Nach den Masken – Lesungen an literarischen Orten

Foto: Pixabay, Bearbeitung DAP

Autorinnen und Autoren des Hamburger Schriftstellerverbandes (VS) lesen aus Werken an Orten der literarischen Erinnerung in Hamburg

Mit sechs Lesungen an Orten, die an berühmte Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Hamburg erinnern, wollen Hamburger Autorinnen und Autoren einen Bogen zwischen Gestern und Heute knüpfen. Zeigen wollen wir die schriftstellerische Kontinuität in der Stadt.

Bei jeder Veranstaltung lesen drei Autorinnen und Autoren aus ihren Werken und sprechen über ihre Beziehung zu dem verstorbenen, mit dem Leseort verbundenen Autor.

Der Eintritt ist frei.

Termine und Orte:

Sa., 6. Mai 2023, 14 Uhr
Wolfgang-Borchert-Park, Eppendorf
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Es lesen: Christine Sterly-Paulsen, Margret Silvester, Frank Scheerer
Moderation: Esther Kaufmann

So., 7. Mai 2023, 14 Uhr
Ralph-Giordano-Stele auf dem Ohlsdorfer Friedhof
Einfahrt Bramfeld, Bramfelder Chaussee
Ehrenanlage Geschwister-Scholl-Stiftung BO73–BN73
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Es lesen: Karsten Lieberam-Schmidt, Christina Oskui, Vera Rosenbusch
Moderation: Reimer Eilers

Sa., 13. Mai 2023, 14 Uhr
Beim Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof, Wiese am Wasserturm/Bushaltestelle, O27–P27
_https://www.friedhof-hamburg.de/fileadmin/Ablage/Downloads/parkplan-ohlsdorf/plan-parkfriedhof-ohlsdorf.pdf <https://www.friedhof-hamburg.de/fileadmin/Ablage/Downloads/parkplan-ohlsdorf/plan-parkfriedhof-ohlsdorf.pdf>_
Es lesen: Ruth Frobeen, Klaus Jensen, Esther Kaufmann
Moderation: Margret Silvester

So., 14. Mai 2023, 14 Uhr
Grabmal von Friedrich-Gottlieb Klopstock
vor der Christianskirche, Klopstockplatz 1, 22765 Hamburg
Es lesen: Lutz Flörke, Sven J. Olsson, Cordula Scheel
Moderation: Vera Rosenbusch

Sa., 20. Mai 2023, 14 Uhr
Matthias-Claudius-Denkmal, Robert Schumann-Brücke /Ecke Wandsbeker Marktstraße
Es lesen: Reimer Eilers, Anja Gust, Maren Schönfeld
Moderation: Margret Silvester

So., 21. Mai 2023, 14 Uhr
Kunstforum der GEDOK, Koppel 66, 20099 Hamburg
Es lesen: Hartmut Höhne, Angelika Oppenheimer, Birgit Rabisch
Moderation: Christine Sterly-Paulsen
Kurzfristige Änderungen sind möglich.

Die Lesereihe wird gefördert von „Neustart Kultur“.

Mit Magellan – historischer Roman von Reimer Boy Eilers

Buchcover „Mit Magellan“, Reimer Boy Eilers

Ein Gastbeitrag von Jakob Krajewsky

Es ist vielleicht die Suche seines Selbst, die Präsenz des Alter Egos, in dem präzise und sorgfältig recherchierten ersten Band der Trilogie: „Mit Magellan – Die Ausfahrt – Vom Hilligen Eiland nach Sevilla“ des Hamburger Autors Reimer Eilers. Überhaupt haben die einst ruhm- und siegreichen Entdecker wie Magellan, Kolumbus, Vespucci & Co., damals unterwegs mit dem Nimbus des Lichtträgers der abendländischen Zivilisation, im 21. Jahrhundert sehr im Zuge der Debatten um Kolonialismus und Postkolonialismus an Ansehen gelitten. Waren sie nicht einfach nur gierige Europäer, verkrachte Existenzen auf der Suche nach Gold und Ruhm im Auftrag ihrer Majestäten und Despoten? Oder sind sie heilige, weitsichtige Männer mit großer Überzeugungskraft und nötigem Sendungsbewusstsein gewesen, die die Dogmen der Kirche infrage stellten, die Erde sei eine Scheibe? Was suchten sie? Macht? Freiheit? Reichtum? Die Kapitäne, Hasardeure und Entrepreneure riskierten angesichts der Inquisition und der Gefahren auf See und im unbekannten Land ihre Gesundheit, ihr Leben und das ihrer Mannschaft. Was waren das für tollkühne verzweifelte oder schanghaite Männer, die mit den berühmt-berüchtigten und z.T. verrückten Entdeckern auf See waren? Nach Brecht‘scher Art stellt Eilers hier das Leben des kleinen Mannes im ganz großen Getriebe der Weltgeschichte dar.

