ Entfremdung, sondern zunehmend um nackte Existenzsicherung: ein Kellner muss heute zumal ´nice´ sein, sonst verliert er den Job. Im Industriekapitalismus konnte er im Grunde weiterarbeiten; heute ist er zusätzlich prekarisiert (Groys u. Hegemann 2016). Die Prekariatsvariante bedeutet geradezu einen massiven gesellschaftlicher Rückschritt. Wohl ist es nicht nur so, dass „people retreat from responsibilty, either escape or somatize“ (Siltala, 2009, S. 128), sondern andersherum ist in der Praxis gut nachvollziehbar und seit langem bekannt, wie Symptomatiken gerade nicht in Erscheinung treten, wenn die materiellen Bedingungen gut sind. Denn abgesehen davon, dass die von Dornes geschilderten polymorphen Symptomatiken nicht nur in sogenannten sozial schwachen Milieus auftauchen, wird ebenso nicht nur in sozial stärkeren Schichten Symptomatik bspw. mittels Kompensationskäufen, aber gern auch mit ´dezentem´ Alkokolkonsum, in Schach gehalten. Beispiele in unterschiedlichsten Konstellationen gibt es hierzu jede Menge (Egloff, 2013; Egloff u. Djordjevic, 2015; Salfeld-Nebgen et al., 2016; Uhlendorf et al., 2016), und das Team um Gerisch, King und Rosa hat verschiedene Varianten untersucht und Optimierungsbestrebungen im Kontext von Beschleunigung, Flexibilisierung und Ökonomisierung beleuchtet und aufgezeigt, wie Dynamiken ineinandergreifen, auch ohne dass diese nur ´früh´ ablaufen. ´Spät´ ist eben auch möglich. Ähnliches gilt für die Arbeitsverhältnisse: andere Sichtweisen sind durchaus vorhanden (Parpart, 2016). Diese tauchen epidemiologisch eben nicht oder in anderer Form auf – ganz abgesehen davon, dass konstruktivistische Systemtherapeuten, von denen es nicht wenige gibt, bspw. überhaupt keine Diagnosen stellen. Die Dunkelziffer dürfte erheblich sein. All zu wichtig erscheint Dornes dagegen, dass Geldtransfers an sozial Schwache nichts bewirken würden. Dass Bill Clintons Berater James Gilligan zu anderen Ergebnissen kommt, nämlich dass ´reducing societal inequalities most effective against violence´ ist (Gilligan, 2000), wird Dornes gewiss bestreiten.
Künstlerisches
Es liegt nicht lange zurück, dass Don DeLillo mit „Cosmopolis“ auf Verwerfungen hingewiesen hat, die die Mesalliance von Konsumkapitalismus, Virtualisierung und Psychopathologie mit sich bringt. Die Weltliteratur ist voll davon. Thomas Pynchon hat in ”The Crying of Lot 49” bereits 1966 Depravationsprozesse dargestellt, die system-immanent wirken – selbstredend mit aus naturwissenschaftlich-empirischer Sicht fragwürdiger Analogien, doch das liegt in den Gegenständen begründet. “The Crying of Lot 49 presupposes that the Puritan, middle-class, commercial, capitalistic, industrial, technological process is subject both to thermodynamic entropy, which creates waste, and communication entropy, which creates silence. The by-product of this process is a third kind of entropy, human, which leads to an army of outcasts, of derelicts and failures […]. This army of men and women operates as a counterforce to the commercial processes that have ravaged the land as they have moved silently west through history” (Lehan, 1995, S. 40). Die ´counterforce´ ist jedoch größtenteils aus der Mode, und Dornes findet dies berechtigt – und aus empirischer Sicht nun auch nicht einmal nötig. Schauen wir auf andere künstlerische Arbeiten:
Die Inszenierungen von Frank Castorf oder Christoph Marthaler (vgl. Egloff, 2012a), die Arbeiten von René Pollesch, oder Christoph Schlingensiefs „Rosebud“ (2002), Kathrin Rögglas „wir schlafen nicht“ (2004), aber auch Lucy Prebbles „Enron“ (2009), oder letztens Philipp Löhle, dessen Theatertext „Du (Normen)“ exemplarisch auf die Banalität von Nutzenmaximierung als zweiter Natur der neoliberalen Persönlichkeit verweist, arbeiten genau jenes durch, was in den Daten nicht ohne weiteres erscheint. Daher seien sie jenen Interessenten, die mehr verstehen wollen, neben einer etwaigen Dornes-Lektüre anempfohlen. Denkt man etwa an Peter Weiss´ „Marat/Sade“ in Volker Löschs Hamburger Inszenierung von 2008, so lässt sich zudem sagen: vorsätzliches Vergröbern muss nicht schlecht sein, um Sachverhalte zu verdeutlichen. In Anlehnung an eine Besprechung Löschs (Pilz, 2008) gilt für Dornes: seine Interpretationen sind oft ein bisschen richtig, obwohl vereinfachend, aber weder komplex noch vereinfachend genug, dass es wirklich die wunden Punkte der Gesellschaft träfe.
