Metaphysik des Dauernden im Flüchtigen

Der neuste  Lyrikband von Sybille Fritsch, „DA! Gedichte“, beschwört durch die Dichtkunst eine Metaphysik des Dauernden im Flüchtigen.

In diesem Band sind sowohl schematische, als auch manchmal intuitive Beschreibungen des persönlich erlebten Transzendentalen versammelt – sie gehen Hand in Hand mit Erörterungen von fernöstlichem Gedankengut und mystischer Tradition u.a. des Christentums: „Gib dich zufrieden und sei stille“ (S.11).

Hauptthema des Bandes, die Definition von „Wirklichkeit“ und deren Grenzen wird in Gedichten wie „Haiku I “ (S. 9),  „Vorläufigkeit“ (S. 28) ausgedrückt. Darum bedeutet Fritsch zu lesen immer auf einem Bewusstseinsstrom zu navigieren, auf dem alle Substanzen, Gefühle und Beziehungen unaufhörlich in Transformation sind: „Die nächsten 60“ (S.16) „Da“ (S. 34).

„Komm und wachse“ ist die eine Botschaft: „Ich werde nicht bescheiden sein“ die andere (S. 49).  und zum Moment zu sagen „verweile doch, du bist zu schön“ ist immer Falschheit und Selbstbetrug gewesen; Vervollständigung und Transzendenz wurden so verpasst. Dann wird die Zeit  zu einem Gefängnis, denn wo keine Veränderung stattfindet, wird Stasis zum Verfall: „Ewige Jugend“ (S. 62)  besagt in einem skeptischen Ton, was ebenso unmöglich wie unpassend ist: „Du willst …, dass ich Deinem Blick/anheimfalle/ … die Uhren/rückwärtsdrehn/Wunder wirken“. Stillstand erst bringt Sterblichkeit d.h. Gefangenschaft im Ich: „Zeitstillstand“ (S.74).

Sobald das „Glück ohne Ende“ sich erfüllt, wird es zu einer Erinnerung. Darum ist Glück ohne Ende eine Legende. „Die Legende vom Glück ohne Ende“ (S 65). Das von einer spießbürgerlichen Mittelschicht ersehnte „Glück ohne Ende“ (S. 69) steht als leer und hässlich entlarvt da.

Der Tod ist nicht das Gegenteil vom Leben, Nacht ebenso wenig das Gegenteil von Tag „Sehnsucht“ (S. 76), sondern Ausdruck der Ewigkeit: „Sehnsucht geerdet /in Sinn und Verstand … im Haar.“ Die letzten 7 Zeilen dieses Gedichts erinnern an die Aussage des Sufimystikers Imadeddin Nesimi: „Ins Absolute schwand ich hin. Mit Gott bin ich zu Gott geworden.“ Die Einheit der Welt  besteht in Gott, der nicht außerhalb oder über, sondern in der Welt realisierbar ist: „Zwischentöne“ (S. 82). Jedoch existiert neben der immanenten Gottesebene eine transzendentale (c.f. Spinoza), auf der alle Elemente vereint sind. Das kann man auch von „Ausflug in die Zeit“ (S.100) behaupten.

Gott ist für den Pilger ein Paradox: „Licht ohne gleichen, das dunkel ist,/ in dem wir sehn.“ Des Pilgers Auffassung der Wirklichkeit ist unvollkommen und „beschlagen“ (c.f. 1. Kor. 13:12): Doch am Ende seiner Zeit sieht er ohne Schleier, „Nur eins dies Jahr“ (S.101), „Von Angesicht/ zu Angesicht“. Die Zeit kann nur punktuell Heimat werden, sie bleibt ein Tal der Tränen.

