Welche Wahl lässt uns die Krise?

Von Renate Gandor

Ein Essay

Krise? Welche Krise? Pessimisten, Optimisten, Realisten resümieren. Sind wir nur Schaufensterpuppen?

Pessimisten sagen, was Pessimisten schon immer gesagt haben, die Welt stehe kurz vor dem Kollaps – Krise hin, Krise her.

Optimisten sagen, was auch Optimisten immer gesagt haben, cool bleiben. Krise hin, Krise her, es gebe immer eine Wahl, auch wenn nur zwischen Pest und Cholera.

Realisten sagen, die Welt sei nun mal so. Pest oder Cholera, es gebe leider keine Wahl. Das Leben ende in jedem Fall tödlich.

Ich würde sagen, das Leben endet zwar tödlich, aber man stirbt nur ein Mal. An der Weltwirtschaftskrise werden wir sicher nicht alle untergehen, eher an der Umweltkatastrophe, am besagten Kollaps, aber darüber wird seit der Krise geschwiegen, als wäre diese Gefahr bereits gebannt. Es ist gut möglich, dass wir am schlechten Gewissen sterben, wenn nicht bald die wirklich Schuldigen, die Verursacher der großen Krise zu Rechenschaft gezogen werden, und wir nicht bald von der Verantwortung frei gesprochen werden, die man uns aufgezwungen hat, als wären wir, als wäre jeder einzelne von uns an dieser Krise schuld. Sicher sind wir nicht ganz unschuldig, zumindest hat man es uns eingeredet. Es sei gierig, sagte man, fünf Prozent Zinsen auf dem Sparbuch, oder auf sonst welchen Papieren haben zu wollen, als nur zwei. Aber sind wir deswegen schon verdächtigt? Die wirklich Schuldigen sitzen auf einer ganz anderen Etage, auf hohen Roßen, das wissen doch alle, und da geht es nicht um läppische fünf Prozent, sondern um 25 oder auch mehr. Ich höre schon das höhnische Gelächter von oben. Die Krise hatte sie nicht bescheidener, nicht demütiger werden lassen. Im Gegenteil. Nach den neuesten Auskünften ‚drehen Banken wieder das große Rad’, was auch immer das heißen mag. Ich denke, sie verdienen sich dabei mittlerweile wieder nur goldene Nasen.

Pessimisten sagen, wir führen ‚ohne Bremse an die Wand’, und die Chancen, dass wir unbeschadet daraus kämen, stünden schlecht. Das System sei faul und die Luft raus.

Optimisten sagen, die Luft sei zwar raus, die Politiker würden aber ‚einen Kapitalismus ohne Spekulationsexzesse schaffen’ und den Bankern wieder Moral beibringen. Sie vertrauen darauf, dass sich ‚das ethische Fundament des Kapitalismus’ erneuern ließe, ohne gleich das ganze System in Frage zu stellen.

Realisten sagen, dass wir nur dann vor weiteren ‚Banküberfällen’ geschützt würden, wenn wir aus der Krise lernten, das heißt, wenn die Politik einen starken Ordnungsrahmen schaffte und einige der Marktwirtschaft entsprechende Eigenkapitalvorschriften konsequent beschließe und sich nicht weiter über den Tisch ziehen lasse.

Meine Vorstellung von einer gerechten freien demokratischen Gesellschaft ist stark idealisiert. Ich denke nämlich, dass wir uns mit den Schwächeren, die es immer und in jeder Gesellschaft gibt, solidarisch erklären, dass wir eine solidarische Verpflichtung ihnen gegenüber eingehen müssten. Solidarität und Mitgefühl würde einige Probleme aus der Welt schaffen, die künstlich erzeugt wurden. Und wir würden plötzlich feststellen, wie frei, wie leicht das Leben sein kann, frei von Zwang, frei von Neid, einfach großartig.

Pessimisten würden darauf den Kopf kräftig schütteln. So viel Naivität, würden sie sagen, sei nicht zu ertragen. Der Finanzkapitalismus sei kein Kätzchen, sondern ein Raubtier, welches  mit zarten Worten oder Streicheleinheiten nicht zu bezähmen sei.

Auch die Optimisten würden den Kopf schütteln, aber aus einem ganz anderen Grund. Naivität sei nicht das Thema, würden sie den Pessimisten entgegnen. Nicht das fehlende Mitgefühl sei das Problem, nicht die mangelnde Solidarität. Vielmehr ist es Ignoranz, Arroganz und Inkompetenz, die sich auf der politischen wie auch wirtschaftlichen Ebene etabliert hätten.

