Schreiben kann erfüllen, befreien, berauschen und glücklich machen, aber sich auch als schwierige Angelegenheit entpuppen. Wie fängt man an, über was und in welcher Form soll man schreiben, wie überwindet man Schreibblockaden? Maren Schönfeld möchte mit ihrem neuen Buch hierzu Hilfestellung leisten, aber nicht nur das. Sowohl für Anfänger als auch für erfahrene Autoren hat sie zahlreiche Tipps und Übungen zusammengetragen, die unmittelbar in die Kreativität führen und dazu einladen, rund um das Thema Schreiben Neues zu entdecken und auszuprobieren. Das erste von insgesamt drei Kapiteln beinhaltet 32 Übungen, die als Schreibimpulse mit teils spielerischem, teils reflektorischem Charakter helfen sollen, in den Schreibprozess zu kommen. Dazu gibt es Anregungen, wie man im hektischen Alltag regelmäßige, kleine Auszeiten zum Schreiben finden kann.
Das zweite Kapitel enthält umfangreiche Anleitungen zum autobiografischen Schreiben, während es im letzten Kapitel um das Thema Lyrik geht. Hier werden unterschiedliche Gedichtformen aus der klassischen Poesie vorgestellt, wie Tanka, Haiku, Sonett, Fünfzeiler, Elfchen und Rondell, dazu Scherz- und Nonsenspoesie, wie Limerick, Leberreim und Klapphornvers. Beispiele zur konkreten Poesie, sowie verschiedene Schreibspiele und Hinweise zu weiterführender Literatur runden das Buch ab.
Wie in allen Disziplinen helfen auch beim Schreiben handwerkliche Kenntnisse enorm, sich besser ausdrücken und weiterentwickeln zu können. Diesbezüglich hat das Buch einen großen Fundus zu bieten. Die fast zwanzigjährige Erfahrung der Autorin als Schreibcoach und Dozentin in der Erwachsenenbildung sind das große Plus des Buches. Die Tipps sind praxisnah und haben sich im Rahmen langjähriger Schreibkurse bei einer großen Teilnehmerzahl bewährt. Der einfühlsame und motivierende Schreibstil macht das Werk zum großen Lesevergnügen.
Fazit: Das Buch wird seinem Titel vollends gerecht und ist sowohl für Anfänger als auch für fortgeschrittene Autoren ein äußerst nützlicher Begleiter, den man immer wieder zur Hand nehmen kann. Eine klare Kaufempfehlung!
Taschenbuch : 112 Seiten
ISBN-10 : 3947911432
ISBN-13 : 978-3947911431
Abmessungen : 11.5 x 0.9 x 18.4 cm
Herausgeber : Verlag Expeditionen
Kommentar zu Robert Bering & Christiane Eichenberg (Hg.). Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise. Klett-Cotta, Stuttgart, 2020
Die Herausgeber Bering und Eichenberg legen mit dem vorliegenden Band, auch wenn dieser einige sinnvolle Kapitel enthält, einen Schnellschuss vor, der sich (die Hände in Unschuld) gründlich gewaschen hat und sich liest, als habe er jahrelang bereit gelegen, um nun rasch Corona ins Betreff zu setzen. Merkwürdig, dass die akademische Psychologie so still war zum 11. September 2001, zur Einführung von Hartz IV, zur Finanzkrise 2008. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass hier wie dort willfährige Vollstrecker am Werke sind, die psychisch relevante Themen wie etwa die Ein- und Ausflüsse sogenannter globaler Eliten (vgl. Neckel et al. 2018) und „think thanks“ (Bertelsmann vor Corona: 30% der Krankenhausbetten bitte abbauen!) konsequent meinen aussparen zu können.
