Buchpräsentation im Museum für Hamburgische Geschichte: „Die bedrohte Stadtrepublik. Hamburg 1923

Buchcover

von Hartmut Höhne

Zum Krisenjahr 1923 liegen gegenwärtig zahlreiche neue Veröffentlichungen vor.

In der Folge des Ersten Weltkriegs sah sich die junge parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik den unterschiedlichsten Zerreißproben ausgesetzt. So besetzten belgische und französische Truppen das Ruhrgebiet, der Hitler-Putsch war ein erstes Vorzeichen auf die späteren Entwicklungen, und die Hyperinflation brachte große Bevölkerungsteile in existenzielle Not.

In Hamburg kam es auf dem Höhepunkt der Inflation im Oktober 1923 zu einem bewaffneten Aufstand von KPD-Mitgliedern und ihnen verbundenen Arbeitern, der als Hamburger Aufstand in die Geschichte einging. Es war der Versuch, nach russischem Vorbild mit revolutionären Mitteln eine neue Staatsform durchzusetzen. Der Versuch scheiterte innerhalb weniger Tage.

In der Hauptsache von diesem Ereignis handelt das gerade erst erschienene Buch „Die bedrohte Stadtrepublik. Hamburg 1923“, das am 28. August im Museum für Hamburgische Geschichte von den beiden Herausgebern Olaf Matthes und Ortwin Pelc gewohnt sachkundig vorgestellt wurde. Eingeleitet wurde die Präsentation durch Prof. Bettina Probst, Direktorin des Museums für Hamburgische Geschichte und von Dr. Sabine Bamberger-Stemmann, Direktorin der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg. Hier die vollständigen Angaben:

Die bedrohte Stadtrepublik. Hamburg 1923. Herausgegeben von Olaf Matthes und Ortwin Pelc für die Landeszentrale für politische Bildung Hamburg in Verbindung mit dem Museum für Hamburgische Geschichte, Wachholtz Verlag, Kiel-Hamburg, 252 Seiten, 34 Euro, ISBN 978-3-529-05084-8

Das Buch bildet auch die Grundlage für die bevorstehende Ausstellung „Hamburg 1923. Die bedrohte Stadt“, die am Montag, 18. September 2023 um 18 Uhr im Museum f. Hamb. Geschichte eröffnet wird. Sie ist dann vom 20. 09. 2023 bis 07. 01. 2024 zu sehen. Im Ausstellungsflyer heißt es: „Originalobjekte, neu entdeckte Dokumente und zahlreiche Bildquellen beleuchten diese dramatische Zeit unter verschiedenen Blickwinkeln und betten sie in die allgemeine Stadtgeschichte zwischen 1918 und 1924 ein.“

Als Kleinkind im Konzentrationslager

Reche Sternbruch
(c) Stadtarchiv St. Gallen

Am 9. September 1940, zwei Tage, nachdem die deutschen Luftangriffe in London begonnen hatten, wurde Isak Katzenstein im israelitischen Krankenhaus in Frankfurt am Main geboren. Elf Tage später wurde er im Heim des jüdischen Frauenbunds registriert, in dem seine Mutter Grete lebte und arbeitete. Nach nur drei Monaten ließ sie ihren Sohn jedoch allein zurück, weil ihr die Festnahme drohte. Mit Hilfe der Heimleitung konnte sie nach Zagreb fliehen. Von dort stand sie in regelmäßigem Briefkontakt mit den Pflegerinnen ihres Sohnes, der jedoch im Frühling 1941, als das SS-Kollaborationsregime in Kroatien an die Macht kam, abbrach. Grete Katzenstein überlebte den Krieg nicht.

43 Waisenkinder nach Theresienstadt deportiert

Ihr Sohn verbrachte die ersten zwei Jahre mehrheitlich in einem Kinderheim in Frankfurt am Main, bis dieses zwangsgeschlossen wurde. 43 Kinder und die Betreuerinnen und Betreuer wurden nach Theresienstadt deportiert.  Über seine Zeit in Theresienstadt ist wenig bekannt, wie die Studierenden der Pädagogischen Hochschule St. Gallen in ihrer Arbeit schreiben. Auch er selbst erinnert sich nach eigenen Angaben nicht an diese Zeit.

