Denn sie lieben, was sie tun

Unter dem Motto … fair geht vor fand Ende April die von Manuela und Uwe Kowald veranstaltete alternative Buchmesse in Himmelpforten bei Stade statt. Rund 25 Aussteller teilten sich die Eulsete-Halle mit einem Bücherflohmarkt. Die Bezeichnung „alternative Buchmesse“ weckt in den älteren Semestern von uns eher Assoziationen zur alternativen Szene der 1980er Jahre; aber weit gefehlt: In diesem Fall ging es um alternative Publikationsmöglichkeiten für Schriftsteller, die im so genannten ersten Buchmarkt kaum eine Chance bekommen. In einem Markt, der hauptsächlich von Übersetzungen lebt und fast keinen Raum für Neuerscheinungen hat, sind neue Schriftstellerinnen harten Bedingungen ausgesetzt. Als das Selfpublishing aufkam, damals noch verachtet und verpönt von denen, die „es geschafft“ hatten, in einem größeren Verlag unterzukommen, kämpften die schreibenden Pioniere um einen Platz in der Welt der zu Papier gebrachten Gedichte und Geschichten, die ihren Weg zu Lesefreudigen finden sollten. Und was soll man sagen: Gut 20 Jahre später ist es kein Platz, sondern ein eigener Markt, der sich still und leise neben dem etablierten Buchmarkt, beherrscht von großen Verlagen, aufgestellt hat. Und der so viel Druck auf den „ersten Buchmarkt“ ausgeübt hat, dass es jetzt in Leipzig und Frankfurt am Main Selfpublisher-Areas auf den Buchmessen gibt. Sicherlich hängt die Qualität der Texte nicht zuletzt davon ab, ob sich die Verfasser ein Lektorat geleistet haben; Leser sind trotzdem zu finden. Und wer es als Selfpublisher schafft, sich einen Leserkreis zu erarbeiten, hat sich tief ins Marketing eingearbeitet. Denn die besten Texte kommen nur dann unter Leute, wenn die richtigen Werbemaßnahmen sie in die Welt bringen.

Präsentationen, mit Liebe gemacht

Zunächst beeindruckt, mit welcher Liebe zum Detail und mit welch großer Sorgfalt die kleinen Verlage und Selfpublisher ihre Stände ausgerichtet haben. Fast alle haben nicht nur Bücher, sondern auch Lesezeichen, Flyer, Leseproben und sogar bedruckte kleine Leinenbeutel mit dem entsprechenden Buchcover dabei und ansprechend aufgebaut. Für einen Titel, bei dem es um Schokoladentaler geht, sind goldglänzende Schokotaler auf schwarzem Samt ausgestreut; Farben, die sich im Buchcover widerspiegeln.

Auf den ersten Blick scheint es, als ob fast alles Fantasy und New Romance wäre. Beide Genres fallen durch eine besondere Farbgestaltung ins Auge sowie durch malerische oder Tattoo-ähnliche Coverbilder. Die meisten dieser Titel haben ein größeres Format als man es von traditionellen Verlagspublikationen her kennt, allerdings oft auch größere Schrift und einen großzügigen Buchsatz, der das Lesen erleichtert. Einige Bücher sind fast zu dick und schwer, um sie beispielsweise abends im Liegen zu lesen. Das schreckt die Fantasy-Fangemeinde offenbar nicht ab.

Der zweite Blick zeigt, dass sich andere Themen und Titel dazwischen befinden, die einen außergewöhnlichen Hintergrund haben. So hat die Heimatforscherin Debbie Bülau (s. Foto rechts, mit Landrat Kai Seefried) eine reich bebilderte Dokumentation von 696 Seiten über die „Heimatgeschichte von der NS-Zeit bis heute“ für den Ort Kutenholz und dessen Umgebung veröffentlicht. Für dieses Buch hat sie mehrere Jahre über die Opfer des Nationalsozialismus recherchiert und akribisch die Schicksale von Zwangsarbeiterinnen, KZ-Häftlingen, Kriegsgefangenen, Opfern der NS-Psychiatrie und kurz vor Kriegsende in der Samtgemeinde Fredenbeck verstorbenen britischen Soldaten sowie Wehrmachtssoldaten zusammengetragen.

