Wenn die Mutter fast Gott ist

Titel, Foto: DAP

Die italienische Erstausgabe des Romans „La Madre“ von Grazia Deledda erschien 1920. Genau 95 Jahre später erregte eine Studie aus Israel internationale Aufmerksamkeit, mit dem Begriff #regrettingmotherhood wurde ein Tabu thematisiert: Was, wenn Frauen es bereuen, Mutter geworden zu sein? Eine Entscheidung, die unumkehrbar ist. Eine Diskussion, die das überhöhte und idealisierte Mutterbild ins Wanken brachte. 2022 legte nun der Input-Verlag eine von Ulrike Lemke neu übersetzte Auflage von „Die Mutter“ vor.

 

Zwischen Liebe und Zölibat

Der junge Priester Paolo, von seiner Mutter bis zu deren Selbstaufgabe unterstützt, lebt in einem kleinen italienischen Dorf mit der Mutter unter einem Dach. Ihrer beider Leben läuft in festen Bahnen, die Dorfbewohner schätzen sie. Doch dann verliebt Paolo sich in eine junge Witwe und findet sich im Spannungsdreieck zwischen dieser Liebe, seinem Gelübde und den Ansprüchen seiner Mutter wieder. Denn sie hat ihr Leben nicht aufgegeben, damit er sich nun in Schimpf und Schande in eine Liebe stürzt und sein Priesteramt verliert. Man könnte glauben, dass Paolo hier die Hauptperson ist, aber das Buch trägt den Titel „Die Mutter“ nicht umsonst. Eine Mutter, die aus dem kleinen sardinischen Dorf einst wegzog, um als Dienstmagd ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihrem Sohn die Ausbildung zum Priester zu ermöglichen. Später, zurück in ebenjenem Dorf, nun mit dem erwachsenen Sohn als Priester, lebt sie nur aus dem Stolz auf ihn und der Anerkennung der Dorfbewohner, dem Status als Mutter des Priesters, den alle schätzen und achten. Was hätte sie wohl aus ihrem Leben gemacht, wenn sie kinderlos geblieben wäre?

Was bedeutet es, Mutter zu sein?

Ausschnitt, Foto DAP

Diese Mutter ist mir unheimlich. Natürlich geht es auch um Macht, um Kontrolle, die vermeintliche Aufopferung hat ihren Preis, nicht nur für Paolo, wie sich am Ende des Buchs zeigen wird. Dieser schmale Band aus der Reihe „Perlen der Literatur“ wirft elementare Fragen auf, die mir nachgehen. Ist die Aufopferung einer Mutter so selbstverständlich, wie sie auch in unserer Gesellschaft noch vielfach angenommen wird und die einmal pro Jahr mit dem Muttertag mit großem Medienzirkus gefeiert wird? Wie tief stecken wir noch in alten Rollenbildern? Wie ergeht es einer Mutter, die es bereut, Mutter zu sein? Und was bedeutet es für ein Kind, entweder eine aufopfernde oder eine weniger altruistische Mutter zu haben? Für Paolo ist die Mutter eine Instanz, die so mächtig ist, dass sie mit Gott verschmilzt. Er glaubt, dass die Mutter ein Werkzeug Gottes ist, um dem Sohn die göttliche Weisung zu überbringen, wie er sich in dem Dilemma der Liebe zu der Witwe einerseits und seinem Priesteramt andererseits zu entscheiden hat. Wie diese Entscheidung ausfällt, soll hier nicht vorweggenommen werden.

Dieser schmale Band ist einmal mehr ein wunderbares Beispiel dafür, wie aus einer Story mit wenigen Figuren und minimaler Handlung tiefgehende Literatur werden kann. Umso mehr, wenn auch die Erzählsprache – aus dem Italienischen übersetzt von Ulrike Lemke – in ihrer Eloquenz das Thema aufnimmt und die Leserschaft in Bann zieht. Grazia Deledda erhielt für ihr Gesamtwerk den Nobelpreis für Literatur. Es ist erfreulich, dass sie dem deutschsprachigen Lesepublikum mit der Neuauflage des Titels „Die Mutter“ wieder vorgestellt wird.