Wissen
Ein etwaiger Vorwurf des (Kultur-)Pessimismus der hier formulierten Einwände gegen eine Über-Therapeutisierung des Alltäglichen mag unvermeidbar sein, doch, wie der Heidelberger Psychoanalytiker Werner Balzer ganz zutreffend bemerkt, „als Bannfluch verdankt sich dieser Vorwurf selbst einem Ressentiment, einer affirmativen Fortschrittsmelodie, die für sich genommen noch keinerlei starke Argumente enthält“ (Balzer 2020, 11). Also gemach: wir wollen Coronaviren nicht in Frage stellen – das wäre töricht. Es ist hingegen sehr wahrscheinlich, dass die zurzeit in Rede stehende Variante nicht nur existiert, sondern auch gefährlich sein kann – nur wissen wir, die Öffentlichkeit, es eben nicht. Es kann von uns gar nicht gewusst werden. Doch auf die Idee, dass wir viel weniger wissen als wir zu wissen meinen, kommt auch der vorliegende Band nicht. Woher beziehen wir denn unser Wissen? Über die Bilderflut der Medien, die das Bild zwar vom Wort begleiten, es aber, wie nie zuvor, wirken lassen, unverhohlen behauptend: die Kamera lügt nicht. Doch ist es, so er existiert, immer der sprachliche Kontext, der entscheidend ist für irgendein Verstehen. Gleiche Bilder mit ganz unterschiedlichen Texten führen zu komplett konträren Interpretationen. Interessant ist ohnehin eher, welche Bilder nicht gesendet werden. Und so mutet es seltsam an, wenn Kapitel des in Rede stehenden Bandes mit Begriffen wie „Psychoinformation“ und „Wissen“ als resilientem, ja emanzipatorischem Ansatz aufwarten, ohne geklärt zu haben, um welches Wissen es sich überhaupt handelt (vgl. Egloff & Djordjevic 2020), diese vor allem aber kaum imstande sind zu halten, was sie zu versprechen antreten. So bleiben fast alle bearbeiteten Themen des Bandes unterkomplex, weil jene Zusammenhänge nicht ausreichend beleuchtet werden, in denen Mediales einerseits Wirklichkeit widerspiegelt, andererseits ebenso rasch ein Eigenleben gewinnt (Janus et al. 2020). Im ersten Teil wagt lediglich das Kapitel von Beck mit der Nennung von Günther Anders einen Schritt in die richtige Richtung. Doch haben wir es längst mit Verhältnissen zu tun, die Anders kaum erahnen konnte; so bewegen wir uns mittlerweile global im medialen Raum von Hyperrealität: ,„Hyperreality is a consequence of the expansion of technological communication systems that enable us to be globally connected” (Finkelstein 2007). Diese muss in jedem gesellschaftlichen Ereigniszusammenhang mitgelesen werden.
Medien
Ein Kapitel des Bandes rät gar zu Information mittels vorzugsweise öffentlich-rechtlicher Medien, jenen Medien, die seit Monaten rund um die Uhr ängstigende Infektionszahlen zu senden imstande sind, ohne irgendeine Inbezugsetzung zur täglichen Anzahl von Todesfällen in Vergleichsjahren vorzunehmen. Dass nicht nur diese Thematik hochgradig einseitig gehandhabt wird, ist mittlerweile bekannt, hierzu gäbe es dutzende Belege. Wo alle einer Meinung sind, wird wenig gedacht, soll Georg Christoph Lichtenberg festgestellt haben.
In beschleunigten Zeiten eine Ewigkeit ist es her, dass die Einführung des Privatfernsehens diskutiert wurde und die nordrhein-westfälische SPD seinerzeit verdienstvollerweise auf Kulturfenster bei den Privatsendern bestand. Diese Sender haben so oder so frischen Wind ins Fernsehen gebracht, teils mit geradezu subversiven Sendungsformaten, bis nach und nach das Niveau in sehr tiefe Täler abgesenkt wurde, was die Öffentlich-Rechtlichen auf ihren Hauptsendern in nicht unerheblichem Ausmaß und ohne jeden Finanzdruck meinten mitgehen zu müssen. Wir wurden Zeugen derer Einverleibung durch die Systemlogik, sodass über kurz oder lang entscheidende neue Impulse aus alternativen Medien kommen mussten. Wenn überhaupt, dann also bitte Öffentlich-Rechtliche zusammen mit privaten und alternativen Medien als Informationsquelle konsumieren! Man war auch früher schon gut beraten, Ost- und Westfernsehen zu mischen. Ob die Payback-Gesellschaft dies zu reflektieren imstande ist, ist fraglich – Payback bedeutet eben Revanche, und nicht etwa gütliche Rückzahlung.
Psychismus und empirische Wirklichkeit
Keine Frage, ältere und vulnerable Bevölkerungsgruppen zu schützen ist eine gute Idee, insofern konnte man einen „Lockdown“ ein Stückweit schon rechtfertigen. Etikettierungen gegenläufiger Einschätzungen als Verschwörungstheorie bleiben aber allzu oft undifferenziert, und aus dem akademischen Umfeld sollte allemal mehr zu erwarten sein (vgl. Agamben 2020). Unser „alter ego“ steht zumal ohnehin immer bereit, das Gegenteil des scheinbar Vernünftigen zu vollziehen (vgl. deMause 2000). Also: ganz grundsätzlich sollte man bei Etikettierungen als Verschwörungstheorie Vorsicht walten lassen – wer hätte Befürchtungen um Leib und Leben deutschen Juden in der Weimarer Republik Verschwörungstheorie heißen wollen? Empirische Wirklichkeit würde sonst nur noch zu einem Psychismus, der mittels der richtigen Sprache zu korrigieren ist und in dem nicht einmal mehr der Versuch unternommen wird Realität zu ergründen, sondern jede Epistemologie komplett aufgegeben wird.