Cosplayer und das wahre Leben

Besucher jeden Alters und sogar einige Cosplayer, wie man sie sonst eher in Leipzig antrifft, drängen in die Festhalle und inspizieren die ausgestellten Bücher und Lesezeichen. Und wie in Leipzig werden die Goodies freudig eingesammelt, diverse junge Mädchen stecken die Köpfe zusammen und bestaunen ihre ergatterten kleinen Schätze.

Wie einige der ausstellenden Autorinnen hat auch Rita Feinkohl ihren Stand liebevoll mit ihrem bislang einzigen Titel „Ich dank dir och schön“ dekoriert, dazu Schmuck und Tücher ausgestellt. In ihrer biografischen Geschichte verarbeitet sie ihre Erfahrungen mit einem behinderten Angehörigen, der sie lehrte, die Welt mit seinen Augen zu sehen. Mit dem Thema „Depression“ befasst sich die Autorin Jessica Düster alias Jessica Noir in ihrem Buch „Projekt Lea – Arbeitsnotizen der Depression RS21/4687/13“. Das Thema ist seit einiger Zeit nicht unbedingt mehr etwas Neues, jedoch hat Jessica Düster die Depression personifiziert und schreibt aus deren Perspektive statt aus derjenigen des Menschen, der an der Erkrankung leidet.

Haiku und Gruselgeschichten

Der Poet und Schriftsteller Manuel Bianchi hat Haiku-Dichtung und Gruselgeschichten in seinem Repertoire und erfindet für seine Gedichtbände Titel wie „poetricity“ (urbane Lyrik) oder „#commutiny“, dem neuesten Band mit Gedichten und Polaroids. „Die Gedichte entstanden in einem Zeitraum von dreieinhalb Jahren, eine Zeit der großen Umwälzungen. Die Pandemie hat ebenso wie andere persönliche Erlebnisse des Dichters ihre Spuren hinterlassen“, heißt es auf dem Klappentext.

Hat man früher strikt die Genres voneinander getrennt und darüber nachgedacht, ob Texte oder Projekte ausreichend „literarisch“ seien oder man sein Gesicht verlöre, wenn man dies oder jenes veröffentlichen würde, steht die jüngere Generation selbstbewusst zu den verschiedenen Facetten ihres Schreibens und färbt offenbar auch auf einige ältere Semester ab. Das gibt Hoffnung, dass die hierzulande sehr beliebte Be- oder Abwertung irgendwann weniger schnell erfolgen mag, als man es bislang gewohnt war. Und es kann allen Schriftstellern Mut machen, zu den verschiedenen Genres zu stehen, in denen sie unterwegs sind.

Melanie Amélie Opalka schreibt „Romane für starke Frauen mit Entwicklungspotenzial“ und unter dem Namen Marley Alexis Owen Thriller mit der Hauptfigur Sara Konrad. So hat sie bereits zwei Romanreihen angelegt und feiert in diesem Jahr ihren zehnten veröffentlichten Roman.

Die Frage, inwieweit die Selfpublisher und Kleinverlage sich Lektorinnen und Covergestalter leisten, wäre höchstens durch die Befragung aller Autoren zu beantworten, die auf der Himmelpfortener Messe anwesend waren. Stattdessen erfahre ich am Stand von „Mostly Premade“, dass sich die von der Inhaberin Nadine Most gestalteten Cover sehr gut verkaufen. Sie zeigt einige ihrer Arbeiten am Tablet und schlägt mir eine Gestaltung für einen Lyrikband vor, ein wenig verschnörkelt, aber irgendwie auch ansprechend.

Auch meine zweite Messerunde endet beim „Lovemoon“ Verlag für „Romance, New Adult & Romantasy“ mit seinen farbprächtigen und großformatigen Büchern. Früher hatte man Goldschnitt, heute wird mit Farbschnitt gearbeitet, was dem zugeklappten Buch das Aussehen einer Schatulle verleiht.

Das Fazit ist positiv

Die alternative Buchmesse gewährte mir einen Blick in eine andere Lese- und Schreibwelt. Als ich Kind war, sagte man uns, dass Comics unsere Lesefähigkeit verdürben. Unsere Eltern hatten Sorge, dass wir keine „richtigen Bücher“ mehr würden lesen können. Dabei lasen sie selbst Utta Danella und Marie Louise Fischer. Waren das denn „richtige Bücher“? Noch früher hatte man Barbara Cartland, eine Weile später Rosamunde Pilcher, jetzt hat man New Romance, Cosy Crime, New Adult und Insta-Love. Lesen war und ist immer auch eine Leidenschaft, die ein Wohlgefühl hervorruft – entweder, weil man schwere und anspruchsvolle Lektüre bezwungen hat oder weil man sich in leichte und von den irrwitzigen Zeiten ablenkende Geschichten flüchten kann; oftmals auch, weil man Erkenntnisse aus der Lektüre gewonnen hat. Und seien wir ehrlich: Nicht jeder Spiegel-Bestseller ist ein literarisches Meisterwerk. Was wir Schriftsteller möchten, ist doch, gelesen zu werden. Den Ausstellerinnen in Himmelpforten ist es offensichtlich gelungen, ihre Fans zu finden und ihren Geschichten Flügel zu verleihen.

