In jeder Rezension dieser neun Haiku aus dem Gefängnis (aus: Tomas Tranströmer, „Das große Rätsel“, Carl Hanser Verlag, Münschen, 2005) ist es wichtig, zwei externe Betrachtungsweisen auf ein Leben in einer zweckgemäß verschlossenen Anstalt – in diesem spezifischen Falle im Jugendgefängnis Hällby, Schweden – zu beachten:
erstens, die des Bericht erstattenden personalen Erzählers;
zweitens, die sich entwickelnde Betrachtungsweise der Lesenden, insofern sie sich mit der Anstaltsroutine und den dortigen Vorkommnissen beschäftigen, wobei sie möglicherweise die unausgesprochenen Voraussetzungen von Freiheit in der Gesellschaft und wer diese genießt, infrage zu stellen beginnen.Den Lesenden fällt es vielleicht allmählich auf, in welchem Grad diese Freiheiten in Wirklichkeit von angewöhnter Einwilligung in den Status quo abhängig sind.
Acht der neun Haiku beschreiben Vorkommnisse im Gefängnis und deren Folgen: ein Fußball, über die Gefängnismauer getreten, bereitet „plötzliche Verwirrung“, d.h. wird zu einem unlösbaren Problem für die „Insassen“, die keine Möglichkeit haben, den Fußball zurückzuholen. Etwas, das „draußen“ selbstverständlich wäre. Spiel und Spaß vorbei!
Inwiefern die Lesenden ein Gefühl des Unbehagens beim Lesen verspüren, wird davon abhängen, ob sie sich im Voraus bewusst waren oder mittlerweile gemerkt haben, ob oder in welchem Grad ihr eigener Status und ihr Selbstbewusstsein in Akzeptanz von eben diesem Status quo eingebettet sind.
Eine zweite Befassung mit den Haiku belohnt – oder bestraft – die Lesenden mit Stoff zum Nachdenken über die Definition von habeus corpus. In allen neun Haiku wird die Annahme, dass Freiheit nichts anderes bedeute als Bewegungsfreiheit, durch den Ton des personalen Erzählers als falsch angedeutet. Anfänglich mögen sich die Lesenden wohl im Gegensatz zu den „Insassen“ als frei, unschuldig und daher per se diesen überlegen empfinden. Die Gefängnismauer ist ausschließlich für die „Insassen“ die erste und letzte Barriere gegen körperliche Freiheit.
Beim im zweiten Haiku vorkommenden Aktivismus – „Sie toben …/um die Zeit in rascheren/Trab zu scheuchen“- könnte es sich um den Verlust der Entscheidungsfreiheit der „Insassen“ darüber, wie sie ihre Zeit zwischen Pflicht und Erholung strukturieren, handeln. Doch könnte es nicht auch die Oberflächlichkeit und Leere der Anstrengung, nur Materielles zu erwerben, als Selbstzweck symbolisieren? Im Gegensatz zu Paulus’ Aussage 1 Kor. 13, 1 „ … hätte (ich) aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.“ (Bibelserver EU Einheitsübersetzung 2016)
Was beschwören die „Tätowierungen“ und „Falsch buchstabierte Leben“ des dritten Haiku? Versinnbildlichen sie individuellen Protest gegen die Armseligkeit der Gesellschaft und den oft unverschuldeten sozial unzulänglichen Hintergrund der „Insassen“? Waren Bildung, soziale Korrekturmaßnahmen hier nicht die eigentlichen Versager? Tätowierungen können allerdings zweierlei demonstrieren: entweder Aussteigerprotest, Mitgliedschaft einer (manchmal kriminellen) Gruppe, – oder, wie bei manchen indigenen Völkern, soziales und kulturelles Ansehen. Wie sehen die „Tätowierungen“ der Lesenden aus und wie „buchstabieren“ sie ihr Leben?
Gefängnis ist oft ein künstliches, steriles und manisches Umfeld, sodass „der Ausreißer“ in Haiku vier, unter Zwangsentzug von der Natur leidend, einen zum Scheitern verdammten Ausbruch versucht hat. Sein paranoides Sammeln von „Pfifferlingen“ ist Überkompensation, typisch für Menschen, denen das, was für deren psychisches Gleichgewicht und Wohlergehen unentbehrlich ist, vorenthalten wird.