Peter-Isak Katzenstein-Müller
(c) Stadtarchiv St. Gallen

Irgendwann muss er aber mit Hertha und Egon Schlesinger in Kontakt gekommen sein, die sich für das Waisenkind einsetzten. Gemeinsam kamen sie in St. Gallen an und gemeinsam reisten die drei weiter nach Montreux. Im April 1945 schrieb ein Ernst Katzenstein an den damaligen Bundespräsidenten, dass er den Bub getroffen habe und dieser der Enkel seines Onkels sei. Er beantragte, das Kind bei sich aufzunehmen.

So kam er bei den Geschwistern Katzenstein in Zürich unter.  Sie blieben seine Pflegeeltern, selbst als klar wurde, dass er nicht mit ihnen verwandt war. Auch setzten sie sich dafür ein, dass der Name Isak, der ihm bei der Geburt durch die Nazis gegeben wurde, durch den Rufnamen Peter ersetzt wurde. Später wechselte auch sein Nachname zu Müller, weil seine Pflegemutter geheiratet hatte.

Nach einem langen Hin und Her erhielt der Neunjährige 1949 Dauerasyl in der Schweiz, wo er die Schule abschloss und eine Ausbildung zum Automechaniker absolvierte.

Weil er seinen Stiefvater nicht mochte, wanderte er später nach Kanada aus und bildete sich zum Buchhalter weiter. Seinen Schweizer Pass erneuerte er nie. Als er die kanadische Staatsbürgerschaft beantragte, wechselte sein Name wieder zu Katzenstein.

Eine Ärztin mit Rückgrat und einem Stück Glück
Edith Freund
(c) Stadtarchiv St. Gallen

Unter den 1200 Jüdinnen und Juden des Befreiungszuges aus Theresienstadt nach St. Gallen befand sich auch die damals 45-jährige Ärztin Edith Freund.

Als Edith Marie Liebeck im preußischen Königsberg (heute Kaliningrad, Hauptstadt der gleichnamigen russischen Provinz) geboren, wuchs sie in einer wohlhabenden Familie auf. bevor sie unter anderem in Berlin Medizin studierte. Während einer Weiterbildung zur Dermatologin lernte Edith in der deutschen Hauptstand ihren ersten Ehemann, Helmut Freund, kennen.

Kampf gegen Typhus und Tuberkulose

Nur mit einer Spezialgenehmigung durften sich jüdische Ärztinnen und Ärzte wie Edith Freund noch um Kranke kümmern. Viele wurden ins Konzentrationslager nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Freund kam nach Posen (heute Polen) zur deutschen Arbeitsfront.

Dort kämpfte sie in drei verschiedenen Frauenlagern gegen Typhus und Tuberkulose. Ebenso führte sie an den Insassinnen kleine Operationen durch. Um die Strecken zwischen den Lagern rascher zu bewältigen, bekam Edith Freund ein Fahrrad. Dies machte sie zur einzigen Jüdin, die sich außerhalb der Lager bewegen durfte. Die Zustände in den Frauenlagern waren miserabel. Edith Freund versuchte, nicht nur medizinisch dagegen anzukämpfen. So verfasste sie einen Bericht über die unmenschlichen Verhältnisse –mit Folgen. Die Gestapo nahm die jüdische Ärztin wegen „Sabotage Deutscher Arbeit“ fest und brachte sie ins Polizeipräsidium nach Berlin. Die Nazis wollten Freund nach Osten schicken – dies hätte den sicheren Tod in der Gaskammer bedeutet. Doch Kontakte mit einem befreundeten jüdischen Ehepaar, beide ehemalige Patienten, sowie finanzielle Bestechung retteten Freunds Leben. Sie kam ins Konzentrationslager Theresienstadt, wo sie 18 Monate blieb. Bevor sie als Ärztin arbeiten durfte, grub Freund Kartoffeln und putzte auch das Schlafzimmer und Büro eines  Nazi– Offiziers. Letzteres galt als privilegierte Arbeit.