Die nächste „Fair geht vor“-Buchmesse ist für den 12./13. April 2025 geplant. Der Veranstalter informiert auf seiner Website über die Details: https://www.fairgehtvor.org/Aktivitaeten/Buchmessen/

 

Dies ist eine gekürzte Version des unter dem gleichen Titel bereits auf www.schoenfeld.blog veröffentlichten Artikels; darin sind weitere Infos über die Aussteller und Links zu deren Websites zu finden.

Fotos: Maren Schönfeld / Manuela Kowald

Buchpräsentation im Museum für Hamburgische Geschichte: „Die bedrohte Stadtrepublik. Hamburg 1923

Buchcover

von Hartmut Höhne

Zum Krisenjahr 1923 liegen gegenwärtig zahlreiche neue Veröffentlichungen vor.

In der Folge des Ersten Weltkriegs sah sich die junge parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik den unterschiedlichsten Zerreißproben ausgesetzt. So besetzten belgische und französische Truppen das Ruhrgebiet, der Hitler-Putsch war ein erstes Vorzeichen auf die späteren Entwicklungen, und die Hyperinflation brachte große Bevölkerungsteile in existenzielle Not.

In Hamburg kam es auf dem Höhepunkt der Inflation im Oktober 1923 zu einem bewaffneten Aufstand von KPD-Mitgliedern und ihnen verbundenen Arbeitern, der als Hamburger Aufstand in die Geschichte einging. Es war der Versuch, nach russischem Vorbild mit revolutionären Mitteln eine neue Staatsform durchzusetzen. Der Versuch scheiterte innerhalb weniger Tage.

In der Hauptsache von diesem Ereignis handelt das gerade erst erschienene Buch „Die bedrohte Stadtrepublik. Hamburg 1923“, das am 28. August im Museum für Hamburgische Geschichte von den beiden Herausgebern Olaf Matthes und Ortwin Pelc gewohnt sachkundig vorgestellt wurde. Eingeleitet wurde die Präsentation durch Prof. Bettina Probst, Direktorin des Museums für Hamburgische Geschichte und von Dr. Sabine Bamberger-Stemmann, Direktorin der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg. Hier die vollständigen Angaben:

Die bedrohte Stadtrepublik. Hamburg 1923. Herausgegeben von Olaf Matthes und Ortwin Pelc für die Landeszentrale für politische Bildung Hamburg in Verbindung mit dem Museum für Hamburgische Geschichte, Wachholtz Verlag, Kiel-Hamburg, 252 Seiten, 34 Euro, ISBN 978-3-529-05084-8

Das Buch bildet auch die Grundlage für die bevorstehende Ausstellung „Hamburg 1923. Die bedrohte Stadt“, die am Montag, 18. September 2023 um 18 Uhr im Museum f. Hamb. Geschichte eröffnet wird. Sie ist dann vom 20. 09. 2023 bis 07. 01. 2024 zu sehen. Im Ausstellungsflyer heißt es: „Originalobjekte, neu entdeckte Dokumente und zahlreiche Bildquellen beleuchten diese dramatische Zeit unter verschiedenen Blickwinkeln und betten sie in die allgemeine Stadtgeschichte zwischen 1918 und 1924 ein.“

Als Kleinkind im Konzentrationslager

Reche Sternbruch
(c) Stadtarchiv St. Gallen

Am 9. September 1940, zwei Tage, nachdem die deutschen Luftangriffe in London begonnen hatten, wurde Isak Katzenstein im israelitischen Krankenhaus in Frankfurt am Main geboren. Elf Tage später wurde er im Heim des jüdischen Frauenbunds registriert, in dem seine Mutter Grete lebte und arbeitete. Nach nur drei Monaten ließ sie ihren Sohn jedoch allein zurück, weil ihr die Festnahme drohte. Mit Hilfe der Heimleitung konnte sie nach Zagreb fliehen. Von dort stand sie in regelmäßigem Briefkontakt mit den Pflegerinnen ihres Sohnes, der jedoch im Frühling 1941, als das SS-Kollaborationsregime in Kroatien an die Macht kam, abbrach. Grete Katzenstein überlebte den Krieg nicht.