Aufbruch in wortgewaltigen Erzählwelten über die erste Weltumsegelung.

In bester erzählerischer Manier und stilvoller, fein gesetzter Sprache, dann auch wieder in derb und großkotziger Rede, imaginiert Eilers beredt die Geschichte eines einfachen Helgoländer Seemanns, der auf ungewöhnliche Weise an Deck von Magellans Schiff in Sevilla geriet. Magellan ist Portugiese und wird von der eigenen Krone für seine Ideen eine Passage westwärts nach Indien zu finden verlacht. Dann wendet er sich den spanischen Hoheiten zu und findet endlich Gehör. Er gilt allerdings auch dort bei Hofe als Verräter und wird trotzdem losgeschickt auf die wilde Reise, die er selbst z.T. mitfinanzieren muss. Im August 1519 brach Magellan mit einer Flotte von fünf Schiffen von Sevilla auf. Die Handlung des Romans spielt in mittelalterlich anmutendem Gehabe der geschilderten Figuren, in einer Ära, die schon eine neue Zeit mit Blick auf völlig neue Welten einleitet. Eben durch den Buchdruck, die Erfindung des Protestantismus‘ und die Entdeckung der Neuen Welt über neue, unbekannte Seewege manifestiert sich das, was sich historisch gesehen als Neuzeit ausweist.

Alte Bekannte

Wer Eilers‘ Helgoland-Saga gelesen hat, trifft auf alte Bekannte. Es erscheinen der Hauptprotagonist Pay Edel Edlefsen, sowie Esquimeaux aus Grönland, auch als John Quivitoq McLoud bekannt, ganz simpel Quivitoq genannt, er ist der Busenfreund von Pay, sowie der Herr Nurredin al Gharb, den Pay sehr liebte. Dieser Herr Magister ist ein getaufter Maure mit kolossalem Weltwissen, der heimlich noch seinen alten Bräuchen huldigt und dem die gesellschaftliche Anerkennung in Sevilla versagt bleibt. Und auch die uns schon bekannte Jungfer Peerke wird immer wieder im Gedankenstrom des Pay Edel als seine geliebte Seemannsbraut, verblieben auf Helgoland, direkt angesprochen. Heimat bleibt verbindlich, nur nicht den Roten Felsen aus den Augen verlieren!
„Zu Hause hat es mich nie beunruhigt, die Verhältnisse jenseits der See zu missen. Es ist ein Kennzeichen der Heimat, dass sie den Menschen gut aufbewahrt und er gar nicht so viele Dinge zu wissen braucht, die wenigen aber gründlich.“ (S.182)

Wir tauchen ein in diese Welt der zuweilen rauen Seeleute, reisen mit Pay Edel, der wie der Autor Eilers selbst vom Hilligen Lande (Helgoland) stammt und Fischersmann Sohn ist, über Amsterdam nach Sevilla und gehen (fast) auf große Fahrt in die Neue Welt. Eine oft humoresque geschilderte Welt mit neuartiger Kosmologie und der Erkenntnis hochwohlgeborener Señores – die Erde sei gar eine Kugel, keine Scheibe – zwischen Glauben und Aberglauben und bunten Seemannsgeschichten sowie philosophischen Einsichten tut sich auf.
„Wie heilsam ist der Schlaf, wie lobesam ist seine Speise und Verheißung. Traum und Erquickung. Die Seele füllt den Leib des Menschen aus, aber in der Stunde, da der Mensch schläft, steigt sie zum Himmel und schöpft von oben.“ (S. 280)