Und so werden im Band nicht selten Psychisches und empirische Wirklichkeit durcheinander gebracht. Auch Opfer sein wird da mal eben zu einem solchen Psychismus, mittels dessen empirische Wirklichkeit gegen Opfer gewendet und verwendet wird. Schon mal dran gedacht, möchte man fragen, wie gesellschaftliche Verwerfungen mit dem Aufstieg einer neuen Traumatologie zusammenhängen könnten? So wie Kindersymptomatiken oft durch die Behandlung der Eltern verschwinden, schaffen wir einen eben nicht kleinen Teil psychischer Problematiken selbst: Ein zunächst gut gemeinter und teilweise notwendiger äußerer Strukturverlust in den westlichen Gesellschaften ist mittlerweile zu einem inneren geworden, in dem nahezu jeder weitere äußere als normal erscheint (vgl. Egloff 2020). So war es bspw. für einen deutschen Spitzenmanager in den 80er Jahren schlicht nicht möglich, mehr Einkommen als Springer-Vorstand Peter Tamm zu erzielen. Was früher Neurose hieß, ist zur strukturellen Störung geworden, in der statt der neurotischen nun die perverse Lösung bevorzugt wird (vgl. Oberlehner 2011) bzw. die Lösung von Symbolischem und Realem und damit Imaginärem und Realem erfolgt (Rouse & Arribas 2011), eine bedenkliche Entwicklung, die auch aus ganz anderer Perspektive bestätigt wird (vgl. Sarraf et al. 2019). Nicht so in diesem Band: fast alles wird „manageable“. Virtualität ist nach dieser Lesart psychisch gar kein Problem, so smart vernetzt sind wir… Dagegen spricht sehr Vieles (vgl. Fuchs 2014).
Zum Schluss
Die ganz große Müllflut durch Kaffeebecher-to-go entstand bei uns erst, als die Alt-Damen-Cafés schließen mussten – weil Hipster sie nicht mehr hip finden wollten. Ciao Porzellan – willkommen, lieber Pappbecher! Die Inhalte des Bandes sind somit nicht etwa falsch, eher unterkomplex, rekurrieren vor allem aber nicht auf die eigenen Bedingtheiten. Oberflächenphänomene in Zusammenhängen zu denken und in historischem Kontext auszuwerten, da gibt es noch eine ganze Menge zu tun (vgl. Lentricchia & McAuliffe 2003); auf wenigen Textseiten ist dies bspw. vorbildlich für die Fernsehserie „Game of Thrones“ vollzogen worden (Janus 2020).
Doch letztlich ist der vorliegende Band in guter Gesellschaft. Auch kluge Köpfe wie Martin Dornes sind schon in die postmodernen Fallen des Positivismus getappt (Egloff 2015), und auch das „electronic tribe“ greift allzu gern zum alten Hut, der so gut sitzt (vgl. Lentricchia 1991). Daher gilt: Wer von Hyperrealität nicht sprechen will, sollte von Gesellschaftsphänomenen schweigen. Anzumerken bleibt, dass für manche sozial-helfenden Berufe der Band gewiss hilfreiche Anregungen bietet, die sich im dritten Teil finden; der zweite Teil zu therapeutischen Adaptationen bleibt dünn und wenig tragfähig.
Die gelungenen Strecken des Bandes, wenn es bspw. um vulnerable Gruppen geht, und um Arbeitslosigkeit, sind durchaus nützlich, und es gibt gute Kapitel wie das von Vlasak und Barth; andere braucht fast niemand. Bei forscherischem Interesse und für gesellschaftliche Hintergründe besser lesen: „Das Sensorische und die Gewalt“ von Werner Balzer, oder auch „White Noise“ von Don DeLillo.
Literaturhinweise:
Agamben G (2020). Das Denken muss sich befreien, und die Feier des Kultes muss ein Ende haben. Neue Zürcher Zeitung, 14.5.2020.
Balzer W (2020). Das Sensorische und die Gewalt. Zum Seelenleben im digitalen Zeitalter. psychosozial, Gießen.
deMause L (2000). Was ist Psychohistorie? psychosozial, Gießen.
Egloff G (2015). La bête noire. In: Psyche – Zschr Psychoanalyse 69, 8, 756-765.
Egloff G (2020). Don DeLillo, White Noise (1984). In: Egloff G. Culture and Psyche. Lambert, Beau Bassin, 111-124.