Realisten haben wie immer ganz andere Probleme: Die Verteilungsdebatte, die immer weiter auseinander klaffende Schere zwischen Arm und Reich. Sie sagen, es sei tatsächlich etwas faul in einem System, das so etwas zulässt. Die Krise biete nun die Gelegenheit, das zu korrigieren. Aber es ist etwas ganz anderes, was den Realisten Kopfzerbrechen macht. Sie fragen sich, woran das liegen mag, dass die geschröpften Bürger, selbst in der größten Systemkrise, nicht um ihre Rechte kämpften? Sie verstehen nicht, warum ‚die Bundesbürger wenig Angst vor der Krise haben, und kein anderes System, keine andere Wirtschaftsordnung  wünschen’.

Mir sind alle Vorschläge willkommen, sobald der Mensch, besonders der Benachteiligte, sobald seine Interessen im Vordergrund stehen. Der Staat, die Regierung, die Wirtschaft, die Industrie und die Banken haben einzig dann eine Berechtigung zu existieren, wenn sie im Sinne seiner Bürger, das heißt seines Souveräns zu seinem Wohl dienend tätig sind. Denn sie sind nur Dienstleistende, doch das vergessen sie, oder verdrängen. Sie haben die Herrschaftsstrukturen im Staat willkürlich umgekrempelt und den Bürger zum Untertanen gesprochen.

Die Krise birgt nun die Chance, alles zu korrigieren, was im Namen des Menschen falsch gemacht wurde. Man könnte endlich, wieder Ordnung im Staat herstellen, für eine Gleichberechtigung aller Bürger sorgen, damit jeder auf seine Kosten komme und keiner übermäßig übervorteilt oder benachteiligt würde. Kopfzerbrechen macht allerdings auch mir die Ruhe im ganzen Land, als hätten alle den Bezug zur Realität verloren, aber zumindest zu den großen Themen der Zeit. Die Krise hat die Welt, die Weltwirtschaftsordnung erschüttet und führt uns in eine Depression, und wir vertrauen immer noch auf die Politik und die Wirtschaft, als hätte man uns, Bewusstseins – Veränderungspillen verabreicht. Eine andere Erklärung finde ich beim besten Willen nicht. Denn dumm sind die Menschen ja nicht.

Pessimisten enthalten sich nun weiterer Kommentare. Sie wissen nicht, ob sie ‚eine Neuordnung für den Markt oder die Enteignung der Kapitalisten’ wünschten, denn ‚die sozialistischen Systeme von gestern seien ja keine Alternative.’ Sie fragen zwar, wie der Kapitalismus nach seiner größten Krise aussehen könnte, aber dabei lassen sie es bewenden. Nur nicht zu viele Fragen stellen. Wer weiß, wohin sie hinführen würden, und mit welchen Konsequenzen sie zu rechnen hätten.

Optimisten würden zwar die alte Wirtschaftsordnung in Frage stellen. Den Stab würden sie allerdings gerne den Realisten übergeben. Die persönliche Verantwortung wäre ihnen doch zu groß.

Realisten würden auch, eine tiefer greifende Frage nicht scheuen, nämlich ob ‚wir nun alle jetzt Sozialisten’ wären? Denn sie seien sich der Realität logischerweise durchaus  bewusst. Der Weltzustand sei grundlegend geändert worden, also seien auch grundlegende Veränderungen notwendig. Der alte Kapitalismus habe abgewirtschaftet, eine neue Version wäre angesagt. ‚Ein Schuss Kommunismus würde dem Kapitalismus nicht schaden’, zitieren sie mutig den Sprengmeister des Denkens Slavoj Zizek.

Zum Schluss möchte ich den großen polnischen Philosophen Leszek Kolakowski zitieren, der sagte: ‚Heute fürchten wir den Kommunismus nicht mehr.’ Kolakowski fürchtete nur ein System, in dem Menschen zu Subjekten  würden. Ich würde diesen Gedanken noch erweitern: zu willenslosen manipulierbaren Marionetten; denn wenn wir weiterhin darauf vertrauen, dass uns die Krise eine Chance lässt, statt selber Initiative zu ergreifen und gegen die Umstände zu rebellieren, sind wir dann nicht doch nichts weiter als Schaufensterpuppen?