Und auch „Die 120 Tage von Sodom“ in Johann Kresniks wie auch immer zu bewertenden Volksbühnen-Inszenierung von 2015 könnte hilfreich bei der Horizont-Erweiterung sein. Die Liste ließe sich fortsetzen. Dass die schöne Warenwelt mit Verhinderung von Symbolisierung zu tun haben könnte (vgl. Seidler, 2002; Layton, 2014) und diese, wenn schon nicht monokausal bedingt, dann aber fördert, dürfte viel mit Kommodifizierung und Reifizierung zu tun haben, gerade im Übermaß des entgrenzten Konsum-Kapitalismus. Daher kann nur gelten, es nicht bis zur vollständigen Kommodifizierung des Subjekts zu treiben (Egloff 2015a). Thematiken wie der Umschlag von Gemeinschaft in Gesellschaft oder von symbolischer Ordnung und Über-Ich-Bildung (Egloff 2015b, S.317ff.) sind geeignet zu bearbeiten, wie gesellschaftliche Verhältnisse und individuelles Verhalten sowohl Identität als auch Nicht-Identität bergen (Egloff, 2015b, S. 318; vgl. Ottomeyer, 2014). Sozialisationsprozesse bergen viele solcher Aspekte, die warenproduzierende Gesellschaft vor allem aber das Versprechen, durch fetischistische Transaktionen vollständig zu werden. Dieses ist uneinlösbar, da nie genügend Objekte vorhanden (Decker, 2016). Dass sich hier psychische Phänomene bilden müssen, liegt auf der Hand bzw. ist schon in den Begrifflichkeiten enthalten. Und, nein: Psychisches nimmt keine Rücksicht auf Gegenstandsbereiche. Alles andere wäre rationalistisch.
Überforderndes
Dass Überforderung schon im Subjektanspruch der Moderne an sich stecken könnte, die Verwirklichen und Bewältigen-wollen einfordert, mag sein. Dieser allerdings scheint heute immer mehr einer Steigerungslogik unterworfen, in der Humankapital nun gar aus Individualität und Differenz gebildet werden soll (Klinger, 2015). Dornes´ Affinitätsbehauptung der Psychoanalyse als Methode zur Ich-Stärkung hinsichtlich gesellschaftlicher Anforderungen ist nicht nur überzogen, sondern stößt nur allzu munter ins Horn unrealistischer Befähigungsphantasien. Es gehe ihm nicht um eine Individualisierung von sozialen Problemen, erklärt er, weil es eine gesellschaftliche Aufgabe bleibe, Selbstermächtigung der Menschen voran zu treiben, diese nur eben anders ausgestaltet werden müsse. Letztlich heißt das aber nichts anderes als Gesellschaftsgestaltung entlang ökonomischer Kriterien. Damit ist Dornes voll drin im aktivierenden Sozialstaatsmantra (vgl. Butterwegge, Lösch & Ptak, 2007) und spielt zudem eben doch der brandgefährlichen Therapeutisierung sozialer Problematiken in die Hände – man kann es nicht oft genug wiederholen. „Zugleich wird es möglich, soziale Verwerfungen und ´Verlierer´ auf unterschiedliche Resilienzausstattungen zurückzuführen und damit zu individualisieren und zu naturalisieren“ (Graefe, 2016, S. 47). In Dornes´ Ermächtigungsvorstellungen des Subjekts spricht er von Steuerungsfähigkeit und ähnlich gut operationalisierbaren Begrifflichkeiten, die, ob in Psycho- und Sozialtherapie oder Arbeitsamt-Kurs, vermittels Sprache sogenannte frühe Strukturdefizite ausgleichen anzutreten haben. Ersetzt man seine Begriffe durch