Egloff G, Djordjevic D (2020). Preface. In: Egloff G, Djordjevic D (eds.). Pre- and Postnatal Psychology and Medicine. Nova Science, New York, VII-XVII.
Finkelstein J (2007). The Art of Self-Invention. I.B. Tauris, London/New York, 157.
Fuchs Th (2014). The Virtual Other: Empathy in the Age of Virtuality. In: J Consciousness Studies 21, 5-6, 152-173.
Janus L (2020). Nutzung der Pränatalen Psychologie zu einem vertieften Verständnis der Serien „Game of Thrones“ und „The Walking Dead“. In: Janus L. Texte zur pränatalen Dimension in der Psychotherapie. Mattes, Heidelberg, 172-190.
Janus L, Linderkamp O, Djordjevic D, Egloff G (2020). Einflüsse des Pränatalen in Psychosomatik und Gesellschaft. In: gyn – Prakt Gynäkol 25,1, 53-55.
Lentricchia F (1991). Tales of the Electronic Tribe. In: Lentricchia F (ed.). New Essays on White Noise. Cambridge UP, Cambridge/New York, 87-113.
Lentricchia F, McAuliffe J (2003). Crimes of Art and Terror. Chicago UP, Chicago.
Neckel S, Hofstätter L, Hohmann M (2018). Die globale Finanzklasse. Campus, Frankfurt.
Oberlehner F (2011). Von der Normalneurose zur Normalperversion. In: Langendorf U, Kurth W, Reiss H, Egloff G (Hg.). Wurzeln und Barrieren von Bezogenheit. Mattes, Heidelberg, 275-291.
Rouse H, Arribas S (2011). Egocracy. Marx, Freud and Lacan. diaphanes, Zürich.
Sarraf MA, Woodley of Menie MA, Feltham C (2019). Modernity and Cultural Decline. A Biobehavioral Perspective. Palgrave Macmillan, Cham.
Wer wagt eine Reise durch Mali, dieses arme, zumal durch Bürgerkriege zerrüttete Land im Westen des Schwarzen Kontinents? Gute Frage. Da gibt es eigentlich nur einen, der dieses trotz aller Gefahren faszinierende Land liebt und seinen Geheimnissen unbedingt auf die Spur kommen wollte. Der Autor heißt Wolf-Ulrich Cropp, der Grandseigneur in Sachen Expeditionen in Gegenden, die für die meisten von uns terra incognita sind. Mit „Mali und die Dschinns der Wüste“ hat der Autor ein Buch vorgelegt, das – 300 Seiten stark – den Leser vom ersten bis zum letzten Satz in seinen Bann schlägt.
Der erste Anlauf in Richtung Sehnsuchtsort misslang. Widrige Umstände verhinderten die Weiterreise von Nordafrika ins Innere des Kontinents. Resignation? Keine Spur. Dafür erkundet der Autor einen Teil Marokkos. Der Streifzug durch dieses Land, dessen Königsstädte, besonders Marrakesch, an Märchen aus 1001 Nacht erinnern, bilden die Ouvertüre zu weiteren Abenteuern, die noch im Dunkeln liegen. Cropp führt uns durch die blendend weißen Sanddünen der Sahara, gewährt Einblicke in von schattigen Dattelpalmen gesäumte Oasen und lässt uns an einem Ausflug in den Osten des Hohen Atlas teilhaben. Wir tauchen ein in das Gewusel der bunten lauten Märkte von Tanger und Casablanca und lassen uns von den Wohlgerüchen des Orients betören. Des Autors hohe Kunst des Erzählens führt den Leser mitten hinein ins Geschehen, lässt ihn hautnah teilnehmen am Erlebten.
Damit ist der erste Teil des Abenteuers Afrika zunächst beendet. Jedoch Schwierigkeiten sind dazu da, gemeistert zu werden, lautet die Maxime des Autors. „Die Kraft des Baobab, des Affenbrotbaumes, liegt in seinen Wurzeln“, besagt ein malisches Sprichwort, mit dem Cropps Einstieg in die 2-Millionen-Metropole Bamako beginnt. Die Zustände im „Maison des Jeunes“, wo der Mann sich einquartiert, entsprechen nicht den Vorstellungen verwöhnter Europäer. Statt klimatisierter Zimmer erwartet den Gast ein stickiger Schlafsaal mit Kakerlaken und anderem Getier. Während sich auf den Brücken der Stadt eine einem riesigen Wurm nicht unähnliche Autoschlange nur mühsam fortbewegt, waschen dunkelhäutige Frauen in den trüben Wassern des Niger ihre Wäsche und sehen den jungen Leuten zu, die ausgelassen in der Brühe baden. Lokalkolorit vom Feinsten. Hier und da ergibt sich ein Dialog mit einheimischen Händlern, die ihr großes Angebot an Souvenirs an den Mann bringen wollen und sich gleichzeitig einem Schwätzchen mit einem Fremden sehr aufgeschlossen zeigen.