Schließlich stieg Edith Freund in den Zug nach St. Gallen. Von dort aus kam sie nach Les Avanis bei Montreux. Freund praktizierte einige Jahre in der Schweiz, etwa in einem Davoser Sanatorium, bevor sie1948 nach Australien emigrierte. Mit ihrem zweiten Ehemann zog Freund nach der Pensionierung wieder nach Europa, genauer gesagt, nach Wien.

Der Transport nach Theresienstadt
Reche Sternbruch
(c) Stadtarchiv St. Gallen

Die schweizerischen Behörden wurden mit dem Transport überrascht, war er doch das Resultat einer privaten Initiative. Am Anfang steht das Ehepaar Recha und Isaak Sternbuch. Sie unterhielten von der Schweiz aus den Europäischen Arm der nordamerikanischen „Union of Orthodox Rabbis of United States of America and Canada” und dessen Hilfscomitee “Vaad Ha-Hatzalah”. Mitte Oktober 1944 kamen sie mit dem schweizerischen Alt Bundesrat Jean-Marie Musy zusammen, dem es in früheren Aktionen gelungen war, in Auftragsarbeit einzelne Personen aus Konzentrationslagern freizubekommen. Musy erhielt die finanziellen Mittel, um sich mit der SS in Kontakt zu setzen. Zweimal gelang es ihm, sich mit Heinrich Himmler zu treffen (3. November 1944 in der Nähe von Breslau, 21. Januar 1945 in Wildbach), den der mit faschistischen Regimen sympathisierende Musy aus antikommunistischen Netzwerken kannte. Als Resultat der Verhandlungen sollten wöchentlich 1200 Jüdinnen und Juden aus Konzentrationslagern freigelassen werden.

Als Gegenleistung wurden 5 Millionen Schweizer Franken als Sicherheit auf einem Sperrkonto hinterlegt. Jedoch blieb es beim Transport vom 5. Februar 1945, da konkurrierende Netzwerke innerhalb der SS das Vorhaben hintertrieben und daraufhin offensichtlich Adolf Hitler dem Ganzen ein Ende setzte.

In der Zerfallsphase des 3. Reiches erhoffte sich Himmler durch die Aktion eine Imagekorrektur bei den Westalliierten. Auch Musy tendierte vermutlich durch sein Handeln sein ramponiertes Ansehen mit Blick auf die sich abzeichnende Nachkriegszeit aufzupolieren.

Geschichte anders darstellen

Das Projekt, mit dem Gesichter zu Leben erweckt werden und Zeitzeugeninterviews im historischen Kontext betrachtet werden, wurde von der Mamlock Foundation, Berlin, und der Pädagogischen Hochschule St. Gallen entwickelt.

Auf 3Sat erschien dieser Beitrag: https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/zug-der-geretteten-aus-theresienstadt-100.html

Weitere Links zum Thema:

https://www.platz-der-vergessenen-kinder.de/bewohner/peter-isaak-katzenstein

https://gedenkbuch.neu-isenburg.de/namen/?tx_gedenkbuchnames_personenliste%5Bperson%5D=258&cHash=074bc89ad5bb786ed0a85998c8c8d300

Was uns hätte blühen können

Zur historischen Dystopie „Wenn der Führer wüsste…“ von Heiger Ostertag – Mal angenommen, Hitler hätte den Krieg gewonnen und wir lebten jetzt unter der Regierung seines Enkels Adolf II., der mit vierzig Jahren nach dem Tod seines Vaters Adolf Wolf die Herrschaft übernommen hätte. Den Leuten hat man die Legende erzählt, alle Juden hätten in Madagaskar ihren eigenen Staat bekommen. Die Denkmäler stehen noch, die nationalsozialistischen Werte auch – doch es beginnt zu rumoren. Nächstes Jahr wird eine Revolution angezettelt werden, in deren Folge die Regierung gestürzt werden soll. Finden Sie das schräg? Ist es auch. Aber so gut gemacht, dass es einem bei der Lektüre des Romans kalt den Rücken runterläuft. Nach dem viel beachteten Buch „Die Welle“ von Morton Rhue, das sich mit der Frage befasst, wie so ein Regime wie Hitlers möglich werden konnte, befasst sich „Wenn der Führer wüsste…“ mit einer Möglichkeit von Realität unter einer nationalsozialistischen Herrschaft und dem Aufbegehren der unterdrückten Bevölkerung.

