Die eugenische Bewegung in den USA

Von Josef Wilhelm Knoke

Die vieldiskutierten Thesen Sarrazins haben zu einer breiten Diskussion der von ihm aufgeworfenen Fragen in der deutschen Bevölkerung geführt. Vor allem der von ihm geäußerte Aspekt einer graduellen Degeneration der Bevölkerung auf lange Sicht wird von heutigen Wissenschaftlern als nicht haltbar angesehen. Dabei ist diese Diskussion absolut nicht neu. Vor allem im angelsächsischen Raum war dies eine weit verbreitete These zu Beginn des 20. Jahrhunderts, lange bevor der Nationalsozialismus mit seinen kruden Philosophien in Deutschland etabliert war. Wie kam es gerade im angelsächsischen Raum dazu?

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu zahlreichen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Entdeckungen im Bereich der Vererbungslehre. In diesem Zusammenhang sind vor allem die grundlegenden Erkenntnisse Charles Darwins zur menschlichen Evolution zu nennen, die Formulierung der Keimplasmatheorie durch August Weismann in den 1880er Jahren und die Wiederentdeckung der Mendelschen Vererbungsregeln im Jahr 1900. Aber auch soziologische und kriminalanthropologische Erkenntnisse spielten eine Rolle bei der Formung einer neuen Lehre, deren Namen durch Francis Galton geprägt wurde. Diese Lehre übertrug die gewonnenen Erkenntnisse über die Vererbung aus Pflanzen und Tierzucht auf den Menschen, und strebte durch gezielte Eingriffe eine qualitative Verbesserung des menschlichen Geschlechts an. Galton nannte die neue Disziplin Eugenik, abgeleitet von dem griechischen Wort εύγενής = edelgeboren, von guter Art.
Eugenik ist durch folgende Annahmen definiert: a) durch die Überzeugung, dass sowohl geistige wie auch körperliche Eigenschaften und bestimmte Krankheiten vererbt werden können und
b) durch die befürchtete Gefahr eines Absinkens des qualitativen genetischen Niveaus einer Nation (Degeneration oder Dysgenik).
Der Grund für die angenommene Degeneration lag in der Annahme, dass es in jedem Volk „Minderwertige“ gibt und diese sich schneller vermehren als die „Hochwertigen“. Durch diese differentielle Geburtenrate würde eine Bevölkerung über kurz oder lang nur mehr aus „Minderwertigen“ bestehen, es würde zu einer genetischen Verschlechterung kommen, die letztlich zum Untergang der Gesellschaft führen würde. Um eine solche Entwicklung nicht eintreten zu lassen, musste diese Tendenz gestoppt werden.
Die soziale Situation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war gekennzeichnet durch zahlreiche Veränderungen. Die Folgen der Sklavenbefreiung durch den Bürgerkrieg, starkes Bevölkerungswachstum, zunehmende Industrialisierung, einsetzende Landflucht, starker Zustrom neuer Einwanderergruppen und die Zunahme von Slums sorgten für sozialen Sprengstoff. Man versuchte der Probleme durch die Schaffung von Heimen für Obdachlose und durch Einrichtungen für soziale Problemfälle Herr zu werden.
Mit Aufkommen des neuen Gedankenguts, dass die Ursache sozialer Probleme womöglich in den Erbanlagen begründet sei, kamen neue Überlegungen zur Lösung dieser Probleme auf. Diese Ideen kursierten zuerst unter progressiv-liberalen Leitern von Heimen und Einrichtungen für Schwachsinnige, Arme und Kriminelle.
Ab Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre erfuhren eugenische Ideen eine enorme Verbreitung durch Wissenschaftler und Organisationen, die sich mit Leidenschaft der Thematik widmeten. Eugeniker sahen sich als Teil der Wissenschaft ihrer Zeit. Sie versuchten mit neuen Theorien und Methoden ihre gesellschaftlichen Wertvorstellungen effizient umzusetzen. Dabei maßen sie Erbanlagen die dominierende Bedeutung zu. Eine Einwirkung äußerer Faktoren wie Bildung, Nahrung oder Lebensumstände auf die Entwicklung von Individuen wurde von Eugenikern bestritten.
Eugenik umfasste Gedanken und Lösungsansätze positiver wie auch negativer Art. Während positive Eugenik auf die verstärkte Vermehrung genetisch “guter” Familien setzte, war negative Eugenik darauf ausgerichtet, Personen mit “negativen” Genen zu isolieren und an der Fortpflanzung zu hindern. Anzeichen für solch negative Gene sah man in “feeblemindedness, alcoholism, pauperism, and criminality”. Anhand von Stammbäumen sozial auffälliger Familien wurde argumentiert, dass eine klare Entwicklung zum Schlechteren im Zeitverlauf nachweisbar sei. Fallbeispiele degenerierter Familien wurden erforscht und medial verbreitet. Wettbewerbe zur Propagierung positiver Eugenik wurden durchgeführt. In Schulen und Universitäten wurde Eugenik behandelt und entsprechendes Gedankengut fand Aufnahme in die offiziellen Schulbücher.