Nicht alles sei verraten, nur so viel: in Amsterdam werden Pay und Quivitoq schanghait. Herrlich auch die Szenen aus dem Schankraum, bei den Gerberkuhlen und aus dem Badehaus dort. Die Lesenden lernen spielerisch manches über das maritime Gewerbe und alte Kulturtechniken, wie etwa ein Wundpflaster gefertigt, oder gelesen und mit Federkiel geschrieben wurde. Zudem werden die siegreiche und furchterregenden Schwarzen Schiffe der Spanische Armada erwähnt, und auch Spaniens König Karl als Weltenherrscher sowie Don Fernando Magellan werden alsbald eingeführt. In Sevilla angekommen, werden Pay und Quivitoq von einem Edelmann für die Heuer auf Magellans Schiffen für die Seereise in die neue Welt zwangsverpflichtet. Blumige Beschreibungen von Szenerien in der holländischen Hafenstadt und des burlesken Lebens im vornehmen Sevilla sowie diverse amouröse Einlassungen in den Hafenstädten sind des Autors Plaisir.
„Die Stadt war vollgestopft mit Abenteurern und Astrologen, mit Damen und Dieben, mit Händlern und Handwerkern, mit Bettlern und Bankiers, Edelleuten und ehrbaren Kaufleuten, mit Lahmen wie mit Laufburschen, Mönchen und Mägden, mit Landratten, Sesselfurzern und dann wieder mit Seeleuten wie uns.“ (S. 304)

Der erste von drei Bänden

Das Buch ist der erste von drei Bänden mit dutzenden Kapiteln, die immer mit skurrilen Aphorismen und Moritaten, u.a. von Hartman von Aue Zitaten, sowie oft mit kleinen Bildern und Miniaturen eingeleitet werden. Eilers ironisiert und dekonstruiert seine eigene Schreibtechnik und macht dieses zuweilen als ‚Beifang‘ kunstvoll präsent. Flaggenstreit, Mordkomplotte der Kapitäne Magellans, Rufmord, dominikanische Inquisitoren und Spione an Bord – Eilers liefert hier einen gewagten Mix aus historischen Ereignissen und imaginierten Momenten.

Das Buchcover zeigt welliges Meer mit einem antiken Globus dahinter, der untergeht und einer stolzen Caravela davor. Vermutlich ist es Magellans Flaggschiff Trinidad, die einsam den anderen vier Schiffen, die nicht in Sicht sind, vorausfährt. Diese Frontseite erscheint prophetisch wie ein Menetekel über den Zustand unserer heutigen Welt. Don Fernando hatte mit teuflischem Mut, bestem Kartenmaterial und seemännischer Geschicklichkeit um Feuerland herum die maritime Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik, die nach ihm benannte Magellanstrasse, als Durchfahrt gefunden. Das bleibt eine großartige kulturelle Leistung von weltgeschichtlicher Bedeutung.

Auf dem Kamm einer populären Welle

Reimer Eilers befindet sich mit seinem historischen Roman über den Weltumsegler Magellan gerade auf dem Kamm einer populären Welle, um über die Deutungshoheit der einst glorifizierten Entdecker zu reflektieren. Hätten sie doch bloß nicht entdeckt, was sie damals entdeckt haben, mögen manche heute geradezu blasphemisch denken. Doch diese Frage stellt sich nun nicht mehr. Es macht einfach großen Spaß, sich mit den Erzählströmen durch die Wortkaskaden des wortgewaltigen Erzählers und durch das Erleben seiner vitalen Protagonisten wie von einem genialen Puppenspieler mitreißen zu lassen. Kunstvoll endet dieser Band mit einem epischen Gedicht über Portugals Zorn. Wir als Lese- und überwiegende Landratten sind nach dieser Lektüre nun schon recht gespannt auf den zweiten Band.

Was uns hätte blühen können

Zur historischen Dystopie „Wenn der Führer wüsste…“ von Heiger Ostertag – Mal angenommen, Hitler hätte den Krieg gewonnen und wir lebten jetzt unter der Regierung seines Enkels Adolf II., der mit vierzig Jahren nach dem Tod seines Vaters Adolf Wolf die Herrschaft übernommen hätte. Den Leuten hat man die Legende erzählt, alle Juden hätten in Madagaskar ihren eigenen Staat bekommen. Die Denkmäler stehen noch, die nationalsozialistischen Werte auch – doch es beginnt zu rumoren. Nächstes Jahr wird eine Revolution angezettelt werden, in deren Folge die Regierung gestürzt werden soll. Finden Sie das schräg? Ist es auch. Aber so gut gemacht, dass es einem bei der Lektüre des Romans kalt den Rücken runterläuft. Nach dem viel beachteten Buch „Die Welle“ von Morton Rhue, das sich mit der Frage befasst, wie so ein Regime wie Hitlers möglich werden konnte, befasst sich „Wenn der Führer wüsste…“ mit einer Möglichkeit von Realität unter einer nationalsozialistischen Herrschaft und dem Aufbegehren der unterdrückten Bevölkerung.

