William Faulkner zum 125. Geburtstag

Foto: Cofield / Mississippi Encyclopedia

Ein hervorragender Geburtstags-Artikel von Uwe Britten im Ärzteblatt für psychotherapeutische Praxen (Britten 2022) darf als Anlass dienen, an dieser Stelle auf einen Meister der klassischen Moderne hinzuweisen, der die berühmt-berüchtigten US-amerikanischen Südstaaten in eine ganz eigene literarische Form gebracht hat.

Wie kaum ein anderer bietet William Faulkner neben dem reinen Lesegenuss dabei sowohl existentialistische als auch essentialistische Lesarten an; und die Achse Bergson – Sartre – Deleuze ist hier ebenso fruchtbar wie beispielsweise die von Schopenhauer – Nietzsche – Freud. Neben dem Publikumserfolg, der Faulkners Werk – teils mit Verzögerung – letztlich zuteil wurde, handelt es sich um nichts weniger als Weltliteratur. Albert Einstein soll einmal gesagt haben, dass die Lektüre dieses Werkes eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe ist (Sowder 1991) – da lag er gewiss richtig.

Das ewige Aufeinandertreffen von Vergangenheit und Gegenwart

Die Lebensphilosophie Henri Bergsons (Bergson 1991; 1994) kann eine hilfreiche Hintergrundfolie für ein Verständnis von Faulkner bieten, deren Aspekt von Zeitlichkeit ein zentraler in dessen Werk ist: Faulkners Leitthema ist nämlich das ewige Aufeinandertreffen von Vergangenheit und Gegenwart. Von Bergson, der ´le temps´, die objektive Zeit, von ´la durée´ zu unterscheiden wusste – der subjektiven, sagen wir: erlebten Zeit – kann man nicht wenig über Identitätsbildung und Subjektivität lernen. So hat mittlerweile auch die neuropsychiatrische Zeit- und Gedächtnisforschung (Squire & Kandel 2009) die Unterschiede von semantisch-motorischem Gedächtnis und episodischem Gedächtnis herausgearbeitet, von dem letzteres etwa identitätsbildende Funktion hat.

Bedeutsam ist bei Bergson zudem dessen Anti-Rationalismus, der der vor allem aus dem Frankreich des 18. und 19. Jahrhunderts hervorgehenden Vernunftorientierung entgegentritt, was ihm schon damals den Vorwurf von Unschärfe und Mystizismus einbrachte (Fellmann 1996). Dieser Vorwurf gründet aber überwiegend auf einem verengten Wissenschaftsbegriff, der ebenfalls dem Rationalismus – heute vielfach in Verbindung mit einer zu engen Anwendung des anglo-amerikanischen Empirismus – zu verdanken ist.

Man könnte sagen, so wie Bergson etwa Subjektivität konzipiert, erkennt Faulkner die Eigenarten des menschlichen Wesens mit all seinen Abgründen und in all seinen Widersprüchen. Doch ist er dabei nie fernab von Gesellschaftskritik; das Gegenteil ist der Fall. Nur eindimensionale Gemengelagen findet man bei ihm nicht, und eindimensionale Antworten bietet er ebenso wenig an. Der Balanceakt zwischen viktorianischer Vergangenheit und kommender Moderne ist bei Faulkner als Autor zwischen den Welten (und Weltkriegen) persönlich-kulturell gewissermaßen angelegt, obwohl und weil er, wie viele amerikanische Autoren, als „Regionalist“ im Kleinen das Große, im Mikro- den Makrokosmos findet.

Die „Snopes“-Trilogie

So weist Britten im Ärzteblatt-Artikel auch auf die ausgreifende „Snopes“-Trilogie (Faulkner 1994) hin, die jenseits eines ganzen Panoptikums an Figuren, Konflikten und Themen den besonders eindrücklichen Zwist der ungleichen Cousins Flem und Mink Snopes vorstellt. Dabei geht es um Religiosität, Alltagsmaterialismus, Moralität. Gesellschaftskritische Komponenten liegen auf der Hand, etwa wenn Faulkner zeigt, was es bedeuten kann, wenn Aufsteiger aufsteigen, oder wie Unausweichlichkeiten menschliches Handeln determinieren können.