Vielleicht spiegelt die Zwangslage des „Ausreißers“ den Verlust an moralischem Gleichgewicht in der Gesellschaft, das Ergebnis der Zwangsaneignung von einem unerbittlichen Erwerbs- und Erfolgsdrang wider, der uns der natürlichen und ethischen Instinkte beraubt, uns sogar in die Regeln der Plünderung für die Jagd nach Staus einweiht. Wir können nur auch zu „Ausreißern“ werden, wenn wir unreflektierte, giftige Gier, der so viele Kulturen als Erfolg applaudieren, bewusst ablehnen und es uns klar wird, dass unser „Gefängniswärter“ uns innewohnt. Das heißt Treue zu einem System, das unsere menschliche Natur wiederholt degradiert und zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Wieder spiegelt das sterile Umfeld der „Insassen“ drinnen die menschliche „Freiheit“ draußen.
Haiku fünf, sieben und acht versinnbildlichen den Mechanismus der Internierung: Werkstätten, Wachttürme, Lampen an der Gefängnismauer vereiteln die Natur. Nacht wird für die „Insassen“ künstlich zum Tag gemacht. Jedoch weckt die personale Erzählerperspektive auch vielleicht die Erkenntnis, dass „die Welt da draußen“ oft zu wenig Zeit für ungestörte Ruhe und Reflexion übrig lässt, sondern immer gegenwärtig ist und die Psyche beschäftigt. Aufdringlich selbst im unbewussten Zustand des Schlafs.
In Haiku neun ist Internierung: „eine Mutter aus Stein“, die gegen Unabhängigkeit und die Einwilligung in eine Art „fürsorgliche Belagerung“ (Dank an Heinrich Böll) bietet. Hat das nicht eine Besorgnis erregende Ähnlichkeit mit Tendenzen in modernen Demokratien?
Ein einziges Mal, in Haiku sechs, bedient sich der Erzähler des „Wir“. Die „Insassen“ und andere stehen auf dem „Anstaltshof“ und die Jahreszeit ist neu, doch nicht anders! Den Lesenden ist bis hierhin vielleicht der Gedanke gekommen, dass der Sinn und Zweck eines Gefängnisses auch darin besteht, den „Unschuldigen“ den Zugang zu den „Schuldigen“ zu verwehren. Die meisten „Unschuldigen“ auf der Welt wollen sich nicht von ihrer „Freiheit“ befreien! Sich von der Freiheit befreien? Unkritische Akzeptanz von nicht zu bändigendem Materialismus und „Wachstum“, religiösen und politischen Ideologien und institutionalisierten Ungerechtigkeiten bildet die oft unsichtbaren „Backsteine“ der Gefängnismauer. Und was ich nicht sehe bzw. nicht weiß, macht mich bekanntlich nicht heiß. Es ist oft vorteilhafter, selber „ein zusätzlicher Backstein in der Mauer“ (Dank an Pink Floyd) zu werden als aus diesem „fürsorglichen“ Gefängnis auszureißen.
Zur Person:
Der schwedische Lyriker Tomas Gösta Tranströmer wurde am 15. April 1931 in Stockholm geboren und starb dort am 26. März 2015. Im Jahr 2011 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Sein Gesamtwerk, das zwölf Gedichtbände umfasst, wurde in über 50 Sprachen übersetzt.
Unsere Gegenwart ist die Zeit der geistig-seelischen Wende, für jeden von uns daher auch lebensentscheidend. Die Spiritualität findet im Alltag und im Leben jedes einzelnen Menschen jene Aufmerksamkeit, die diese Welt ins Positive verändern wird.
Das wahre Leben kennt nur Gegenwart, Harmonie, Licht, Liebe, Glückseligkeit, Wahrheit und Unschuld. Das wissen wir Menschen – egal, wo wir uns auf diesem Planeten befinden. Wir Menschen haben all das sogar in unseren Seelen gespeichert, wollen es allerdings nicht immer oder nur teilweise wahrnehmen und wahrhaben und vor allem nicht in die Tat umsetzen.
Deshalb sollte es wieder zur prioritären Aufgabe aller Kunstbereiche werden, Hilfe zu leisten und die Menschen auf die spirituellen Werte des Lebens hinzuweisen. Demzufolge spricht sich jetzt der Urheber dieses Manifests ganz klar für das Ikigai als Ziel eines kollektiven Glücks aus.