Wir verlassen Bamako und wenden uns der Großen Moschee von Djenné zu, einem Gotteshaus, das mit seiner Wehrhaftigkeit einer gigantischen Trutzburg gleicht. Und weiter geht es nach Fourou, zu einer der Goldgruben Afrikas. Viele arme Schlucker hoffen, hier das große Los zu ziehen. Aber es sind die mächtigen Konzerne und politische Kreise, die den Reibach machen. Die kleinen Leute gehen, wie üblich, leer aus. Kismet. Das nächste Kapitel widmet sich der abenteuerlichen Flussfahrt auf einer Pinasse, die ihren Anfang in Mopti am Zusammenfluss von Niger und Bami nimmt und fünf Stunden später wegen eines Motorschadens ihr unrühmliches Ende findet.
Endlich liegt sie vor uns: Timbuktu, die Stadt der Legenden und Geheimnisse, die den Autor schon aus der Ferne in seiner Jugend faszinierte. „Da war sie wieder, die Vorstellung vom magischen Ort der Sehnsüchte und Begierden“, schreibt er. „Allein der Name ‚Timbuktu’ beseelt Entdeckerlust. Eine Oase, die die Fantasie anregt, Sklaven- und Schutzkarawanen kommen und am Horizont entschwinden lässt … Die aber auch von Glanz, Reichtum, ja sogar von Wissenschaft, Lehre und Forschung berichtet.“ Diese „Perle der Wüste“, „Stadt der 333 Heiligen“ und einstiges Zentrum islamischer Wissenschaft und Kultur, ist kostbarer Bestandteil des UNESCO Weltkulturerbes. Hier ist der Autor in seinem Element. Ein anderer Hamburger, der Afrika-Forscher Heinrich Barth, hat an diesem magischen Ort bereits im 19. Jahrhundert akribisch geforscht und unauslöschliche Spuren hinterlassen. In der Rue Heinrich Barth besucht der Hanseat Cropp das kleine Museum und entrichtet unter der Gedenktafel seinen Obolus. Ehre, wem Ehre gebührt!
Die Fahrt durch die Wüste bei sengender Hitze nimmt nur ein Masochist auf sich oder einer, der den Geschehnissen aus dem Jahre 2003 auf die Spur kommen will. Rufen wir uns doch den Austausch deutscher Geiseln gegen Terroristen ins Gedächtnis, der tagelang Thema Nummer eins in Rundfunk, Fernsehen und Presse war. Hier, wo rivalisierende Tuareg-Clans und Glaubensfanatiker ihr Unwesen treiben, fand die lebensgefährliche Aktion statt. Der Autor beschreibt sie so lebendig, als wäre er selbst dabei gewesen. Die Wüste fasziniert ihn, obgleich er ihre Gefahren und Tücken bis ins Detail kennt. Diese Leidenschaft teilt er mit dem legendären Flugpionier Antoine de Saint-Exupéry, der die Wüste einst als die schönste und gleichsam traurigste Landschaft auf Erden pries.
Im Kapitel „Am Rande des Abgrunds“ kommen wir endlich mit den im Titel des Buches erwähnten Dschinns in Berührung. Dschinns sind böse Geister in der Gestalt islamistischer Gruppierungen, denen sich zeitweise die Tuareg anschlossen: Rebellengruppen aus Algerien, dem Niger, dem Nordosten Malis und Libyen. Kein schöner Gedanke, bei einem Ritt auf dem Dromedar diesen finsteren Gesellen zu begegnen. Doch der Autor ist offenbar ein Sonntagskind, denn, wie man auf gut hamburgisch zu sagen pflegt: „Es hat ja noch mal gut gegangen“ während seines nicht ungefährlichen Ausflugs in die Wüste. Wohl auch, weil er sich an die alte Tuareg-Weisheit hielt, die fordert: „Ein Reisender soll Augen und Ohren aufreißen, nicht das Maul.“ Ita est.
Mali – zum letzten Mal. Wirklich? Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Denn zuvor lassen wir uns noch auf den „Fluss der Krokodile“ und in eine Fetischhöhle entführen. Auch einem Besuch in der “Bar der Ratten“ weicht der Autor nicht aus. Sie befindet sich in einem Hotel in Kora, aus dem sich diese unappetitlichen Nager nicht vertreiben lassen wollen. So lässt man sie halt gewähren. Afrikanisches laisser-faire, laisser-aller halt: „Hélas, on n’en peut rien faire.“ Man kann leider nichts dagegen tun, heißt es mit einem Achselzucken. Aber keine Sorge. Die Hotelangestellten beteuern, es gehe keine Seuchengefahr von den Viechern aus. Hoffen wir’s Beste, liebe Leser.