Eine zentrale Figur der Trilogie ist also Flem Snopes, ein Parvenu und Opportunist verwegenster Sorte, der vom Cafébesitzer zum Bankvorstand der fiktiven Stadt Jefferson in Mississippi aufsteigt. Er stiehlt schon einmal seiner erwachsenen Tochter den Mitgliedsausweis der Kommunistischen Partei, um sie beim FBI anzuschwärzen. An anderer Stelle sitzt eben diese Tochter mit den einzigen anderen örtlichen Kommunisten – Arbeitsmigranten aus Finnland – in dessen Haus und spricht über die, wie Faulkner lakonisch ausführt, “emancipation of man from his tragedy, the liberation at last and forever from pain and hunger and injustice, of the human condition,” only two doors away from Flem, “the capitalist himself who owned the parlor and the house, the very circumambience they dreamed in, who had begun life as a nihilist and then softened into a mere anarchist and now was not only a conservative but a tory too: a pillar, rock-fixed, of things as they are” (Egloff 2020, 41-42).

Doch auch Cousin Mink steht Flem in Eigentümlichkeit kaum nach, wenn er auf seiner Vendetta über Memphis nach Jefferson ein sehr persönliches und intuitives, doch immer moralisches Prinzip vertritt und motivisch sowohl in Kontrast als auch in Nähe zum Cousin gerät. Wie Faulkner diese und andere Widersprüchlichkeiten mit Mitteln von Bewusstseinsstrom, Sprache, Bildern darstellt, ist kunstvoll, avantgardistisch, mitunter schwierig zu lesen, aber nicht unlesbar. Wir haben es mit drastischen Charakteren, Konstellationen und Situationen zu tun, und wie Faulkner diese vorbringt, entspricht ganz seiner Eigenart: sotto voce.

Southern Gothic

Zum literarhistorischen Kontext: Die ´Southern Renaissance´ in den USA der 1920er und 1930er Jahre, aus der ab der Nachkriegszeit die als ´Southern Gothic´ bezeichnete, sehr populäre Stilrichtung hervorging, begründet einen nahezu neuen Typus nicht nur schrulliger , sondern auch mysteriöser, manchmal grotesker Charaktere. ´Southern Gothic´ hat längst Einzug in die Alltagskultur gehalten, dies nicht nur in den USA. Autorinnen wie Flannery O´Connor und Katherine Anne Porter gehören gewiss dazu, wie auch Cormac McCarthy, dessen Werke erst in den 1990er Jahren bekannt wurden, diesem aber zu einem rasanten Publikumserfolg verhalfen. Einige seiner Werke dürften mittlerweile auch einem größeren deutschen Publikum bekannt sein.

Faulkners Verarbeitung des Übergangs von viktorianischer Vergangenheit zu kommender Moderne bedeutet eben auch Charaktere in ihren Verwerfungen und ihrer Orientierungslosigkeit zu zeichnen, dies in Zeiten von Umbrüchen (Egloff 2017), die heutzutage geradezu zum Normalfall werden. Die umgreifende Diagnose ist die des Niedergangs von Strukturen. Damit erscheint das zweite zentrale Thema Faulkners, die innere Ortlosigkeit. Wenn Faulkner anhand der Brüchigkeit überlieferter Strukturen darstellt, wie Menschen vor Herausforderungen bezüglich ihres Selbstverständnisses gestellt werden, ist zu sehen, dass hier eine motivische Nähe hinein in die Postmoderne reicht, zu Autoren wie Bret Easton Ellis oder Don DeLillo. Dies zeigt sich z.B. in Ellis´ Roman „Lunar Park“ (Ellis 2005), in dem die Ortlosigkeit auf verschiedenen inhaltlichen und formalen Ebenen deutlich wird, wie die Literaturwissenschaftlerin Alison Lutton eindrucksvoll herausgearbeitet hat (Lutton 2012). „Lunar Park“ wartet dabei mit unerwartet traditionell-erzählerischer Kraft auf, die kaum noch mit dem ´minimal realism´ von Ann Beattie oder Joan Didion zu tun hat. Neben dem epischen Erzählen imponieren zudem – nicht weniger überraschend – für Ellis ungewohnte, teils verstörende ´Southern Gothic´-Elemente. Die innere Ortlosigkeit ist aber auch schon in Ellis´ schmalem, doch grandiosem Erstlingswerk „Less than Zero“ (Ellis 1985) ein zentrales Motiv; die Verbindung von innerer und äußerer Schwierigkeit seinen Ort zu finden, stellt das eigentliche menschliche Drama dar. Und so es ist kein Zufall, dass im Roman des ausgehenden 20. Jahrhunderts nur noch die Lektürehilfe zu Faulkners „As I Lay Dying” auftaucht, das Werk nur noch als Chiffre fungiert.

