Kartelle – eine historische Betrachtung aus gegebener Veranlassung

Von Josef- Wilhelm Knoke

„Deutsche Beamte verschärfen Jagd auf Kartelle“, so die Schlagzeile im Wirtschaftsteil der Welt am 15.06.2010. “Kartelle sind grundsätzlich schädlich, weil sie den freien Wettbewerb behindern“ lautete der erste Satz eines Leitartikels der Rheinischen Post vom 25.07.2008 mit dem Titel „Kartelle schaden“. Beide Beispiele reflektieren die negative Konnotation des Begriffs Kartell in der Gegenwart. Die Gründe dafür liegen in unserer heutigen nationalen wie auch europäischen Gesetzgebung und spektakulären Verstößen dagegen.

Beispiele für Verstöße aus jüngster Vergangenheit:
– 2010: Kaffee-Kartell (Bußgeld 160 Mio. €), Brillenglas-Kartell (Bußgeld 115 Mio. €)
– 2007: Bier-Kartell (Bußgeld 274 Mio.€), Aufzugkartell (Bußgeld 992 Mio. €), Reißverschlusskartell (Bußgeld 329 Mio.€), Videokartell (Bußgeld 75 Mio.€);
– 2006: Bleichmittelkartell (Bußgeld 388 Mio.€);
– 2003: Zementkartell (Bußgeld 661 Mio.€);
– 2002: die Kautschuk-Kartelle (Bußgelder 519 + 243 Mio.€).
Die genannten Fälle zogen ein großes Medienecho nach sich, was zu einer zunehmend kritischen Einstellung der Bevölkerung gegenüber Kartellen führte. Dies war nicht immer so, wie uns ein Rückblick auf die zweite Hälfte des 19. und die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zeigt, in denen Kartelle in den meisten europäischen Ländern überwiegend positiv gesehen wurden.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war gekennzeichnet durch eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung mit Wachstums-, aber auch mit Krisenphasen. Nach fast zwanzig Jahren positiver Entwicklung kam es 1873 zur sogenannten „Gründerkrise“, gefolgt von einer langen Phase wirtschaftlicher Instabilität (Rezession bis 1879, kurze Erholung bis 1886 und erneute Krise). In diesem Umfeld entstanden Kartelle. Kleinwächter beschreibt Kartelle als „Kinder der Not“. In Kartellen sah man in erster Linie ein Mittel gegen die Wechselbäder der Konjunktur, zur Vermeidung von Absatzkrisen und ruinösem Wettbewerb. Vor allem in der Grundstoffindustrie kam es zu diversen Kartellbildungen. Diese Entwicklung wurde auch von Bankenseite stark unterstützt, welche die Bildung von Kartellen einer sonst fälligen Marktbereinigung durch Firmenzusammenbrüche vorzog. Mit dem Ende der Depression Mitte der neunziger Jahre kam es dann zu einer Vielzahl von Kartellgründungen, da man inzwischen in breiten Gesellschaftskreisen mehr und mehr von der positiven Wirkung von Kartellen überzeugt war. Kartell stabilisierend wirkten sich die wettbewerbspolitische Abstinenz des Staates (der aber durch Schutzzölle die ausländische Konkurrenz minimierte), eine kartellfreundliche Rechtsprechung sowie die positive Einstellung von Gewerkschaften aus, die geregelte Märkte und Produktion dem ungehemmten Wettbewerb vorzogen. Letztere sahen in Kartellen die Vorstufe zu einem von ihnen erhofften, finalen Zusammenbruch des freien Kapitalismus.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Deutschland je nach Quelle ca. 350 – 400 industrielle Kartelle, wobei allerdings der Begriff „Kartell“ zumeist nicht explizit benutzt wurde. Man gebrauchte stattdessen positiv besetzte Ausdrücke wie: Abmachung, Gemeinschaft, Konvention, Kontor, Vereinbarung, Vereinigung oder Verständigung.
Diese Kartelle hatten überwiegend nationalen Charakter. Es gab jedoch auch – vereinzelt bereits im 19. Jahrhundert, vorwiegend jedoch in der Zwischenkriegsphase des 20. Jahrhunderts – internationale Kartelle. So existierten: mit England 22 Kartelle, mit Österreich 13 Kartelle, mit Belgien 10 Kartelle, mit Frankreich 9 Kartelle. Die ersten internationalen Kartelle mit deutscher Beteiligung datieren von 1881 (Gasrohr-Exportkartell zwischen England und Deutschland, Kesselrohr-Exportkartell zwischen Belgien, Deutschland und England) und 1883 (dem Internationalen Schienenkartell mit zunächst Belgien, Deutschland und England; später kamen Luxemburg, die USA und weitere Länder hinzu).