Jenseits der Zeit kann und muss man sich dann von den Elementen treiben lassen – wenn alle Zeiten zu einer Zeit zusammenkommen – das ist die Dialektik von Sein und Nicht-Sein. „Ich“ enthält in einem ewigen Augenblick alle Emotionen und überhaupt alles, was gewesen ist und was kommen wird. Gegensätze und Gegenteile sind versöhnt. „Ich“ ist befreit und nicht in der Zeit, sondern umgekehrt. Diese Herrschaft über die zeit besiegt den Tod: „Liedchen für den ewigen Augenblick – ein kaltes Gedicht“ (S. 88-89). In die Zeit hineingeboren zu sein, heißt auf eine Pilgerfahrt losgeschickt zu werden  – „Nur eins dies Jahr“  (S. 101): „Die Zeit ein Wanderstab/ zu Gott…“ – auf der das Ego vor dem Körper stirbt – „Vorhangbrokat“ (S. 36)  – . Tod und Sterben als Ende des hiesigen Fortlebens bedeuten die Transformation in einen anderen Zustand, die Erlangung von Frieden.

Der Band endet mit dem Gedicht „Gebet“ (S. 105). Eine Bitte an Gott und eine Zusammen- fassung der Merkmale des Pilgerlebens und dessen Hoffnung: „Mut und Neugier“, „Schönheit“, „Klugheit, Liebe dieser Welt/ zu Füßen legen und auferstehn…/ und dir Verstand und Herz und Sinn verdanken/ und meine Schranken testen …/ Ich komme zur Ruh und komm doch nicht zur Ruh,/bis ich ganz göttlich bin./Ich glaube und ich glaube nicht -“. Darum, liebe Leser(innen), mit Sybille Fritsch beten und „AUFSTAND WAGEN…“ !

Sybille Fritsch, „DA! Gedichte“, Geest-Verlag 2024, 116 S., 12 Euro,
ISBN 978-3-86685-974-6

Festival „Das lyrische Foyer“ in Eppendorf

Plakat

Vom 5. bis zum 7. Juli 2024 findet in der Kunstklinik Hamburg zum zweiten Mal „Das lyrische Foyer Festival“ statt.

Dieses Jahr werden neben etablierten Künstler:innen wie der von der Kritik gefeierten Lyrikerin Ulrike Almut Sandig, dem Liedermacher Max Prosa, dem vielfach preisgekrönten Konzeptkünstler Lucian Patermann sowie dem Schauspieler Moritz Russ auch verschiedene junge Hamburger Lyriker:innen (Robert Hahne, Paulina Behrendt, Hannes Franzke) zu Gast sein. Zudem werden Workshops angeboten, in denen zusammen geschrieben werden kann. Auch eigene Gedichte der Besucher:innen erhalten einen eigenen Raum, zum Beispiel beim offenen lyrischen Foyer, einem lyrischen Spaziergang im Eppendorfer Park oder dem poetischen Kreis. Zwischen Lesungen, Workshops, Konzeptkunst, Yoga und Konzerten wird es weitere Möglichkeiten des lyrischen Austauschs geben, zum Beispiel bei gemeinsamen Essen.

„Das lyrische Foyer Festival“ hat sich aus der regelmäßig stattfindenden Veranstaltung „Das lyrische Foyer“ entwickelt. Premiere hatte jene von Fritz Sebastian Konka ins Leben gerufene Veranstaltungsreihe am 29. September 2022. Zu Gast waren dort unter anderem bereits Dota Kehr, Max Czollek, Hasune el-Choly oder Sirka Elspaß. „Das lyrische Foyer“ legt den Schwerpunkt auf die hinter ihrer Lyrik stehenden Persönlichkeiten und kommt nahe. Den Menschen und den Zuschauer:innen. Es wird vorgetragen und analysiert, nachgefragt und interpretiert.

Lyrik jeden ersten Freitag im Quartal

„Das lyrische Foyer“ findet immer am ersten Freitag im Quartal Kunstklinik Hamburg, Martinistraße 44a Hamburg-Eppendorf statt; das nächste Mal im Rahmen des Festivals als offenes lyrisches Foyer am 5.7.2024 um 19.00h. Eigene Gedichte können auf Instagram an @das_lyrische_foyeroder per Mail an das.lyrische.foyer@gmail.com geschickt werden. Alle Gedichte sind willkommen und jede:r kann teilnehmen. Acht Autor:innen werden eingeladen, ihre Gedichte im Rahmen des Festivals vorzutragen.