Studentenrevolte unter Adolf II.

Der Studentenführer Rudolf von Bracken und seine Clique sind die Hauptfiguren der Geschichte. Groß geworden mit den nationalsozialistischen Rassegesetzen, sind für ihn die polnischen und russischen Raumpflegerinnen „rassisch minderwertige Arbeitsweiber, die man zumeist nicht wahrnahm oder schlicht übersah“ (S. 15). Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der solche Lebenswirklichkeiten der Romanfiguren erwähnt werden, offenbart die Grausamkeit dieses „Wertesystems“. In Rudolfs Realität sind er und seine Freunde die künftige Reichselite, und das – nach jahrzehntelanger Einprägung dieses Denkens – mit größter Selbstverständlichkeit. Doch während diese künftige Elite zur „neudeutschen Welle“ schwooft, braut sich unter den Studenten ein Aufruhr zusammen. Die strikte Trennung zwischen den unterschiedlichen „Rassen“ weicht auf, die Studenten sind die alten Zöpfe leid, sie wollen sich nicht mehr gängeln lassen. In dieser Aufbruchstimmung kommen Zweifel auf, was das Schicksal der Juden zuzeiten des Zweiten Weltkriegs angeht. Gerüchte kursieren, dass es geheime Akten gäbe. Rudolf und seine Freunde geraten in diese Umbruchzeit und wollen aufklären, was von der Kriegsgeneration der Nazis vertuscht wurde. Wird es ihnen gelingen und wird sich Regierung samt Wertesystem wandeln?

Gar nicht so abwegig …

Heiger Ostertags Roman überzeugt vor allem, weil die Story nicht weit hergeholt erscheint. Hinzu kommen viele kleine sarkastische Einsprengsel vor allem bei den Namen („Hagens Speer“ heißt eine Musikgruppe) oder Bezeichnungen wie „Handfon“ statt Handy. Wen Timur Vermes‘ „Er ist wieder da“ begeistert hat, wird auch an diesem Buch seine Freude und seinen Grusel haben.

Im Anhang erläutert der Autor und Historiker in einer „Historisch-kritischen Nachbetrachtung“ die Hintergründe und Inspirationsquellen, aber auch die Quellen für die eingebauten Fakten der Geschichte. Hier wird deutlich, wie nah an tatsächlichen Begebenheiten oder auch nationalsozialistischen Visionen die Geschichte entwickelt wurde. Das macht den Roman noch beklemmender und zeigt, was uns hätte blühen können, wenn der Zweite Weltkrieg anders ausgegangen wäre.

Dr. Heiger Ostertag (M.A.) gehörte der Luftwaffe an, in der er u. a. eine fliegerische Ausbildung absolvierte. In Freiburg studierte Ostertag Geschichte, Germanistik sowie Nordgermanische Philologie und promovierte mit einem historisch-germanistischen Thema zum Kaiserreich. Seit den 90er Jahren ist Heiger Ostertag als Autor und Historiker in Forschung, Bildung und Lehre sowie als Lektor im Verlagswesen tätig. Die Fachliteratur erschien bei Ullstein, Herder, Rombach und Mittler. Das belletristische Werk wird beim Südwestbuch-Verlag, Gmeiner und im Theiss Verlag/WBV verlegt. Auf der Basis exakter Recherchen und psychologischer Personenprofile entstanden in den 30 Jahren seines Schreibens kontextsituierte Geschichten und zahlreiche Romane von großer Dichte und Spannung.  Unter Pseudonym sind vom Autor weitere brisante Politthriller erschienen. Einige Romane wurden zudem als Hörbuch vertont. Aktuell arbeitet der Schriftsteller am Abschlussband seiner Junker-von-Schack Reihe mit dem Arbeitstitel „Von Austerlitz nach Waterloo“.