Eine japanische Lebensphilosophie
Das Ikigai ist eine japanische Lebensphilosophie, und Ziel des Autors dieses Manifests ist es, auch für die deutschsprachige Lyrik den japanischen Namen IKIGAI zu übernehmen.
Ikigai ist ein japanisches Wort und bedeutet auf Deutsch so viel wie Lebenssinn, Freude oder Wert des Lebens. “Iki” bedeutet Leben und “gai” Wert. Ikigai ist auch bewusste Wahrnehmung sowie Selbstfindung und Selbstverwirklichung jenes Wesens, das man selbst ist.
Im Wort Ikigai ist schon alles enthalten, wonach der Mensch streben und auch suchen sollte: das eigene und das kollektive Glück.
Die Suche nach dem Ikigai ist ein Prozess innerhalb einer Vielfalt von Existenzen.
Die Ikigai Lebensphilosophie will sich jetzt ganz sicher nicht zufällig im deutschen Sprachraum verbreiten, sondern aus der bereits genannten spirituellen Notwendigkeit des einundzwanzigsten Jahrhunderts heraus.
Das Ikigai will sich als literarische, aber noch mehr als spirituelle Strömung der japa- nischen Kurzlyrik in deutscher Sprache durchsetzen. Es ist deshalb also nicht nur eine lyrische Gattung oder Form, sondern eine Lebenseinstellung, ein Lebensweg und ein Lebensauftrag, welche sich einiger japanischen Kurzlyrikformen und Kurzlyrikgattungen bedienen.
Das Ikigai bezieht sich vor allem auf die japanischen Lyrikformen und Gattungen wie Haiku, Senryu, Haibun, Haiga und Tanka, die im deutschen Sprachraum seit dem zwanzigsten Jahrhundert – sei es in japanischer Sprache als Original, als auch in deutscher Sprache als Übersetzung oder als Neuschaffung – in Erscheinung treten.
Ikigai ist nichts Geringeres als das allumfassende essenzielle Thema, um welches sich das ganze Leben dreht.
Ikigai ist also ein Sammelbegriff. Alle in diesem literarischen Manifest genannten japanischen Lyrikgattungen und Formen in deutscher Sprache dienen dem Ziel des kollektiven Glücks und werden hier deshalb als Ikigai bezeichnet.
Alles ist und hat Ikigai
Der Verfasser des Manifests will sogar von der grundlegenden Erkenntnis ausgehen: Alles ist und hat Ikigai, und jeder ist und hat Ikigai.
Die deutschsprachige Ikigai Kurzlyrik nach japanischem Vorbild will nach dem Wert des Lebens, also nach dem kollektiven Glück suchen und in diesem Zusammenhang und Kontext an die japanische literarische Blütezeit in der Edo-Periode anknüpfen.
Religionen, Philosophien und Denkweisen wie Shintoismus, Taoismus, Konfuzismus, Buddhismus und vor allem Zen-Buddhismus sollen das deutschsprachige Ikigai unterstützen.
Die deutschsprachigen lyrischen Ikigai Dichtungen nach japanischem Vorbild sind einerseits ausgesprochen der japanischen Tradition verpflichtet, andererseits aber auch der japanischen Moderne.
Da für jeden Ikigai-Dichter der Ausgangspunkt seiner Lyrik seine gegenwärtig geistig-seelische Ebene ist und das Ikigai sein sich gesetztes Ziel, darf die deutsch-sprachige Ikigai Dichtung nicht als spirituell vollkommenes Werk verstanden werden.
Dem Ikigai-Dichter muss es darum gehen, dass die Natur, die Umwelt sowie die Mitmenschen an seinem Alltag sowie an seinem inneren Leben vollkommen teilhaben können – um zu erreichen, dass er in einem immer umfassenderen Bewusstseinzustand die Freiheit des Geistes, also das Glück schrittweise für sich findet und es dann anderen Menschen weitergeben kann.
Der verantwortungsvolle Auftrag sowie die besondere, große Aufgabe des Ikigai-Dichters besteht darin, seine Leser sowie Zuhörer durch seine Lyrik schrittweise zum geistig-seelischen Glück zu verhelfen.
Das ist die Gegenwart, das ist die Wende. Es lebe hoch die Gegenwart – und hoch lebe die Wende!
Ebenda im einundzwanzigsten Jahr des einundzwanzigsten Jahrhunderts