Das lyrischen Foyer hat sich mittlerweile als Anlaufstelle für den poetischen Austausch im deutschsprachigen Raum etabliert. Es ist eine aktive Community entstanden, die auf Instagram mehr als 1.900 Follower:innen beheimatet. Täglich werden neue Gedichte auf dem Kanal veröffentlicht. Der Kopf hinter dem lyrischen Foyer (Festival) ist der Hamburger Lyriker Fritz Sebastian Konka (https://dasalltaeglichechaos.wordpress.com/ueber-mich/).

Die Tickets für das Festival sind über den folgenden Link erhältlich:

https://www.eventim-light.com/de/a/57330368e4b01fff8947d999/e/6634ce26f3098d58a3c62f7a

Die Preise (zzgl. VVK) gestalten sich wie folgt:

Festivalticket Freitag bis Sonntag, 59 € (ermäßigt bzw. Clique 49 € p.P.), Unterstützungspreis 79 €
Tagesticket Freitag 29 € (ermäßigt bzw. Clique 20 € p.P.), Unterstützungspreis 39 €
Tagesticket Sonnabend 39 € (ermäßigt bzw. Clique 30 € p.P.), Unterstützungspreis 49 €
Tagesticket Sonntag 19 € (ermäßigt 10 € p.P.), Unterstützungspreis 29 €
Einzeltickets 15€ (ermäßigt 10 €) für alle Einzelveranstaltungen, keine Einzeltickets für Workshops

Link zur Festival-Homepage: https://dasalltaeglichechaos.wordpress.com/ 

Instagram: Festival auf Instagram

Rucksack – A Global Poetry Patchwork

Rucksack 2020, Foto: Antje Stehn :: Die Installation ist seit September 2020 im Il Piccolo Museo della Poesia, Chiesa di San Cristoforo (Piacenza/Italien) zu sehen.

Drei unserer Mitglieder, nämlich Emina Čabaravdić-Kamber, Maren Schönfeld und Gino Leineweber, sind an dem internationalen Poesie-Projekt mit Gedichten beteiligt. Das von Antje Stehn initiierte Projekt beschreibt sie auf ihrer Seite thedreamingmachine.com:

Rucksack, bei Global Poetry Patchwork ist ein Kunstinstallationsprojekt, das am 26. September 2020 im Piccolo Museo della Poesia in Piacenza (Italien) eröffnet wird. Es besteht aus zwei Makroarbeiten: einer Installation mit einem großen Beutel, dem Rucksack, aus getrockneten Teebeuteln und einer Ausstellung mit kurzen Gedichten, die am Ende der Ausstellung in das Museumsarchiv aufgenommen werden sollen. Eine Audio-Loop-Installation bietet dem Publikum die Möglichkeit, den Stimmen von Dichtern zu lauschen, die in ihrer Muttersprache rezitieren. Das Werk vereint eine große Anzahl von Menschen, Orten, Visionen, Sprachen und unterstreicht den Wert der Nähe, der in diesem von Distanz und Enge geprägten historischen Moment, von der akuten Prekarität des menschlichen Netzwerks, so bedeutsam ist. 

Warum Tee? Warum Poesie?

Teebeutel haben eine lange Geschichte, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht, als die Chinesen anfingen, kleine quadratische Beutel zu nähen, um das Aroma der verschiedenen Tees besser zu bewahren. Die „Tee- und Pferderoute“ entstand während der Tang-Dynastie (618-907), lange vor der Seidenstraße, um die Handelsbeziehungen zwischen Tibet und China zu festigen. Und seitdem gehören Teebeutel zu den kleinsten Behältern, die wir in jedem Haushalt verwenden und finden. Tragetaschen gehörten zu den ersten Werkzeugen, die Frauen und Männer benutzten, um Gegenstände und Erinnerungen zu transportieren. Unsere Vorfahren waren Jäger und Sammler, aber in Wirklichkeit dominierten Sammler, da 80% ihrer Nahrung aus dem Sammeln von Samen, Wurzeln, Früchten in Netzen, Säcken und in jeder Art von Lichtbehälter stammten. Taschen waren gestern wie heute wichtige Transportmittel, wie wir sehen, dass Tüten in den Supermärkten als Einkaufsbehälter verwendet werden. 

seeking unity / by drawning the argument / in a cup of tea :: Haikuinstallation: Maren Schönfeld / Übersetzung: Barry Stevenson

Poeten aus aller Welt haben Gedichte eingereicht, teilweise auch künstlerisch verpackt, und kurze Filme mit der Lesung ihrer Gedichte in ihrer Muttersprache gedreht. Diese sind auf dem Youtube-Kanal Rucksack a Global Poetry Patchwork zu sehen.