Man kann sagen, dass Kartelle in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts ein prägendes Element der deutschen Wirtschaft waren. Sie entsprachen einer liberal-korporatistischen Grundhaltung weiter Kreise von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Man empfand sie als eine dem ungeregelten Konkurrenzkapitalismus überlegene Wirtschaftsform. Es gab sehr unterschiedliche Arten von Kartellen. Sie waren geografisch, preispolitisch oder produktionsbezogen ausgerichtet oder in einer Kombination dieser Elemente. Kartelle bestanden immer aus mehreren, rechtlich voneinander unabhängigen Unternehmen, die mittels Vereinbarungen eine Regulierung des Wettbewerbs untereinander anstrebten. Es gab dabei keine gravierenden Unterschiede zwischen nationalen und internationalen Kartellen, wenn man von der erhöhten Schwierigkeit des Zustandekommens bei letzteren absieht.
Zielsetzung von Kartellen war in erster Linie die Stabilisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse gegenüber konjunktureller Volatilität durch gezielte Produktions- und Marktregulierung auf einem auskömmlichen Preisniveau. Kartelle mit der Zielsetzung einer Monopolisierung von Märkten und Preismaximierung bildeten eher die Ausnahme. So haben Kinghorn und Nielsen nachgewiesen, dass in Deutschland nach der Formierung von Stahl- und Kohlekartellen die Preise der entsprechenden Produkte sanken im Vergleich mit Großbritannien, wo es ähnliche Kartelle nicht bestanden.
Internationale Kartelle gab es bereits im 19. Jahrhundert, wobei deren Blütezeit die Zwischenkriegsperiode war. Sie entstanden vor allem im Bereich der Grundstoffindustrien, später jedoch auch in anderen Bereichen. Deutschland war an den meisten internationalen Kartellen beteiligt. Dazu beigetragen hat auch der große Fundus an aufgebautem organisatorischem Wissen durch die lange Erfahrung mit Kartellen in der Kaiserzeit.
Während des Ersten Weltkrieges brachen die meisten internationalen Kartelle zusammen. Dafür wurden staatlicherseits vermehrt nationale Kartelle forciert. Diese sollten den Planungsprozess einer Kriegswirtschaft erleichtern, die Effizienz der Produktion steigern und dem Staat bei der Beschaffung kriegswichtiger Stoffe helfen. Da es dabei zur Angebotsmonopolisierung ganzer Branchen kam, wurde allerdings auch Preismissbrauch betrieben.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erlebten Kartelle eine erneute Blüteperiode, sowohl nationale wie auch internationale. Dabei wurden mit den internationalen Kartellen zum Teil neben ökonomischen auch politische Zielvorstellungen verbunden, da man sie auch als hilfreiches Instrument der internationalen Zusammenarbeit sah. Vom Kontakt und der Zusammenarbeit der Wirtschaftsführer erhoffte man sich „wirtschaftlichen Frieden“, der dann in Folge auch zu stabilem „politischem Frieden“ führen würde.
Während der Weltwirtschaftskrise kam es zum temporären Zerbrechen der meisten internationalen Kartelle, dem jedoch Anfang der dreißiger Jahre bereits Neuanfänge und ein regelrechter Kartellboom folgten. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und die erweiterten staatlichen Eingriffsmöglichkeiten durch das Zwangskartellgesetz von 1933 änderten nichts daran.
Eines der wichtigsten Beispiele für internationale industrielle Übereinkünfte in dieser Zeit ist das internationale Stahlkartell, welches von 1926 bis 1939 bestand, zunächst als (nicht erfolgreiches) Produktionskartell, dann als (erfolgreiches) Exportkartell. In ihm waren in der Endphase nahezu alle Stahl exportierenden Länder vereint. Es galt als ein Musterbeispiel wirtschaftlicher Organisation. Auch hat es ein Stück zur wirtschaftlichen Stabilität in der Weimarer Zeit und zur Normalisierung der deutsch-französischen Beziehungen beigetragen.
Kartelle, nationale wie internationale, waren bis zum Zweiten Weltkrieg ein von den meisten Zeitgenossen aller politischen und gesellschaftlichen Richtungen in Deutschland positiv gesehenes Wirtschaftsinstrument, wenngleich auch aus unterschiedlicher Motivation: bei den einen als fortschrittliches Wirtschaftsinstrument, bei den anderen eher als erhoffte Vorstufe zum Sozialismus und Endstufe des Kapitalismus.
Ausformuliertes Kartellrecht entstand in Deutschland – nach Einzelfallentscheidungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts – erst 1923 mit der Kartellverordnung, der 1930 die Kartellnotverordnung und 1933 das Zwangskartellgesetz folgte.
In den USA gab es dagegen 1890 mit dem „Sherman Act“ bereits sehr früh eine gegen Kartelle gerichtete Gesetzgebung, weil man diese als Behinderung des freien Wettbewerbs ansah. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden unter dem Einfluss der USA Kartelle auch in Deutschland verboten bzw. weitgehend verhindert. Dies geschah gegen den massiven Widerstand politischer und wirtschaftlicher Kreise in Deutschland.
“It took 60 years and two generations to thoroughly cartelize Europe up to the 1930s, and another 60 years for a complete change in policy in favour of intense decartelization.” (Schröter)