Website des Autors: http://www.heigerostertag.de/

Heiger Ostertag: Wenn der Führer wüsste…, Südwestbuch Verlag/SWB Media Entertainment, Calw 2021

Herz schlägt Krieg: Eine Familiengeschichte aus erster Hand

Hilde Niggetiet Foto: privat

Im ersten Teil seiner zweibändigen Familiensaga führt Jörg Krämer seine Leser in die Welt des Bergbaus im Ruhrgebiet im Jahr 1865. Der Bergmann Johannes Biel und seine Frau Wilhelmine leben in sehr einfachen Verhältnissen und mit harter Arbeit. Acht Kinder ziehen sie liebevoll groß und freuen sich an den kleinen Dingen.

Jörg Krämer erzählt die Geschichte handlungsorientiert und direkt, man ist sofort in das Geschehen eingebunden. Faszinierend ist der Einblick in eine untergegangene Welt ohne Handy, Fernsehen und Multimedia, dafür mit Arbeit bis über die eigenen körperlichen und seelischen Grenzen hinweg. Da sitzt die Frau zu Hause und bangt, weil der Bergmann nicht zur gewohnten Zeit erscheint. Heute würde man eben anrufen. Kinder werden nicht zur Schule gefahren, sondern müssen weite Wege zu Fuß zurücklegen. Jüngere Geschwister tragen die Kleidung der älteren auf.

Foto: Pavlofox/Pixabay

Die Geschichte spielt in der Zeitspanne von 1865 bis 2001, auf knapp über 600 Buchseiten in zwei Bänden („Im Schatten von Schlägel und Eisen“ und „Herz schlägt Krieg“, beide im net-Verlag erschienen). Sie konzentriert sich in der Erzählweise vor allem auf den chronologischen Ablauf und die Personen. Bedingt durch die große Familie kommen viele verschiedene Personen vor, was teilweise etwas verwirrend ist. Im zweiten Teil ist am Ende ein Personenverzeichnis eingefügt, das einige Orientierung bietet.

Eigenhändige Aufzeichnungen der Großmutter

Hat Jörg Krämer den ersten Teil in Autorenperspektive als Roman geschrieben, so tritt der Autor im zweiten Teil ganz hinter der Erzählstimme Hilde Niggetiets – seiner Großmutter – zurück. Die Erzählung wechselt in die Ich-Perspektive und einen Tagebuchstil. Das bringt einige Sprünge im Erzählfluss mit sich, die nicht literarisch bearbeitet wurden; womöglich, um den authentischen Bericht der Protagonistin nicht zu verfälschen. Nun hat es durchaus etwas für sich, einen Menschen des Jahrgangs 1910 in seiner eigenen Sprache erzählen zu lassen. Die Ich-Form berührt direkt, vor allem in den schweren Phasen der Armut und des Krieges, und die aus anderen Zeitzeugenberichten bekannten Motive wie Kinderlandverschickung und Hamstertouren werden durch die eigenen Erlebnisse sehr lebendig. Durch Hilde Niggetiets eher sachlich-zurückhaltenden Stil sind einige Szenen besonders verstärkt, wenn sie beispielsweise berichtet, wie ihrer Tochter Edith nach der Zangengeburt des ersten Kindes die Beine zusammengebunden wurden, damit die Nähte nicht rissen.

Mit Blick auf das Positive
Foto: Congerdesign/Pixabay

Berührend ist auch, wie die Erzählerin sich bemüht, möglichst viel Positives zu berichten. Immer wieder kommentiert sie ihre Ausführungen selbst in dem Sinne, dass sie dem Schweren nicht zu viel Raum geben möchte. Eine Haltung, die mich an meine Großeltern (Jahrgang 1920) erinnert. Und wie konnte diese Generation auch anders überleben als durch Verdrängung? Meine Großmutter sagte in schweren Zeiten immer, man solle sich nur Schönes ansehen. Und so ist auch in der Familie des Autors Jörg Krämer der Blick eher auf das Schöne als auf das Schlimme gerichtet, und das bei Schicksalsschlägen, die mir beim Lesen manchmal den Atem verschlagen haben. Irgendwie muss es weitergehen, so ist das Motto, und es geht auch weiter, irgendwie. Männer schuften in der Zeche und leisten sich vielleicht ein bescheidenes Hobby wie die Taubenzucht, Frauen schuften zu Hause, zu Anfang von Krämers Geschichte ohne Waschmaschine und mit Wasser auf dem Kohleherd. In jeder freien Minuten scheinen die Frauen der Familie feinste Handarbeiten herzustellen, denn Schönheit war ihnen durchaus wichtig, und da sie nichts kaufen konnten, stickten, häkelten, nähten und strickten sie eben alles selbst und freuten sich daran. Der Einblick in diese Welt, auch in die Fertigkeiten der Menschen, in das Bemühen um Frieden und liebevolles Miteinander, ist sehr anrührend. Manches Wort, wie z. B. „Gabelarbeit“ (eine Häkeltechnik), musste ich nachschlagen. Nicht nur eine untergegangene Welt, auch untergegangene Worte finden sich in Jörg Krämers Familiensaga.