Deutsch-italienischer Lyrik-Nachmittag

Gemeinsam mit der Hamburger Autorenvereinigung gestaltet Antje Stehn mit den Autorinnen und Autoren Emina Čabaravdić-Kamber, Sabrina De Canio, Uwe Friesel, Don Krieger, Gino Leineweber, Claudia Piccino, Mamta Sagar und George Wallace einen Lyrik-Nachmittag. Die Begrüßung übernimmt die Vorsitzende der Hamburger Autorenvereinigung, Sabine Witt (ebenfalls Mitglied der DAP), die Moderation erfolgt durch die Initiatorin des Projektes, Antje Stehn, sowie den Hamburger Autor und Ehrenvorsitzenden der HAV, Gino Leinweber.
Die Lesung findet am Samstag, den 10.07.2021, als Zoom-Meeting statt. Der Beginn ist um 19:00 Uhr. Anmeldung unter info@hh-av.de, den Teilnahmelink erhalten Zuhörer dann per E-Mail.
Die Teilnahmegebühr beträgt € 8, für Mitglieder der HAV frei.

Gefördert von der Behörde für Kultur und Medien.

„Schreib einfach!“

Schreiben kann erfüllen, befreien, berauschen und glücklich machen, aber sich auch als schwierige Angelegenheit entpuppen.  Wie fängt man an, über was und in welcher Form soll man schreiben, wie überwindet man Schreibblockaden? Maren Schönfeld möchte mit ihrem neuen Buch hierzu Hilfestellung leisten, aber nicht nur das. Sowohl für Anfänger als auch für erfahrene Autoren hat sie zahlreiche Tipps und Übungen zusammengetragen, die unmittelbar in die Kreativität führen und dazu einladen, rund um das Thema Schreiben Neues zu entdecken und auszuprobieren. Das erste von insgesamt drei Kapiteln beinhaltet 32 Übungen, die als Schreibimpulse mit teils spielerischem, teils reflektorischem Charakter helfen sollen, in den Schreibprozess zu kommen. Dazu gibt es Anregungen, wie man im hektischen Alltag regelmäßige, kleine Auszeiten zum Schreiben finden kann.
Das zweite Kapitel enthält umfangreiche Anleitungen zum autobiografischen Schreiben, während es im letzten Kapitel um das Thema Lyrik geht. Hier werden unterschiedliche Gedichtformen aus der klassischen Poesie vorgestellt, wie Tanka, Haiku, Sonett, Fünfzeiler, Elfchen und Rondell, dazu Scherz- und Nonsenspoesie, wie Limerick, Leberreim und Klapphornvers. Beispiele zur konkreten Poesie, sowie verschiedene Schreibspiele und Hinweise zu weiterführender Literatur runden das Buch ab.
Wie in allen Disziplinen helfen auch beim Schreiben handwerkliche Kenntnisse enorm, sich besser ausdrücken und weiterentwickeln zu können. Diesbezüglich hat das Buch einen großen Fundus zu bieten. Die fast zwanzigjährige Erfahrung der Autorin als Schreibcoach und Dozentin in der Erwachsenenbildung sind das große Plus des Buches. Die Tipps sind praxisnah und haben sich im Rahmen langjähriger Schreibkurse bei einer großen Teilnehmerzahl bewährt. Der einfühlsame und motivierende Schreibstil macht das Werk zum großen Lesevergnügen.
Fazit: Das Buch wird seinem Titel vollends gerecht und ist sowohl für Anfänger als auch für fortgeschrittene Autoren ein äußerst nützlicher Begleiter, den man immer wieder zur Hand nehmen kann. Eine klare Kaufempfehlung!