Was gesellschaftliche Strukturen ordnen sollen, droht sich gerade in der virtuellen Welt der Postmoderne unter dem Regime des Bildmediums aufzulösen, was viele Menschen intuitiv spüren. Die Tendenz zum Eskapismus im Konsumerismus neoliberaler Prägung (Donnelly 2018) lässt die 1980er Jahre fast noch harmlos erscheinen, weil wir es nun noch viel mehr mit der, wie der Amerikanist Heinz Ickstadt in Übereinkunft mit den entscheidenden Traditionslinien der Kritik festhält, „Verdrängung des Realen durch das Bild des Realen“ (Ickstadt 1998, 158) zu tun haben. Was bei Ellis also schillernd-postmodern, virtuell wird, ist bei Faulkner (noch) im Realen zu finden, als facettenreicher Kampf zwischen menschlicher Natur und Kultur.

Die Überschätzung des Rationalen

Wie schon Freud wusste, ist das, was wir Ich nennen, keineswegs Herr im Hause. Doch die Überschätzung des Rationalen ist heute wieder überall vorzufinden, auch und gerade in Politik, Wissenschaft, aber gewiss auch beim Einzelnen. Während Trieb und Begehren zwar als halbwegs anerkannte Kategorien gelten, treten deren Problematiken unter verschärften gesellschaftlichen Bedingungen offen zutage, wenn nämlich Strukturen als Rahmen gebende Orientierungspunkte sich auflösen. Jene Vernunftorientierung, die teils zu Vernunftgläubigkeit werden kann, läuft dann Gefahr – z.B. in Verbindung mit dem deutschen Idealismus –, eine merkwürdige Melange von (einerseits notwendiger) Weltverbesserung und (andererseits überbordender) Realitätsentsagung einzugehen.

Neben dem oben genannten, weit über tausend Seiten starken Spätwerk existieren noch etliche Klassiker der Moderne aus Faulkners früheren Schaffensphasen, von denen „The Sound and the Fury“ („Schall und Wahn“, erschienen 1929; Faulkner 2011) auch heute auf vielen Prüfungslisten der Geisteswissenschaften an deutschen Universitäten steht. Das nicht leicht zu lesende Werk ist immer noch ein Meilenstein des erzählerischen Bewusstseinsstroms. Und auch wenn es etwas ruhiger wurde: die Faulkner-Forschung blüht seit Jahrzehnten mit immer wieder neuen und ertragreichen Zugängen. Nicht nur in den USA, mit regelmäßigen Faulkner-Konferenzen in Mississippi und Missouri, sondern auch in Großbritannien, oder an deutschsprachigen Unis. Die Universität Straßburg stellte übrigens mit dem Lehrstuhl von André Bleikasten über Jahrzehnte hinweg eine Art europäischen Knotenpunkt der Faulkner- Forschung dar (Bleikasten 2017).

Faulkner, der im September 125 Jahre alt geworden wäre, hat also Spuren hinterlassen, die bis weit in die heutige Zeit hineinreichen und die mit unserer ganz konkreten Lebenswelt zu tun haben. Mittlerweile haben schräge Charaktere in Film und Fernsehen zudem geradezu eine gewisse Normalität erreicht – deren wohlkalkulierte Darstellung sich allerdings wie so oft von den Inhalten abzulösen droht. Mindestens aber dann, wenn in US-Filmen oder sonstigen Werken – nicht nur über die Südstaaten – merkwürdige Figuren auftauchen, vom Commis bis zum Schrat, kann man dies getrost als ´Southern Gothic´-Referenz lesen – wenn nicht gar als Verweis auf einen dieser zahlreichen Charaktere in Faulkners Oeuvre.