Gleichwohl birgt die tagebuchartige Erzählweise die Gefahr, dass man als Leser mit einigen Sprüngen zwischen Personen nicht mehr nachkommt. Auch wenn es noch schwieriger gewesen wäre, als es vermutlich ohnehin schon war, so einen langen Zeitraum in zwei Büchern unterzubringen, habe ich teilweise im ersten Teil ein Verweilen bei einzelnen Personen vermisst. Im zweiten Teil wäre es vielleicht einen Versuch wert gewesen, behutsam in den Tagebuchstil einzugreifen und ihn mit romanhaften Verbindungen zu ergänzen; allerdings ist es verständlich, wenn der Autor dies aus Gründen der Authentizität unterlassen hat.

Spannung aus vergangenen Zeiten
Foto: Uki_71/Pixabay

Wie auch immer: Eine spannend erzählte Geschichte ist es allemal, man wird als Leser etwas daraus mitnehmen, sei es die eine oder andere Information, wie man „damals“ und speziell in der Bergbau-Welt – die es wohl bald gar nicht mehr geben wird – gelebt hat; sei es ein Einblick in das Seelenleben einer Generation, die sich mit existenziellen Fragen tagtäglich buchstäblich abarbeiten musste und das Wohl der Familie über alles stellte, was mir beim Betrachten unserer heutigen Gesellschaft durchaus den einen oder anderen Denkimpuls gibt. Jörg Krämer hat ein Zeitzeugendokument geschaffen und dabei seiner Großmutter eine Stimme verliehen. Sie beschreibt an einer Stelle, dass es ihm als Oberschüler an Ehrgeiz gemangelt hätte (S. 239, „Herz schlägt Krieg“). Das muss sich später allerdings gründlich geändert haben, denn ohne Ehrgeiz ist so eine Recherche und Romanarbeit kaum zu bewerkstelligen.

 

Über den Autor:
Jörg Krämer Foto: privat

Jörg Krämer, Autor und Taekwondoin, wurde 1966 in Witten geboren, wo er gemeinsam mit seiner Familie lebt. Die Liebe zum Schreiben entdeckte er durch seinen Hund Odin, über dessen Rasse Germanischer Bärenhund er bereits ein Buch schrieb. Oft spielt in seinen Geschichten ein Germanischer Bärenhund mit.

Jörg Krämers Seite in unserem Online-Magazin

 

Die Familiensaga entstand in der Zeit von 2013 bis 2017 und basiert auf handschriftlichen Aufzeichnungen der Hauptfigur Hilde Niggetiet sowie deren Aufnahmen auf Kassette. Dabei war es Jörg Krämer wichtig, den authentischen Originaltext für die Nachwelt zu erhalten.

 

Odyssee in Südostasien. Wolf-Ulrich Cropp auf Spurensuche

Buchcover (Ausschnitt)

Was tun in dieser bleiernen Zeit? Theater- und Restaurantbesuche nur mit Impfzertifikat oder einem 48-Stunden-Test dürfte in der Tat nicht nach jedermanns Gusto sein. Auch das Reisen in ferne Kontinente ist mit allerlei Unbill verbunden. Wer sitzt schon gern maskiert zehn oder mehr Stunden in einem Flieger, ehe er sein Ziel erreicht. Ehe ich mich ständig diesem Stress unterziehe, greife ich lieber zu einem spannenden Buch, gebe mich dem Zauber exotischer Destinationen hin und lasse mich in unbekannte Regionen entführen. Heute ist „Eine Tigerfrau“ von Wolf-Ulrich Cropp angesagt. Ich lehne mich in meinem Sessel zurück und tauche in die geheimnisvolle Welt Südostasiens ein.