 

Taschenbuch : 112 Seiten
ISBN-10 : 3947911432
ISBN-13 : 978-3947911431
Abmessungen : 11.5 x 0.9 x 18.4 cm
Herausgeber : Verlag Expeditionen

Eine nicht eben unfrohe Botschaft

Peter Rühmkorf spricht bei Künstler für den Frieden im St. Pauli-Stadion, Hamburg, 1983, Foto Helga Kneidl, DLA Marbach

Vor fast genau 21 Jahren lernte die Verfasserin dieser Zeilen – noch mitten im Studium und ersten lyrischen Versuchen zaghaft Raum gebend – den großen, ihr jedoch unbekannten Peter Rühmkorf auf einem Literaturseminar im Hause Kempowski kennen. Der  schlaksige Autor saß mit einer Zigarette und einem Glas Wein an einem kleinen, runden Tisch auf der Empore im Spiegelsaal und hob an, aus seinen Gedichten zu lesen; ein rhythmischer, musikalischer Vortrag aus einem Guss, mit Humor und Tiefe, manches Lachen blieb im Halse stecken. Der Klang seiner Verse in dem ihm eigenen Hamburger Slang und mit der leicht angerauhten Stimme zog in Bann, auch die kniffligen Reime fielen auf, noch lange vor der dann folgenden Analyse der Texte auf dem Papier. Die nahm natürlich nicht Peter Rühmkorf vor – der hatte anderes zu tun mit den ganzen Damen, die ihn in den nächsten Stunden umringten. Hausherr Walter Kempowski zog sich bald ins Schlafgemach zurück, während die Heldenverehrung in der so genannten Lotterecke bis tief in die Nacht weiterging – bis wann genau und wie sie endete, wer weiß?

Grappa in Ottensen

Jedenfalls ergab sich Gelegenheit, dem berühmten Poeten, der gar nicht so weit entfernt von der aufstrebenden Lyrikerin wohnte, einige Bücher abzukaufen und sogar ihm wiederum mit klopfendem Herzen und leicht hibbeliger Hand ein Lyrikmanuskript zu überreichen, ihm tatsächlich das Versprechen abzuringen, das Gedichtete zu lesen und zu kommentieren. Seine Widmung im Buch „Außer der Liebe nichts“ lautete: „auf einen Grappa in Ottensen“. Leider kam es nie dazu. Man reiste zurück nach Hamburg, jeder in seine Ottensener Stube, und es verging die schweigende Zeit. Doch dann, als damit kaum noch gerechnet werden konnte, kam ein mit Schreibmaschine getippter Brief mit dem Absender Övelgönne 50. Jedes kleine o war ein Loch im Papier und die großen Buchstaben hopsten nach oben aus der Reihe. Dieser Brief war frech! Es war von „klavieren hier und da“ die Rede und davon, dass es an noch der eigenen, unverkennbaren Stimme fehle. Aber: Vereinzelt anerkennende Bemerkungen, in Witzigkeit gekleidet das Ganze, und am Ende dann doch unglaublich motivierend. Das Klavieren kann man doch nicht auf sich sitzen lassen! Insgesamt war es, gleichsam im Sound seiner Gedichte, eine nicht unfrohe Botschaft. Aber Grappa trinken wollte ich mit dem nicht mehr. Jetzt musste ich erst mal schreiben, schreiben, schreiben …

Laß leuchten! – völlig neues Konzept einer Ausstellung
Foto: SHMH

Es gab keine weitere Begegnung zwischen uns. Aber die Lektüre und Analyse seiner Gedichte, das wiederholte Anhören seiner Lesung auf CD und natürlich dieser freche Brief, das alles hat mein Schreiben und mich geprägt und vorangebracht. Eine Weile nun standen die Bücher im Regal, bis im letzten Jahr die Einladung von der Stiftung Historische Museen Hamburg kam. Diese Ausstellung ist rundum ein Meisterwerk. Die Modernität, die Rühmkorfs Gedichte unter anderem ausmacht, hat das Altonaer Museum zusammen mit der Arno Schmidt Stiftung in Präsentation umgesetzt. Rühmkorf war mit seiner Poetik immer einen Schritt voraus.