sprachphilosophische oder (post-)strukturalistische, fällt sein Empowerment-Konzept jedoch wie ein Kartenhaus zusammen – was übrig bleibt, sind Machtverhältnisse, Virtualisierung, Globalisierung. Daher wäre es zielführend gewesen – wenn man schon große Fragen angeht –, die zu untersuchenden Phänomene auch in ihren ´Differenzkonstruktionen´ zu betrachten, diese also nicht nur und ausschließlich unter (neo-)psychoanalytischen Gesichtspunkten zu untersuchen, sondern bspw. auch unter strukturellen oder semiotischen. Dass dies nicht nur möglich, sondern fruchtbar und vervollständigend sein kann, zeigen semiotisch fundierte Ansätze auf anderen, doch nicht fernen Gebieten (vgl. Egloff, 2016). Sonst nämlich könnte es sein, dass der Schritt vom äußeren Tatbestand zur inneren Bedeutung zu nichts anderem führt als zu Pseudo-Verstehen, in dem innere Motive als Ausweis für politisches Handeln herangezogen werden, diese sich aber als trügerische Maske, ja Narrativ von Lüge, erweisen können (Žižek, 2015, S. 16). Doch all dies scheint jenseits von Dornes´ angebahntem neoliberalen Empowerment-Konzept zu liegen. Rasch wird von Sensibilisierung der Öffentlichkeit gesprochen, wenn in manchen Bereichen der Begriff Fetischisierung zutreffender wäre (Binkley, 2008). Max Webers ´stahlhartes Gehäuse´ der Moderne mag durchaus aufgeweicht worden sein, aber jetzt ist Postmoderne angesagt. In eben dieser will Dornes Selbstermächtigung feilbieten, so wie mittlerweile Kochbücher erscheinen, die günstiges Nachkriegsessen für Hartz IV-Empfänger anpreisen. Nach seiner Logik könnte man dieses gleich amtlich ausgeben: einfaches, aber gesundes Essen. Intrinsische Motivationen zu ermöglichen – die Betonung liegt auf dem Verb ´ermöglichen´ – sollte stattdessen oberstes Gebot sein (Holm-Hadulla, 2009), so wie extrinsische Motivationsfaktoren zu minimieren.
Abschließendes
Auch für Hartgesottene gilt somit: kaufen, lesen, Abstand nehmen. Denn was Dornes anzustreben scheint, ist die Verwirklichung seines prototypischen Menschenbildes einer Kapitalismus-krisenfesten Persönlichkeit, die korrelieren dürfte mit dem vom Dortmunder Amerikanisten und Ars-Legendi-Preisträger von 2010 Walter Grünzweig erschrocken beklagten Minimalhorizont aktueller Studienanfängerjahrgänge. Doch Korrelationen sind eben nur Korrelationen. Alles sehr fraglich, gewiss. Weniger fraglich jedoch ist, was die Sozialwissenschaftlerin Stefanie Graefe festhält: „Die krisenfeste Persönlichkeit hat (idealerweise) keinen Bedarf, das System zu verändern; sie verändert sich selbst – und dies permanent. Sie ist konsumkompetent, beratungsoffen und ressourcenorientiert; steigenden und schwankenden Produktivitätserwartungen von Unternehmen und Gesellschaft kann sie nachkommen, ohne ihre eigene Gesundheit nachhaltig zu gefährden. Politisch im herkömmlichen Sinne ist sie hingegen nicht: Im Zeichen von Resilienz wird Gesellschaft als unveränderliche Randbedingung der eigenen ebenso komplexen wie stets gefährdeten Lebensgestaltung verstanden, nicht aber als Gegenstand kollektiver Veränderung“ (Graefe, 2016, S. 47).