 

 

Literaturhinweise:

Bergson, H. (1994). Zeit und Freiheit. EVA, Hamburg.

Bergson, H. (1991). Materie und Gedächtnis. Felix Meiner, Hamburg.

Bleikasten, A. (2017). William Faulkner. A Life through Novels. Indiana University Press, Bloomington.

Britten, U. (2022). William Faulkner (1897-1962): Es war Notwehr! Deutsches Ärzteblatt PP 21, 7, 333-334.

Donnelly, A.M. (2018). Subverting Mainstream Narratives in the Reagan Era. Palgrave Macmillan, New York.

Egloff, G. (2020). William Faulkner, Snopes (1940, 1957, 1959). In: Egloff, G. Culture and Psyche – Lecture Notes for the Liberal Arts. Lambert, Beau Bassin, 31-60.

Egloff, G. (2017). Die Autobiographie von Alice B. Toklas – Gertrude Stein aus der Sicht von Alice B. Toklas aus der Sicht von Gertrude Stein. dap-hamburg.de, Dez. 2017.

Ellis, B.E. (2005). Lunar Park. Alfred A. Knopf, New York.

Ellis, B.E. (1985). Less than Zero. Simon & Schuster, New York.

Faulkner, W. (2011). The Sound and the Fury. Knopf Doubleday, New York.

Faulkner, W. (1994). Snopes. The Hamlet, The Town, The Mansion. Random House, New York.

Fellmann, F. (1996). Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert. Rowohlt, Reinbek.

Ickstadt, H. (1998). Der amerikanische Roman im 20. Jahrhundert – Transformation des Mimetischen. Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt.

Lutton, A. (2012). East is (not) East: the Strange Authorial Psychogeography of Bret Easton Ellis. 49th Parallel 28, 1, 1-30.

Sowder, W.L. (1991). Existential-Phenomenological Readings on Faulkner. University of Central Arkansas Press, Conway.

Squire, L., Kandel, E. (2009). Gedächtnis – die Natur des Erinnerns. Spektrum, Heidelberg.

 

Alexandra – eine legendäre Sängerin

Portraitfoto der Sängerin Alexandra. Ostern 1969 in München. Privatfoto von Marleen Zaus.

In diesem Jahr würde die beliebte Sängerin Alexandra ihren 80. Geburtstag feiern. Bekanntheit erreichte Alexandra mit Titeln wie „Sehnsucht“, „Mein Freund der Baum“ und ihrem bekanntesten Hit  „Zigeunerjunge“.

Zur großen Trauer ihrer Fangemeinde wurde der kometenhafte Aufstieg der gebürtigen Memelländerin jedoch am 31. Juli 1969 auf einer  Urlaubsfahrt nach Sylt bei einem Verkehrsunfall im schleswig-holsteinischen Tellingstedt jäh beendet. Sie starb mit nur 27 Jahren.

Höhen und Tiefen einer kurzen Karriere

Ihr Leben war geprägt von Erfolgen, aber auch herben Enttäuschungen. Alexandra kam als Doris Treitz 1942 in Heydekrug zur Welt, und nur zwei Jahre später musste die Familie aus Ostpreußen fliehen. Als der Vater aus dem Krieg zurückkam, fand die Sängerin mit den Eltern und ihren beiden Schwestern in Kiel eine Bleibe.

Alexandra lebte von 1946-1961 in Kiel. Zu Ehren der Sängerin wurde eine Grünfläche im Stadtteil Ravensberg nach ihr benannt. Foto: Ulrike Gaate

Schon während der Schulzeit stellte sie ihr musikalisches und schauspielerisches Talent unter Beweis. Bevor sie sich diesem widmen konnte, bestand der Vater jedoch auf einer bodenständigen Ausbildung. So begann sie eine Grafiker-Lehre.
Nach der Scheidung der Eltern zog die Mutter mit ihren Töchtern nach Hamburg, der Wiege des späteren Erfolgs ihrer Jüngsten. Dort lernte Alexandra den 30 Jahre älteren Russen Nikolaj Nefedov kennen, den sie zum Entsetzen ihrer Familie heiratete. Aus der Ehe ging der Sohn Alexander hervor.