Foto: SHMH

Dem Konzeptteam ist es mit digitalen Medien, Bild und Ton, eingebettet in einen wunderbar gestalteten Raum mit Teppich und Mini-Sofas, ebenfalls gelungen. So etwas gab es noch nie. Die Ausstellung beginnt mit dem Werk, dahinter steht der Mensch, also folgen nach den Gedichten und den Installationen, die Besucher zum Mitmachen animieren, erst die Räume mit Rühmkorfs Lebensdaten. Imposant der Turm aus Archivkisten, den Rühmkorf dem Deutschen Literaturarchiv Marbach vermacht hat. Sehr viele Aspekte und Stationen seines literarischen, politischen und persönlichen Lebens werden beleuchtet. Man hätte etwas mehr über Eva Rühmkorf und das gemeinsame Wirken und Leben erfahren können. Am Ende erwartet die Besucher ein in Dauerschleife laufender Film aus der „Lyrik & Jazz“-Produktion. Auch da war Rühmkorf wegweisend.

Ins Gästebuch hat jemand geschrieben, dass die Ausstellung der Werke des Fotografen Fide Struck der Rühmkorf-Ausstellung nicht ebenbürtig sei, was bedauert würde. Aber diese Ausstellung, die von der Arno Schmidt Stiftung mitfinanziert wurde, zeigt eben, was möglich wäre, wenn Museen ein anständiges Budget hätten, statt mit immer mehr Einsparmaßnahmen konfrontiert zu sein. Das sollte doch nachdenklich stimmen und mehr Menschen animieren, die Freundeskreise der Museen zu unterstützen.

Einzigartige Dichtung
Ausschnitt Buchcover „wenn – aber dann“, Rowohlt 1999

Peter Rühmkorf hat mit seiner Art zu dichten die Lyrikwelt geprägt. Die Mischung aus Eloquenz und Schnoddrigkeit, mit der er die großen Themen des Seins und Vergehens bearbeitete; das Reimen über verschiedene Sprachen hinweg, die Musikalität seiner Gedichte – all das wirkt über seine Lebenszeit weit hinaus. Für die Lyriker hat er diverse Einblicke in seine Arbeitsweise hinterlassen, die spannend und inspirierend sind. Denn er, dessen Poeme so leichtklingend daherkamen, hat an jeder Silbe strengstens gefeilt.

Leider dauert die Ausstellung nur noch bis zum 20. Juli. Es lohnt sich, sie noch anzusehen, und es lohnt sich sehr, Rühmkorf zu lesen.


Altonaer Museum Stiftung Historische Museen Hamburg
Museumstraße 23
22765 Hamburg
Tel. 040 428 131 171
www.shmh.de

Öffnungszeiten:
Montag 10 – 17 Uhr / dienstags geschlossen / Mittwoch bis Freitag 10 – 17 Uhr
Samstag bis Sonntag 10 – 18 Uhr
Eintrittspreise:
8,50 Euro / ermäßigt 5 Euro / freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren

Ein Buch mit vielen Zimmern

Zum Lyrikband „Bodenkunde“ von André Schinkel

Buchcover

Es gibt Bücher, die ich nicht mehr aus der Hand legen möchte. Denn sie zu lesen ist, als öffneten sich neue Räume, die entdeckt, betrachtet und bewohnt werden wollen; die lebendig werden durch den neuen Bewohner, der sich in ihnen bewegt. So ein Buch ist „Bodenkunde“ des Lyrikers André Schinkel aus Halle. Seine Gedichte erschließen sich nicht schnell, sie fordern Beschäftigung, auch mehrfache, sie verlangen ihren Lesern etwas ab. Und wer sich darauf einlässt, dem öffnet sich der Sprach- und Bildkosmos des Schriftstellers Schinkel in einer Weise, die einen verändert. Ja, diese Gedichte können etwas verändern im eigenen Weltbild, sie lassen einen neuen, anderen Blick zu – beispielsweise auf Sepien, jene Tintenfische, die man womöglich überhaupt noch nie betrachtet haben mag. Im gleichnamigen Zyklus verwendet, bringt mich die Lektüre der Gedichte zunächst in die Recherche nach dem Meeresgetier, und auch wenn das nicht wichtig ist, zeigt es die sorgfältige Wahl der Metapher: In der Homöopathie wird die Substanz Sepia u. a., wenn der Kranke „eine gewisse emotionale Distanziertheit und Kühle“[1] zeigt, und auch bei Frauenleiden. Es ist nicht wichtig, um diesen starken Zyklus zu verstehen, aber es zu wissen, verleiht ihm noch mehr Tiefe als er ohnehin schon mitbringt. Heute noch Liebesgedichte schreiben, über unglückliche Lieben zumal – ein Wagnis, dünnes Eis. So vieles schon tausendfach gesagt, kaum eine Metapher, die nicht bereits irgendwo verwendet wurde. Aber bei André Schinkel ist alles neu, dicht, „rastlos und atemlos“[2], düster verzaubert durch das Sepienthema und dabei so anerlebbar, nachfühlbar, verstörend schön: „(…) Das ist es, was ich von dir behalte: das Leuchten der / Sepien-Sprossen im Rausch, im bebenden Quirlen solch / Endloser Schwärme in der Brackschicht des Wassers; (…)“[3]