Studentenrevolte unter Adolf II.

Der Studentenführer Rudolf von Bracken und seine Clique sind die Hauptfiguren der Geschichte. Groß geworden mit den nationalsozialistischen Rassegesetzen, sind für ihn die polnischen und russischen Raumpflegerinnen „rassisch minderwertige Arbeitsweiber, die man zumeist nicht wahrnahm oder schlicht übersah“ (S. 15). Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der solche Lebenswirklichkeiten der Romanfiguren erwähnt werden, offenbart die Grausamkeit dieses „Wertesystems“. In Rudolfs Realität sind er und seine Freunde die künftige Reichselite, und das – nach jahrzehntelanger Einprägung dieses Denkens – mit größter Selbstverständlichkeit. Doch während diese künftige Elite zur „neudeutschen Welle“ schwooft, braut sich unter den Studenten ein Aufruhr zusammen. Die strikte Trennung zwischen den unterschiedlichen „Rassen“ weicht auf, die Studenten sind die alten Zöpfe leid, sie wollen sich nicht mehr gängeln lassen. In dieser Aufbruchstimmung kommen Zweifel auf, was das Schicksal der Juden zuzeiten des Zweiten Weltkriegs angeht. Gerüchte kursieren, dass es geheime Akten gäbe. Rudolf und seine Freunde geraten in diese Umbruchzeit und wollen aufklären, was von der Kriegsgeneration der Nazis vertuscht wurde. Wird es ihnen gelingen und wird sich Regierung samt Wertesystem wandeln?

Gar nicht so abwegig …

Heiger Ostertags Roman überzeugt vor allem, weil die Story nicht weit hergeholt erscheint. Hinzu kommen viele kleine sarkastische Einsprengsel vor allem bei den Namen („Hagens Speer“ heißt eine Musikgruppe) oder Bezeichnungen wie „Handfon“ statt Handy. Wen Timur Vermes‘ „Er ist wieder da“ begeistert hat, wird auch an diesem Buch seine Freude und seinen Grusel haben.

Im Anhang erläutert der Autor und Historiker in einer „Historisch-kritischen Nachbetrachtung“ die Hintergründe und Inspirationsquellen, aber auch die Quellen für die eingebauten Fakten der Geschichte. Hier wird deutlich, wie nah an tatsächlichen Begebenheiten oder auch nationalsozialistischen Visionen die Geschichte entwickelt wurde. Das macht den Roman noch beklemmender und zeigt, was uns hätte blühen können, wenn der Zweite Weltkrieg anders ausgegangen wäre.

Dr. Heiger Ostertag (M.A.) gehörte der Luftwaffe an, in der er u. a. eine fliegerische Ausbildung absolvierte. In Freiburg studierte Ostertag Geschichte, Germanistik sowie Nordgermanische Philologie und promovierte mit einem historisch-germanistischen Thema zum Kaiserreich. Seit den 90er Jahren ist Heiger Ostertag als Autor und Historiker in Forschung, Bildung und Lehre sowie als Lektor im Verlagswesen tätig. Die Fachliteratur erschien bei Ullstein, Herder, Rombach und Mittler. Das belletristische Werk wird beim Südwestbuch-Verlag, Gmeiner und im Theiss Verlag/WBV verlegt. Auf der Basis exakter Recherchen und psychologischer Personenprofile entstanden in den 30 Jahren seines Schreibens kontextsituierte Geschichten und zahlreiche Romane von großer Dichte und Spannung.  Unter Pseudonym sind vom Autor weitere brisante Politthriller erschienen. Einige Romane wurden zudem als Hörbuch vertont. Aktuell arbeitet der Schriftsteller am Abschlussband seiner Junker-von-Schack Reihe mit dem Arbeitstitel „Von Austerlitz nach Waterloo“.

Website des Autors: http://www.heigerostertag.de/

Heiger Ostertag: Wenn der Führer wüsste…, Südwestbuch Verlag/SWB Media Entertainment, Calw 2021