Viele prominente Amerikaner in Politik und Gesellschaft sahen in der Eugenik eine Lösung für soziale Probleme. Gerade liberal eingestellte, progressiv denkende Eliten mit universitärem Hintergrund verbanden Eugenik mit der Erwartung, dadurch eine bessere Gesellschaft schaffen zu können. Das Mittel dazu war eine kontrollierte Reproduktion des menschlichen Geschlechts, durch Konzentration auf Personen mit „besseren“ Genen und Ausschluss von Personen mit „schlechteren“ Genen durch Sterilisation oder Segregation.
Dabei wurden auch ökonomische Argumentationen verwendet. Denn warum sollte man viel investieren in Gefängnisse und Asyle, wenn die Ursachen der Probleme im erblichen Bereich lagen und durch eugenische Maßnahmen korrigiert werden konnten? Insgesamt waren ökonomische Argumentationen, vor allem in der von wirtschaftlicher Stabilität gekennzeichneten Anfangsphase, wohl mehr ein publikumswirksames Mittel zur Überzeugung breiter Massen.
Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts waren eugenische Maßnahmen ein in der amerikanischen Bevölkerung breit verankertes und akzeptiertes Thema. Dies vor allem auch, weil man den gesellschaftlichen Status quo der Nation bedroht sah. Die Gründe dafür umfassten allgemeine Ängste vor einem Verfall der Bevölkerung durch Degeneration. Ursache dafür waren vor allem die großen Einwanderungswellen aus Südosteuropa, sowie Untersuchungen zu der angeblich starken Steigerung des Anteils von Schwachsinnigen in der Gesellschaft. Dieser pessimistische Aspekt der Eugenik bewirkte dann eine Tendenz zum Rassismus.
Als Folge der Verbreitung negativen eugenischen Gedankenguts kam es zu gesetzgeberischen Maßnahmen unterschiedlicher Art, von Ehe-, Rasse- und Sterilisationsgesetzen auf Ebene der einzelnen Bundesstaaten, gutgeheißen durch höchstrichterliches Urteil, bis hin zu restriktiver Immigrationsgesetzgebung auf nationaler Ebene.
Viele prominente Amerikaner aus Politik und Wirtschaft unterstützten die eugenische Bewegung lange durch Wort und Tat. Erst durch große Spenden wurde die Schaffung einer starken, organisatorischen Basis möglich. Auch bekannte Wissenschaftler unterstützten die eugenische Bewegung, zumindest zeitweise. Je mehr aber die Erkenntnisse aus der Genforschung zunahmen, umso mehr waren Wissenschaftler gegen eine Gesetzgebung mit Zwangsmaßnahmen, weil ihnen die Komplexität und das unzureichende Wissen über die Vorgänge der Vererbung bewusst waren.
Es gab allerdings auch Widerstand gegen eugenisches Gedankengut. Neben Biologen und Naturwissenschaftlern waren dies vor allem Anthropologen, Soziologen und einige Journalisten. Diese stellten die wissenschaftliche Qualität der Eugenik grundsätzlich in Frage, und wandten sich gegen eugenische Maßnahmen.
Im Laufe der 1930er Jahre kam es zu einem Abflachen der eugenischen Bewegung. Nachdem dann später die nationalsozialistischen Verbrechen bekannt wurden, die unter diesem Namen verübt worden waren, war die Bewegung vollends diskreditiert.
Dass aber auch nach Ende des 2. Weltkrieges bis in die jüngste Zeit hinein unter Wissenschaftlern unterschiedliche Meinungen zu eugenischem Gedankengut bestehen, wurde an der Diskussion über die Verabschiedung der UNESCO Resolution 1951 sowie über das 1994 in den USA erschienene Werk The Bell Curve deutlich. Die durch die endgültige Erforschung des menschlichen Genoms geweckten medizinischen Ewartungen könnten – bei aller inzwischen erkannten Komplexität -, durchaus in Zukunft zu einer Wiederbelebung eugenischen Gedankenguts führen.
Die Führer der eugenischen Bewegung in Amerika gehörten zur Elite der Gesellschaft Amerikas. Ihre Überlegungen zu einer Verbesserung der Gesellschaft – mit Ausnahme der rassistischen Auswüchse – beruhten auf achtbaren Motiven. Es waren überwiegend gläubige Leute, die aus puritanischen Elternhäusern stammten, mit zum Teil lang zurückreichenden Stammbäumen. Bei ihnen kann man, neben den sozialen Beweggründen, auch eine fast als religiös zu bezeichnende Grundhaltung unterstellen.
Eugenische Überlegungen waren letztlich auch der Versuch, Erkenntnisse der Evolutionstheorie wieder in Einklang zu bringen mit dem christlichen Weltbild. Die Natur ließ Fehlentwicklungen zu, aber der Mensch hatte nun die Möglichkeit, diese zu korrigieren. Aus puritanischer Sicht unmoralisches Verhalten sollte ausgemerzt werden, um so die amerikanische Gesellschaft wieder in ursprünglicher Reinheit herstellen zu können.
Dieses Anliegen führte denn auch zu der breiten Akzeptanz in der amerikanischen Öffentlichkeit. Man sah in eugenischem Gedankengut Werte reflektiert, die man für ein gesundes Staatswesen als erstrebenswert ansah.