Die Odyssee durch das Goldene Dreieck war nicht geplant. Nach einem längeren Aufenthalt in Afghanistan will der bekannte Autor, Journalist und Weltreisende Wolf-Ulrich Cropp eigentlich nur eine Auszeit in Thailand nehmen. Eine Art Ferien vom Ich. Ausspannen, schwimmen, lesen und die Gegend erkunden. Doch es kommt anders, als die besorgten Eltern eines alten Schulfreundes ihn bitten, nach ihrem Sohn Klaus zu fahnden, der – vom Pfad der Tugend abgekommen – vor Jahren in den Weiten Südostasiens spurlos verschwand.

Spinnbeinige Mangroven und bizarre Kalkfelsen

Wir begleiten den Erzähler auf seiner abenteuerlichen Spurensuche, die in einem thailändischen Dorf hoch über der Andaman-See beginnt. Begeistert zelebriert Cropp die fast überirdische Schönheit der Landschaft: „Zwischen spinnbeinigen Mangroven und bizarren Kalkfelsen, in luftiger Höhe über der See“ hat er das Gefühl, mitten im Ozean zu liegen. Doch dieses wunderschöne Land hat viele Schattenseiten, die der Autor dem Leser nicht vorenthält. Beschreibungen grandioser Panoramen in diesem satt grünen tropischen Paradies wechseln ab mit grausamen Szenen, die sich in den Niederungen der Megacity Bangkok abspielen. Das Kapitel über einen Besuch im berühmt-berüchtigten Bang Kwang Gefängnis – von Zynikern Hotel Hilton Bangkok genannt – geht an die Nieren. Hier sitzen zahlreiche wegen Drogendelikten zu lebenslanger Haft verurteilte Europäer ein, die unter unmenschlichen Bedingungen in Chaos und unbeschreiblichem Dreck dahinvegetieren. Mit Erleichterung stellt Cropp fest, dass Freund Klaus nicht unter den Insassen weilt.

Das buddhistische Kloster Tham Krabok der suchtheilenden Mönche in Thailand

Die Suche geht weiter und entführt den Leser im Laufe der Handlung in die tropische Welt Thailands und Myanmars (früher Burma), in die Tiefen des Regenwaldes und zu den Highlights buddhistischer Baukunst. Der Autor genießt seinen Aufenthalt in vollen Zügen. Er lässt den Leser teilhaben an seiner Begeisterung für atemberaubende Landschaften und berichtet gleichzeitig über Begegnungen mit Einheimischen, die seinen Weg kreuzen. Doch im Garten Eden lauert auch die Schlange. Cropp thematisiert akribisch die dunkle Seite Thailands, wo Drogenbarone das Sagen haben und nur die Prostitution junger Frauen den Familien das Überleben ermöglicht. Das Kontrastprogramm zu diesem Elend findet im berühmten Fünf-Sterne-Luxustempel „Mandarin Oriental“ Bangkok statt, wo der Autor beim Verzehr sündhaft teurer Langustenschwänze einen ortskundigen Geschäftsmann trifft. Dieser gewährt ihm einen Einblick in Thailands Drogenwelt. Mohnanbau, Heroinlabore, Drogenschmuggel, erklärt der, waren gestern. Seitdem Afghanistan als Hauptlieferant für Heroin die Szene beherrscht, haben die Bosse im Urwald Giftküchen installiert, die in zunehmendem Maße Amphetamine produzieren. Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Ob Freund Klaus hier zu finden ist?

Wo ist Klaus?

Heute wenden wir uns der legendären „Brücke am Kwai“ zu. Die älteren Leser werden sich noch an den grandiosen von David Lean in Thailand gedrehten Film mit Alec Guinness in der Hauptrolle erinnern. Guinness spielt darin einen britischen Offizier, der mit seinen Kameraden während des Pazifikkrieges in die Fänge der Japaner gerät und gezwungen wird, eine Eisenbahnbrücke über den Fluss Kwai in Indochina zu bauen. Unvergesslich die Szene, in der die Gefangenen auf ihrem beschwerlichen Weg durch den Dschungel trotzig jene zündende Melodie pfeifen, die sich in den Endfünfzigern monatelang als Nummer eins in den internationalen Charts hielt. Das spannende Kapitel über den Bau, die Zerstörung und schließlich die Rekonstruktion der Brücke ist so anschaulich beschrieben, dass der Leser sich mitten im Geschehen wähnt.