Wie alle Bände der Reihe „Perlen der Literatur“ ist auch dieser liebevoll in Leinen mit Prägung gebunden, hat ein eigenes Vorsatzpapier, eine eigene Schrifttype mit einigen kalligraphierten Absätzen und eine mit Kalligraphie versehene Banderole erhalten.

Foto: DAP

Grazia Deledda: Die Mutter (übersetzt von Ulrike Lemke)
Input Verlag, Hamburg 2022
Link zum Verlag: https://input-verlag.de/19-20-die-mutter-meister-floh/

Skurril bis tödlich

In „Dandys, Diebe, Delinquenten“ begeben wir uns mit der Autorin Bettina Müller auf eine Zeitreise durch das kriminelle Berlin der dreißiger Jahre. In einer etwas langatmigen Einleitung schlägt sie den Bogen vom beschaulichen kaiserlichen Berlin bis in die chaotischen Jahre der Weimarer Republik. Die unübersichtlichen Verhältnisse brachten es mit sich, dass ein bunter Haufen von Verbrechern ihrem kriminellen „Metier“ nachgehen konnte. Manche Sumpfblüte gedieh in dem schwülen Klima und brachte die Polizei schier zur Verzweiflung. Aus der Fülle von Vergehen hat die Autorin vierzehn besonders spektakuläre Fälle herausgepickt, die sich seinerzeit im „Chicago“ des Reiches ereigneten. Sie bewegen sich auf einer Skala von skurril bis tödlich.

Ein Mann mit dem klingenden Namen Georges Manolescu, dem man den Ehrentitel „Fürst der Diebe“ ans Revers heftete, eröffnet den Reigen. Unter dem Motto „Mehr Schein als Sein“ trieb er sein Unwesen, wechselte je nach Gusto seine Identität, „befreite“ die Reichen auf seinen Raubzügen von allem Kostbaren, das nicht niet- und nagelfest war, landete im Kittchen und fand schließlich in Menton an der Côte d’Azur seine letzte Ruhestätte. Ein weiterer „Gentleman-Verbrecher“ – sprich Hochstapler – führte jahrelang die Berliner Polizei an der Nase herum. Sein Vorbild war offensichtlich der Hauptmann von Köpenick. Er zwängte sich zwar nicht in eine preußische Uniform, trug dafür aber einen gestutzten Schnurrbart à la Wilhelm Zwo und präsentierte sich stets in feinem Zwirn. Auch einen berüchtigten Juwelendieb hatte das Berliner „Milljöh“ zu bieten, der sich während eines Raubzugs vor der Inhaftierung aus dem Fenster stürzte und sich dabei das Bein brach. Ende der Karriere.

Eine der skurrilsten Erscheinungen jener Verbrecherriege war der Fassadenkletterer Fritz Wald, ein Dandy aus dem Sächsischen, der seinem riskanten Beruf stets in Smoking und Lackschuhen nachging. Man nannte ihn das „Nachtgespenst“, das nicht nur seine Opfer bestahl, sondern auch den in tiefem Schlummer befindlichen Damen des Hauses einen zarten Kuss auf die Lippen drückte, bevor er sich abseilte. Ein gefundenes Fressen für den bekannten Schauspieler und Sänger Kurt Gerron, der – echte Berliner Schnauze – dichtete: „Ick bin dein Nachtgespenst. Ick weck dich, wennde pennst.“

Dieses spannend geschriebene Buch enthält neben völlig unblutigen Vergehen auch grauenvolle Verbrechen. Da ist der Fall eines Polizisten, der sich 1924 vor dem Schwurgericht wegen besonders brutaler Morde an zwei älteren Frauen zu verantworten hatte. Ein Gutachter bescheinigte dem Mörder eine schwere psychische Störung und sorgte dafür, dass er statt unter dem Fallbeil in einer psychiatrischen Anstalt landete. Eine humane Entscheidung. Diese Einstellung änderte sich schlagartig, als wenig später die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Für die waren alle Delinquenten „Ungeziefer“, von denen sehr viele umgehend deportiert wurden.

„Dandys, Diebe, Delinquenten“ von Bettina Müller, erschienen im Elsengold Verlag, 191 Seiten, zum Preis von €22,–, ISBN 978-3-96201-112-3

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Preußischen Allgemeinen Zeitung