Der Besuch einer Schule in Touréla, in der unter primitivsten Umständen zweisprachig unterrichtet wird, in der Landessprache Bambara und auf französisch, räumt mit vielen Vorurteilen über die oft zitierte Trägheit der Afrikaner auf. Trotz Saunatemperaturen in einem kleinen, mit fünfzig Kindern besetzen Klassenraum geht es sehr diszipliniert zu. Den Nachwuchs dürstet es nach Wissen. So nehmen die Kleinen häufig mehrstündige Wege auf schlechten Straßen und schlammigen Pfaden in Kauf, um lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Alle Achtung! Bildung war von jeher der erste Schritt in eine bessere Zukunft.
Mir hat die Lektüre dieses Buches großes Vergnügen bereitet, zumal ich dabei viel über diesen Teil Westafrikas erfahren habe, von dem ich vorher so gut wie nichts wusste. Mein herzlicher Dank für diese „Erleuchtung“ gilt dem Autor Wolf-Ulrich Cropp. Zum Schluss soll der Abenteurer und Weltenbummler noch mit einem Bekenntnis zu Wort kommen: „Der Mensch braucht das Gefühl von unentdeckten Horizonten, das Geheimnis unbewohnter Landstriche. Er braucht den Ort, wo Wild auf der Jagd ist, weil Land, das Wild hervorbringen kann, gesundes, robustes Land ist.“ Dem ist schwerlich etwas hinzuzufügen.
Ich möchte noch auf den umfangreichen Anhang aufmerksam machen, in welchem der Autor neben einem Abriss zur Geschichte Malis wertvolle Hinweise und Empfehlungen für Wüstenfahrer erteilt. Hinweise auf Sehenswürdigkeiten und eine Fotogalerie im Inneren des Buches tun ihr Übriges, um das Lesevergnügen zu steigern.
„Mali und die Dschinns der Wüste“ von Wolf-Ulrich Cropp
300 Seiten, reich illustriert, ist im Verlag Expeditionen erschienen
– ISBN 978-3-947911-20-2 – Preis: Euro 14,90
Erst vergisst sie ein Kind aus ihrer Gruppe auf dem Spielplatz und dann fährt ihr auch noch so ein Modepüppchen ins Auto – die Woche fängt ja gut an!
Als Leserin bin ich sofort in der Geschichte, die so temporeich beginnt. An der Seite der Erzieherin Iris geht es, zeitweilig mit einem Eierlikör gestärkt, weiter durch deren turbulente Tage, eben wie im echten Leben. Vor der Lokalkulisse Hamburgs erzählt Autorin Lilo Hoffmann die Ereignisse zweier sehr verschiedener Mitbewohner – von denen eine das Modepüppchen werden wird – und die Erlebnisse der Hauptperson Iris. Deren Freund Alex war am Anfang ganz hinreißend und ist nun eher ins Vage abgedriftet, bevor er sie mit einer nicht vorhersehbaren Lebenswendung überraschen wird. Neben Modepüppchen Dana, ihres Zeichens Radiomoderatorin und mit schrägen Typen bekannt, kommt Iris sich manchmal wenig hip vor, bis sie herausfindet, dass da auch nicht alles Gold ist, was glänzt. Die Eierlikör-Tradition ihrer Großmutter bildet eine stabilisierende Konstante für Iris und erfreut die Leserin gleichermaßen. So treibt das Leben Iris in diverse lustige und weniger lustige Situationen, es geht um Abschiede und (neue) Freundschaften, um dumme und schöne Zufälle. Iris gibt sich keine Mühe, die hippe Großstädterin zu geben, sondern schaut mit sympathischer Verwunderung und vielleicht ein wenig heimlicher Verehrung Danas Treiben zu. Sie verbiegt sich nicht, sondern bleibt sich treu und verweigert sich auch mal, wenn es ihr zu bunt wird. Ich habe dieses Buch gern gelesen, mit Iris mitgefiebert und ihr das Beste gewünscht, das sie meiner Meinung nach unbedingt verdient hat. Eine wunderbare Lektüre zur Entspannung, vielleicht mit einer Tasse Kaffee – oder einem Eierlikör.
Lilo Hoffmann: Wenn das Chaos perfekt ist
Verlag Tinte & Feder, 2020, 283 Seiten
Taschenbuch und E-Book
Rezension zu Inge Seiffge-Krenke:DiePsychoanalyse des Mädchens.