Karenfrau in Nord-Myanmar: Wer schön sein Awill, muss leiden

Bislang gibt es noch immer keine heiße Spur, die auf den Verbleib von Freund Klaus hinweist. Doch Cropp lässt sich nicht entmutigen, sondern forscht unverdrossen weiter. Er lädt zu einer Flussfahrt auf dem Mekong ein, begleitet uns durch den Dschungel und stellt uns jene „Giraffenfrauen“ vor, die mit ihren in Metallreifen gezwängten überlangen Hälsen das weibliche Schönheitsideal Myanmars verkörpern. Schließlich kommt es zu der Begegnung mit „einer Tigerfrau“ namens Sami. Die Titelgeberin des Buches gilt als die Attraktion des Zoos von Bangkok, wo sie sich, Kopf an Kopf mit einem prachtvollen Königstiger, von sensationsgierigen Besuchern ablichten lässt.

Der Autor und haarigste Mönch in seiner Klause des Klosters Tham Krabok

Selbst ein unermüdlicher Geist wie Wolf-Ulrich Cropp benötigt hin und wieder eine Ruhepause. „Im Kloster am Wege beim Mönch ich verweile. Oh, kurze Muße im Leben voll Eile.“ Feng Meng-hung, der Verfasser dieses kurzen Gedichts, war offenbar ein sehr weiser Mann. Ihm will es unser Autor gleichtun. Denn wo entspannt der Mensch sich besser als in der Ruhe und Abgeschiedenheit eines buddhistischen Klosters. In Tham Krabok bezieht der „Novize“ eine karge Zelle und muss sich einem Initiationsritual unterziehen, das es in sich hat. Dem aus zahlreichen Heilpflanzen zusammen gemixten „Cocktail“ – mehr Brechmittel als Getränk – werden tiefenreinigende Kräfte nachgesagt. Cropp trinkt ihn todesmutig und unterwirft sich für mehrere Wochen den strengen Klosterregeln. Chapeau. Geschadet hat ihm diese Erfahrung in kratziger Mönchskutte bei karger Kost offenbar nicht. Ganz im Gegenteil. Sein – Zitat – „tausend Meilen langer Weg zu sich selbst“ hat ihn für sein künftiges Leben gestählt.

Mit dieser Einsicht endet eine grandios erzählte Reportage kreuz und quer durch die magische Welt verklärender Narrative und brutaler Einsichten in menschliche Abgründe. Nur eine Frage bleibt offen. Der geneigte Leser möchte endlich erfahren, ob der Autor auf seiner langen Reise den verschollenen Freund wiedergefunden hat. Darüber aber hier kein Wort. Wer das wissen will, muss „Eine Tigerfrau“ von der ersten bis zur letzten Zeile selbst lesen. Es lohnt sich.

Epilog

Was in sämtlichen Büchern des „globetrottenden“ Autors Wolf-Ulrich Cropp fasziniert, ist seine Fabulierkunst, angereichert mit einem genialischen Wissen über diverse Kulturen, Land, Leute und deren Befindlichkeiten. Der Autor wirft stets einen unverstellten Blick auf alles Fremde. Er versucht sich in andere Sitten und Gebräuche hineinzu“leben“ ohne jemals zu bewerten oder gar zu verurteilen.

Eine große Hilfe für den Leser ist der mehrseitige Abriss über den Buddhismus (Seite 419 ff.). In knapper klarer Form weist Cropp den Leser in die Lehre des Siddharta Gautama ein, der uns besser unter dem Namen Buddha (der Erleuchtete) bekannt ist.

Last but not least: Die zahlreichen vom Autor selbst geschossenen Fotos tragen nicht nur zum Verständnis, sondern auch zum Charme dieses Buches bei.

Buchcover

„Eine Tigerfrau“ von Wolf-Ulrich Cropp, erschienen im Verlag Expeditionen, 415 Seiten, ISBN: 978-3-947911-39-4 Preis: Euro 14,90