Von Plattenproduzent Fred Weyrich entdeckt
Alexandra wohnte u.a. in diesem Kieler Haus im Knooper Weg 163. Foto: Ulrike Gaate

Die ehrgeizige und durchsetzungsstarke, junge Frau strebte jedoch weder Heim noch Herd an, sondern sie wollte singen und Schauspielerin werden. Bei einer Veranstaltung ihres Chefs, des Verlegers Alfons Semrau, trat sie als Doris Nefedov mit selbst komponierten Liedern auf. Unter den Gästen war der Plattenproduzent Fred Weyrich, der von dem Ausdruck der russischen Seele in ihren Liedern so begeistert war, dass er sie gleich unter Vertrag nahm. Das war der Auftakt einer ebenso atemberaubenden wie kurzen Karriere. Alexandra wurde, wie es vielen Stars der 1960er Jahre ging, „vermarktet“. Sie hetzte von Termin zu Termin und hatte kaum noch Zeit für ihren Sohn. Dass sie beinahe auf einen Heiratsschwindler hereingefallen wäre, ließ sie misstrauisch gegenüber anderen Menschen werden.

Tragisches Ende
Gedenkstein für die Sängerin Alexandra an der Unfallstelle in Tellingstedt. Die Todeskreuzung gibt es nicht mehr. Nachdem es dort immer wieder zu schweren Unfällen kam, führt inzwischen eine Brücke über die B 203, im Hintergrund zu sehen. Foto: Ulrike Gaate

Sie spürte, dass sie dringend Urlaub benötigte. Die Fahrt mit dem eigenen, selbst gesteuerten Auto von München, wo sie zuletzt lebte, nach Sylt wurde ihr zum Verhängnis. Geblieben sind ihre zu Herzen gehenden melancholischen Lieder und Chansons, die Ende der 60er Jahre wie aus der Zeit gefallen schienen. Ein paar Jahre später wäre ihr als „Liedermacherin“ sicher weiterer Erfolg beschieden gewesen.

Autorin: Manuela Rosenthal-Kappi

„Weißt du eigentlich, dass ich ein Filmstar bin?“

Guy Stern, Foto: privat

Meine Begegnungen mit einem Ritchie Boy extraordinaire
Guy Stern habe ich nur zweimal persönlich getroffen und beide Male mit seiner Frau Susanna. 2013 war es in Detroit und 2018 in Frankfurt/Main. Von ihm gehört hatte ich schon vorher. Mehr mit ihm zu tun bekam ich erst durch die Vorstandsarbeit des P. E. N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland (früher Deutscher Exil-P. E. N.). Guy gehörte dem Vorstand schon längere Zeit an, als ich 2017 dazukam. Seit 2018 ist er unser Präsident.

Das Treffen in Frankfurt ergab sich, als er den Ovid-Preis, den er im Jahr zuvor erhalten hatte, an die neue Preisträgerin Herta Müller überreichte. In Detroit hatte ich mich selbst bei ihm eingeladen. Ich wollte ihn kennenlernen, und in Michigan habe ich seit 2012 ein Domizil. Wir verbrachten einen halben Tag zusammen, und aus dem Treffen sind mir zwei Dinge in besonderer Erinnerung geblieben.

Als er mich durch das Holocaust-Museum in Detroit führte, dessen Direktor er einst gewesen war, zog ein Exponat meine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Der „Hannoversche Bahnhof“ mit einem alten Eisenbahnwaggon, in dem man zur Nazizeit die Juden in die Vernichtungslager transportiert hatte. Von Hamburg aus, meiner Heimatstadt, die gerade einen neuen Stadtteil, die HafenCity, entwickelte. Hier lag der frühere „Hannoversche Bahnhof“. Alle Parteien in Hamburg wollten dort einen Gedenkort einrichten. Uns – ich war in jener Zeit Mitglied in der Deputation der Kulturbehörde – war zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt, dass es eine ähnliche Gedenkstätte bereits in Detroit gab. Nach meinem Treffen mit Guy informierte ich meine Kollegen und stellte auch den Kontakt zwischen den zuständigen Personen in Hamburg und Detroit her.