Klett-Cotta, Stuttgart, 2017, Neuauflage 2019
Die Autorin, langgediente Psychoanalytikerin und Lehrstuhlinhaberin für Entwicklungspsychologie an der Mainzer Universität, legt einen reichen Band zur weiblichen Psyche vor. Nach der Altersentwicklung unterteilt, werden unter Einbeziehung aktueller Forschungsliteratur die phasenspezifischen Besonderheiten vom frühesten Kindes- bis ins Erwachsenenalter dargelegt und ausführlich die familiendynamischen Implikationen wie auch speziell die Eigenheiten der Mutter-Tochter-Beziehung erörtert.
Problembereiche weiblicher Entwicklung bis ins Erwachsenenalter
Dem über 400 Seiten starken Werk merkt man die langjährige praktische und forscherische Erfahrung an, und nicht nur Kollegen und Kolleginnen, die auch Kinder behandeln, auch interessierten Laien, die die sehr spezifischen Problembereiche weiblicher Entwicklung bis hinein ins Erwachsenenalter nachvollziehen möchten, kann dieser Band empfohlen werden.
Erfreulich ist dabei einerseits der Bezug auf die zur Zeit aus der Mode gekommene Triebtheorie, die auch notwendig ist, um dem Trend zur Auflösung der Psyche in bloße Beziehungsaspekte entgegenzuwirken. Dennoch ist die Beziehungsdimension des Psychischen in den Ausführungen der Autorin immer vorhanden, so wie auch die somatischen Aspekte von Weiblichkeit stets beleuchtet werden. So beschreibt Seiffge-Krenke eindrucksvoll die Eigenarten von Prä-Adoleszenz und Adoleszenz; der gar nicht so selten auftretende Fall von Unterbauchbeschwerden im Jugendalter führt beispielsweise häufig zum Drängen von Müttern auf operativ-technische Intervention bei ihren Töchtern. Hier gibt der Band klaren Einblick in die psychosomatische Gemengelage und die Familiendynamik.
Es dominieren hier nicht Säuglingsforschung oder akademische Psychologie, sondern konsequent psychodynamische Konzepte. Wiederum muss angemerkt werden, dass zwar ein beträchtlicher, doch eben nur ein Teil der Psychoanalyse des Mädchens vertreten ist, die schon in Frankreich an einigen Stellen anders beschrieben wird. So beklagt die Autorin die ex-negativo-Definition des Weiblichen durch viele klassische Triebtheoretiker – was nicht automatisch heißt, dass das Mädchen mehr als der Junge ein Mängelwesen ist; ein Fehlschluss, dem nicht wenige Analytiker unterliegen. Die Negation bezieht hier aus dem Negierten ihre Kraft; es gibt dazu verschiedenste Überlegungen und gelungene Richtigstellungen (vgl. Fellmann & Redolfi 2017). Zudem ist aus der Praxis gut bekannt, wie weibliches Empfinden sich im Körperlichen konstellieren kann und dass die Bedeutung des Phallus nicht bloßer Theorie-Fetisch ist. Selbst der Phallus, der Penis plus die psychische Vorstellung von Mangel, ist aber ohne eine gute Portion Strukturalismus nicht zu verstehen.
Die psychosexuelle Entwicklung des Mädchens wird in diesem Band jedoch in vielen Facetten behandelt, die zu einem breiten Bild führen und auch ins Detail gehen. So findet auch die Rehabilitierung der Urethra als psychosexuelles Organ ihren Platz. Wiederum bleibt die gesellschaftliche Dimension etwas unterrepräsentiert, so zum Beispiel wenn es um die Frage nach der Konzeption eines Ich geht, das mit gesellschaftlichen und anderen Strebungen konfrontiert wird, die im Individuationsprozess aufeinanderprallen. Man könnte fragen: wo ist das je, wo das moi? Kategorien, die nicht nur bei Ärzten des Seelendunkels auftauchen, sondern etwa auch im gut beleumundeten symbolischen Interaktionismus eines George Herbert Mead.
Manche neuen und alten Problemstellungen wie die der repressiven Entsublimierung (vgl. Kroll 2018; Pfaller 2009) müssten einer Integration zugeführt werden, anstatt, wie es der Band an manchen Stellen tut, die durchaus fragwürdige Möglichkeit menschlicher Vollständigkeit zu suggerieren. So wie wir uns alle vorstellen können, was mit Identität gemeint ist, so schwierig, ja vermutlich unmöglich ist dieses Konzept, und nur vor pragmatischem Hintergrund ist es halbwegs nützlich. Personale Identität, die, wenn überhaupt, eben einmal im Sinne eines Selbst in adaptiver Bewegung zwischen den Polen Totalität und Diffusion (Straub 2017) zu verstehen ist, trifft nicht nur auf Deprivation, sondern auch auf Verwerfungen der lebensweltlichen strukturellen Ordnung, die Depravation genannt werden dürfen.