Lesen, immer wieder, leise und laut, nur diese sieben Gedichte des Sepien-Zyklus, und von ihnen umgeben, umschlossen sein, sich in der dichten Sprache bewegen und merken, wie sich einige Verse von selbst ins Gedächtnis einbrennen und sich allein rezitieren. Damit habe ich das Buch begonnen, nachdem ich André Schinkel im März 2018 in Leipzig daraus lesen hörte. Fast genau ein Jahr später habe ich natürlich das Buch mehrmals durchgelesen, all die thematisch unterschiedlichen und breit gefächerten Gedichte, die seinen archäologischen Hintergrund ebenso widerspiegeln wie seine weiteren Tätigkeiten, vieles verbirgt sich zwischen und hinter den Zeilen. Dieses Buch werde ich nie „durchhaben“, glücklicherweise, denn diese Gedichte bleiben ein Raum, der sich für mich geöffnet hat und den ich jederzeit wieder aufsuchen kann. Seine Opulenz, die Sperrigkeit der lyrischen Komposition, die dafür sorgt, dass man sich an manchen Gedichten durchaus ein bisschen abarbeiten muss, hier und dort ein Wort nachzuschlagen hat und überlegen darf, wie dieses und jenes Poem sich in der Beziehung zum Autor und dann zum Leser stellt – das sind für mich die Freuden der Lyrik. Zwischendurch finden sich an konkrete Poesie angelehnte sowie dem Tanka-Maß entsprechende Gedichte, die einen Kontrapunkt oder vielleicht eher einen weiteren Raum hinter dem Raum bilden, in jedem Fall aber die poetische Bandbreite abbilden.

[1] www.homöopathie-online.info
[2] SEPIA, II, S. 18
[3] SEPIA, VII, S. 23

André Schinkel wurde 1972 in Eilenburg geboren, er wuchs in Bad Düben und im Bitterfelder Raum auf. 1988 bis 1991 erlernte er den Beruf eines Rinderzüchters mit Abitur. Er studierte ein Jahr Umweltschutztechnik und danach an der halleschen Universität Germanistik und Archäologie, 2001 erwarb er den Grad eines Magister artium. Seit 2005 arbeitet Schinkel als freier Autor, Lektor, Übersetzer, Herausgeber und Redakteur – so leitet er die Redaktion der Literaturzeitschrift oda – Ort der Augen und ist Redaktionsmitglied der Marginalien. Texte von André Schinkel wurden in siebzehn Sprachen übersetzt, er nahm an Autorentreffen und Poesiefestivals in Italien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Belgien, Bulgarien, Armenien, Bergkarabach teil und wurde als Stadtschreiber in Halle, Ranis und Jena tätig. Seit vielen Jahren arbeitet André Schinkel als Autorenpate, Dozent und Workshop-Leiter an Schulen und in der Erwachsenenbildung. Seine Arbeit wurde wiederholt mit Preisen und Stipendien geehrt, so u. a. mit dem Georg-Kaiser-Förderpreis, dem Joachim-Ringelnatz-Förderpreis, dem Walter-Bauer-Preis und dem Harald-Gerlach-Stipendium des Landes Thüringen. Seit 2016 gibt er die Edition Muschelkalk im Wartburg-Verlag Weimar heraus. Schinkel ist Mitglied des PEN, der Akademie der Künste Sachsen-Anhalt und der Sächsischen Akademie der Künste. Er lebt in Halle (Saale) und ist Vater zweier Töchter.