Guy Stern (r.) und Gino Leineweber, Foto: privat

Außerdem werde ich nicht vergessen, wie mich Guy mit einem spitzbübischen Lächeln fragte: „Weißt du eigentlich, dass ich ein Filmstar bin?“ Ich wusste es nicht, war sehr erstaunt und erfuhr, dass es einen Film von 2004 mit dem Titel The Ritchie Boys gibt, in dem er mitgewirkt hatte. Er schenkte mir zum Abschied eine DVD davon, auf deren Cover neben anderen auch er als „Ritchie Boy“ abgebildet ist.

Der Titel trägt den Namen einer Einheit amerikanischer Soldaten im II. Weltkrieg, die im Camp Ritchie in Maryland ausgebildet wurden. Darunter viele deutsche Juden, die in die USA geflüchtet waren. Ihre Aufgabe war es, ihre Kenntnisse der deutschen Sprache und Kultur im Kampf gegen die Nazis zu nutzen, und sie wurden nach der Invasion als Geheimwaffe vor allem für Verhöre von Gefangenen an der Front und zur Spionageabwehr in Europa eingesetzt. Guy Stern war einer von ihnen.

Er war auch einer von drei „Ritchie Boys“, die in der bekannten CBS-Sendung „60 Minutes“ am 9. Mai 2021 zu Wort kamen und in der sie und ihre frühere Einheit für die Effektivität ihrer Arbeit gerühmt wurden: Sie hätten Leben gerettet und man müsse sie als Helden bezeichnen, hieß es.

Guy zu sehen und ihm zuzuhören ist immer eine Bereicherung, wie mir aus den Treffen und vielen Internet-Meetings vertraut ist. Bei CBS wirkte er trotz seiner 99 Jahre mit seiner freundlichen und offenen Art fast jugendlich. Die Sendung führte mich in einen Teil seiner Vergangenheit, der sehr bedeutend für ihn gewesen war. Und wieder sind es zwei Dinge, an die ich seither zurückdenke.

Seinen Eltern war aus finanziellen Gründen nur möglich, eine Person in die USA ausreisen zu lassen, und sie entschieden sich für den ältesten Sohn. Günther, wie er damals noch hieß. Er hat danach weder sie noch seine Geschwister und Großeltern je wiedergesehen. Seine Antwort auf die Frage, was er vom Abschied von seinen Eltern in Erinnerung behalten habe, hat mich gefühlsmäßig stark berührt. Sie bestand aus einem Wort: Taschentücher!

Guy Stern, Foto: Susanna Piontek

Vergessen werde ich auch nicht, was er dabei empfindet, als einziger der Familie überlebt zu haben. Dazu sagte er: „Wenn du gerettet wurdest, sagte ich mir, musst du zeigen, dass du dessen würdig bist. Und das war die treibende Kraft in meinem Berufsleben.“

Im Film The Ritchie Boys gibt es eine Szene, in der Guy mit seinem alten Kameraden Fred Howard im Fond eines Autos sitzt, auf dem Weg zum früheren Camp Ritchie. Während Guy schon glaubt, die Gegend zu erkennen, sagt Fred, das könne auch Texas sein. Sie kabbeln sich ein wenig, bis Fred sagt: „Imagine. You see already the Blue Mountains. –  Guy, you are the best.“

Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

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(Dieser Artikel erschien zuerst in „Von der Exilerfahrung zur Exilforschung: Zum Jahrhundertleben eines transatlantischen Brückenbauers. Festschrift zu Ehren von Guy Stern“ von Frederick A. Lubich (Herausgeber), Marlen Eckl (Herausgeber), 738 Seiten, Deutsch, Englisch, Französisch, 48 Euro, Verlag Königshausen u. Neumann, Januar 2022

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