43 Waisenkinder nach Theresienstadt deportiert

Ihr Sohn verbrachte die ersten zwei Jahre mehrheitlich in einem Kinderheim in Frankfurt am Main, bis dieses zwangsgeschlossen wurde. 43 Kinder und die Betreuerinnen und Betreuer wurden nach Theresienstadt deportiert.  Über seine Zeit in Theresienstadt ist wenig bekannt, wie die Studierenden der Pädagogischen Hochschule St. Gallen in ihrer Arbeit schreiben. Auch er selbst erinnert sich nach eigenen Angaben nicht an diese Zeit.

Peter-Isak Katzenstein-Müller
(c) Stadtarchiv St. Gallen

Irgendwann muss er aber mit Hertha und Egon Schlesinger in Kontakt gekommen sein, die sich für das Waisenkind einsetzten. Gemeinsam kamen sie in St. Gallen an und gemeinsam reisten die drei weiter nach Montreux. Im April 1945 schrieb ein Ernst Katzenstein an den damaligen Bundespräsidenten, dass er den Bub getroffen habe und dieser der Enkel seines Onkels sei. Er beantragte, das Kind bei sich aufzunehmen.

So kam er bei den Geschwistern Katzenstein in Zürich unter.  Sie blieben seine Pflegeeltern, selbst als klar wurde, dass er nicht mit ihnen verwandt war. Auch setzten sie sich dafür ein, dass der Name Isak, der ihm bei der Geburt durch die Nazis gegeben wurde, durch den Rufnamen Peter ersetzt wurde. Später wechselte auch sein Nachname zu Müller, weil seine Pflegemutter geheiratet hatte.

Nach einem langen Hin und Her erhielt der Neunjährige 1949 Dauerasyl in der Schweiz, wo er die Schule abschloss und eine Ausbildung zum Automechaniker absolvierte.

Weil er seinen Stiefvater nicht mochte, wanderte er später nach Kanada aus und bildete sich zum Buchhalter weiter. Seinen Schweizer Pass erneuerte er nie. Als er die kanadische Staatsbürgerschaft beantragte, wechselte sein Name wieder zu Katzenstein.

Eine Ärztin mit Rückgrat und einem Stück Glück
Edith Freund
(c) Stadtarchiv St. Gallen

Unter den 1200 Jüdinnen und Juden des Befreiungszuges aus Theresienstadt nach St. Gallen befand sich auch die damals 45-jährige Ärztin Edith Freund.

Als Edith Marie Liebeck im preußischen Königsberg (heute Kaliningrad, Hauptstadt der gleichnamigen russischen Provinz) geboren, wuchs sie in einer wohlhabenden Familie auf. bevor sie unter anderem in Berlin Medizin studierte. Während einer Weiterbildung zur Dermatologin lernte Edith in der deutschen Hauptstand ihren ersten Ehemann, Helmut Freund, kennen.

Kampf gegen Typhus und Tuberkulose

Nur mit einer Spezialgenehmigung durften sich jüdische Ärztinnen und Ärzte wie Edith Freund noch um Kranke kümmern. Viele wurden ins Konzentrationslager nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Freund kam nach Posen (heute Polen) zur deutschen Arbeitsfront.

Dort kämpfte sie in drei verschiedenen Frauenlagern gegen Typhus und Tuberkulose. Ebenso führte sie an den Insassinnen kleine Operationen durch. Um die Strecken zwischen den Lagern rascher zu bewältigen, bekam Edith Freund ein Fahrrad. Dies machte sie zur einzigen Jüdin, die sich außerhalb der Lager bewegen durfte. Die Zustände in den Frauenlagern waren miserabel. Edith Freund versuchte, nicht nur medizinisch dagegen anzukämpfen. So verfasste sie einen Bericht über die unmenschlichen Verhältnisse –mit Folgen. Die Gestapo nahm die jüdische Ärztin wegen „Sabotage Deutscher Arbeit“ fest und brachte sie ins Polizeipräsidium nach Berlin. Die Nazis wollten Freund nach Osten schicken – dies hätte den sicheren Tod in der Gaskammer bedeutet. Doch Kontakte mit einem befreundeten jüdischen Ehepaar, beide ehemalige Patienten, sowie finanzielle Bestechung retteten Freunds Leben. Sie kam ins Konzentrationslager Theresienstadt, wo sie 18 Monate blieb. Bevor sie als Ärztin arbeiten durfte, grub Freund Kartoffeln und putzte auch das Schlafzimmer und Büro eines  Nazi– Offiziers. Letzteres galt als privilegierte Arbeit.

Schließlich stieg Edith Freund in den Zug nach St. Gallen. Von dort aus kam sie nach Les Avanis bei Montreux. Freund praktizierte einige Jahre in der Schweiz, etwa in einem Davoser Sanatorium, bevor sie1948 nach Australien emigrierte. Mit ihrem zweiten Ehemann zog Freund nach der Pensionierung wieder nach Europa, genauer gesagt, nach Wien.

Der Transport nach Theresienstadt
Reche Sternbruch
(c) Stadtarchiv St. Gallen

Die schweizerischen Behörden wurden mit dem Transport überrascht, war er doch das Resultat einer privaten Initiative. Am Anfang steht das Ehepaar Recha und Isaak Sternbuch. Sie unterhielten von der Schweiz aus den Europäischen Arm der nordamerikanischen „Union of Orthodox Rabbis of United States of America and Canada” und dessen Hilfscomitee “Vaad Ha-Hatzalah”. Mitte Oktober 1944 kamen sie mit dem schweizerischen Alt Bundesrat Jean-Marie Musy zusammen, dem es in früheren Aktionen gelungen war, in Auftragsarbeit einzelne Personen aus Konzentrationslagern freizubekommen. Musy erhielt die finanziellen Mittel, um sich mit der SS in Kontakt zu setzen. Zweimal gelang es ihm, sich mit Heinrich Himmler zu treffen (3. November 1944 in der Nähe von Breslau, 21. Januar 1945 in Wildbach), den der mit faschistischen Regimen sympathisierende Musy aus antikommunistischen Netzwerken kannte. Als Resultat der Verhandlungen sollten wöchentlich 1200 Jüdinnen und Juden aus Konzentrationslagern freigelassen werden.

Als Gegenleistung wurden 5 Millionen Schweizer Franken als Sicherheit auf einem Sperrkonto hinterlegt. Jedoch blieb es beim Transport vom 5. Februar 1945, da konkurrierende Netzwerke innerhalb der SS das Vorhaben hintertrieben und daraufhin offensichtlich Adolf Hitler dem Ganzen ein Ende setzte.

In der Zerfallsphase des 3. Reiches erhoffte sich Himmler durch die Aktion eine Imagekorrektur bei den Westalliierten. Auch Musy tendierte vermutlich durch sein Handeln sein ramponiertes Ansehen mit Blick auf die sich abzeichnende Nachkriegszeit aufzupolieren.

Geschichte anders darstellen

Das Projekt, mit dem Gesichter zu Leben erweckt werden und Zeitzeugeninterviews im historischen Kontext betrachtet werden, wurde von der Mamlock Foundation, Berlin, und der Pädagogischen Hochschule St. Gallen entwickelt.

Auf 3Sat erschien dieser Beitrag: https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/zug-der-geretteten-aus-theresienstadt-100.html

Weitere Links zum Thema:

https://www.platz-der-vergessenen-kinder.de/bewohner/peter-isaak-katzenstein

https://gedenkbuch.neu-isenburg.de/namen/?tx_gedenkbuchnames_personenliste%5Bperson%5D=258&cHash=074bc89ad5bb786ed0a85998c8c8d300

Was uns hätte blühen können

Zur historischen Dystopie „Wenn der Führer wüsste…“ von Heiger Ostertag – Mal angenommen, Hitler hätte den Krieg gewonnen und wir lebten jetzt unter der Regierung seines Enkels Adolf II., der mit vierzig Jahren nach dem Tod seines Vaters Adolf Wolf die Herrschaft übernommen hätte. Den Leuten hat man die Legende erzählt, alle Juden hätten in Madagaskar ihren eigenen Staat bekommen. Die Denkmäler stehen noch, die nationalsozialistischen Werte auch – doch es beginnt zu rumoren. Nächstes Jahr wird eine Revolution angezettelt werden, in deren Folge die Regierung gestürzt werden soll. Finden Sie das schräg? Ist es auch. Aber so gut gemacht, dass es einem bei der Lektüre des Romans kalt den Rücken runterläuft. Nach dem viel beachteten Buch „Die Welle“ von Morton Rhue, das sich mit der Frage befasst, wie so ein Regime wie Hitlers möglich werden konnte, befasst sich „Wenn der Führer wüsste…“ mit einer Möglichkeit von Realität unter einer nationalsozialistischen Herrschaft und dem Aufbegehren der unterdrückten Bevölkerung.

Studentenrevolte unter Adolf II.

Der Studentenführer Rudolf von Bracken und seine Clique sind die Hauptfiguren der Geschichte. Groß geworden mit den nationalsozialistischen Rassegesetzen, sind für ihn die polnischen und russischen Raumpflegerinnen „rassisch minderwertige Arbeitsweiber, die man zumeist nicht wahrnahm oder schlicht übersah“ (S. 15). Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der solche Lebenswirklichkeiten der Romanfiguren erwähnt werden, offenbart die Grausamkeit dieses „Wertesystems“. In Rudolfs Realität sind er und seine Freunde die künftige Reichselite, und das – nach jahrzehntelanger Einprägung dieses Denkens – mit größter Selbstverständlichkeit. Doch während diese künftige Elite zur „neudeutschen Welle“ schwooft, braut sich unter den Studenten ein Aufruhr zusammen. Die strikte Trennung zwischen den unterschiedlichen „Rassen“ weicht auf, die Studenten sind die alten Zöpfe leid, sie wollen sich nicht mehr gängeln lassen. In dieser Aufbruchstimmung kommen Zweifel auf, was das Schicksal der Juden zuzeiten des Zweiten Weltkriegs angeht. Gerüchte kursieren, dass es geheime Akten gäbe. Rudolf und seine Freunde geraten in diese Umbruchzeit und wollen aufklären, was von der Kriegsgeneration der Nazis vertuscht wurde. Wird es ihnen gelingen und wird sich Regierung samt Wertesystem wandeln?

Gar nicht so abwegig …

Heiger Ostertags Roman überzeugt vor allem, weil die Story nicht weit hergeholt erscheint. Hinzu kommen viele kleine sarkastische Einsprengsel vor allem bei den Namen („Hagens Speer“ heißt eine Musikgruppe) oder Bezeichnungen wie „Handfon“ statt Handy. Wen Timur Vermes‘ „Er ist wieder da“ begeistert hat, wird auch an diesem Buch seine Freude und seinen Grusel haben.

Im Anhang erläutert der Autor und Historiker in einer „Historisch-kritischen Nachbetrachtung“ die Hintergründe und Inspirationsquellen, aber auch die Quellen für die eingebauten Fakten der Geschichte. Hier wird deutlich, wie nah an tatsächlichen Begebenheiten oder auch nationalsozialistischen Visionen die Geschichte entwickelt wurde. Das macht den Roman noch beklemmender und zeigt, was uns hätte blühen können, wenn der Zweite Weltkrieg anders ausgegangen wäre.

Dr. Heiger Ostertag (M.A.) gehörte der Luftwaffe an, in der er u. a. eine fliegerische Ausbildung absolvierte. In Freiburg studierte Ostertag Geschichte, Germanistik sowie Nordgermanische Philologie und promovierte mit einem historisch-germanistischen Thema zum Kaiserreich. Seit den 90er Jahren ist Heiger Ostertag als Autor und Historiker in Forschung, Bildung und Lehre sowie als Lektor im Verlagswesen tätig. Die Fachliteratur erschien bei Ullstein, Herder, Rombach und Mittler. Das belletristische Werk wird beim Südwestbuch-Verlag, Gmeiner und im Theiss Verlag/WBV verlegt. Auf der Basis exakter Recherchen und psychologischer Personenprofile entstanden in den 30 Jahren seines Schreibens kontextsituierte Geschichten und zahlreiche Romane von großer Dichte und Spannung.  Unter Pseudonym sind vom Autor weitere brisante Politthriller erschienen. Einige Romane wurden zudem als Hörbuch vertont. Aktuell arbeitet der Schriftsteller am Abschlussband seiner Junker-von-Schack Reihe mit dem Arbeitstitel „Von Austerlitz nach Waterloo“.

Website des Autors: http://www.heigerostertag.de/

Heiger Ostertag: Wenn der Führer wüsste…, Südwestbuch Verlag/SWB Media Entertainment, Calw 2021