Wo ist das Irrationale?
Als ergänzende Fragestellung bleibt ebenso offen, wo eigentlich das Irrationale, das Widersinnige ist, das sowohl in, aber auch außerhalb des methodologischen Individualismus zu finden ist und auch in der Praxis erscheint. Gewiss fühlen wir uns einer rational-empirischen Taxonomie verpflichtet, doch auch die therapeutische Praxis wird mit den Verwerfungen der Postmoderne konfrontiert. Und so bleibt das psychoanalytische Mindestziel der Ablösung infantiler Bindungen (Stuttgarter Gruppe 1995) ähnlich unterbetont wie die Diagnostik der Auflösung struktureller Ordnung, die eine Neubestimmung der Subjektposition verlangt, die zwischen Weltlosigkeit und Welthaltigkeit pendelt, aber keinen Anspruch auf irgendeine Legitimation stellt. So stellt die Dezentrierung des Subjekts womöglich nicht die Lösung, sondern das Problem dar (vgl. Egloff 2015).
Vielseitige Zugänge zu weiblichem Erleben
Zudem gibt es Performanz-Aspekte, die auf Trieb-Objektbeziehungs-Konstellationen hinweisen, in denen der psychoanalytische Akt (Schmid 2001; Egloff 2012) Transformationen herbeiführt oder anstößt. Daher ist dieses Konzept von enormer Bedeutung auch für Behandler, die nicht genuin analytisch arbeiten. In Ansätzen zur Performanz ist dies in Seiffge-Krenkes Band vorhanden. Die große Stärke liegt aber eher in den Grundlegungen weiblicher Sozialisation und Persönlichkeitsbildung sowie den vielseitigen Zugängen zu weiblichem Erleben auf leiblich-seelischer Ebene, und dies sehr gut lesbar. Historische und literarische Fall-Vignetten geben dem Band dazu eine leichte Note und bieten eine fundierte Psychologie und Psychopathologie des Weiblichen in Form einer engagierten Bestandsaufnahme der klinischen psychoanalytisch-entwicklungspsychologischen Praxis. Dennoch läuft es darauf hinaus, dass manche Konzeptionen des Psychischen neu durchdacht werden müssen. Im Grunde hat die Psychologie gleichermaßen mehr Biologie und mehr Soziologie nötig.
Literaturhinweise:
Egloff G (2012). Objektbeziehung und Performanz – zur relationalen Dynamik der Libido. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, Jg. 61, 7, S. 497-511.
Egloff G (2015). Integrative Psychoanalyse. In: Janus L, Kurth W, Reiss H, Egloff G (Hg.). Verantwortung für unsere Gefühle. Mattes, Heidelberg, S. 301-333.
Fellmann F, Redolfi E (2017). Aspects of Sex Differences: Social Intelligence vs. Creative Intelligence. In: Advances in Anthropology, Jg. 7, 4, S. 298-317.
Kroll A (2018). Aktuelle Perspektiven zu Sozialisation und Kindheit (Rezension zu Egloff G (ed.), Child-Rearing: Practices, Attitudes and Cultural Differences, New York, 2017). In: Deutsches Ärzteblatt PP, Jg. 16, 7, S. 332.
Pfaller R (2009). Die Sublimierung und die Schweinerei. In: Psyche, Jg. 63, 7, S. 621-650.
Schmid M (2001). Der psychoanalytische Akt. In: Gondek HD, Hofmann R, Lohmann HM (Hg.). Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk. Klett-Cotta, Stuttgart, S. 49-73.
Straub J (2017). Personale Identität. Vortrag, 31. Jahrestagung der Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie (GPPP), Der Wandel der Identitätsstrukturen und Beziehungen im Laufe der Geschichte, Heidelberg, 17. März 2017.
Stuttgarter Gruppe (1995). WSPO analytische Psychotherapie, Kinder und Jugendliche.
Auszüge aus dieser Rezension sind erschienen im Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie, Gablitz/AT, 2018; 19 (1), 45 und in gyn – Praktische Gynäkologie, Hamburg, 2019; 24 (4), 339-340
35 Jahre nach dem Abitur fährt Barbara zu einem Klassentreffen in ihre Geburtsstadt Gleiwitz. Bei einem Abstecher in den Vorort ihrer Kindheit ist es wie ein Déjà vu, als sie zwei Mädchen im Garten spielen sieht. Es erinnert sie an ihre Gemeinschaft mit ihrer Freundin Hanna, deren Großmutter Anfang der 1990er Jahre hierher zurückgekehrt ist. Aber was ist aus Hanna geworden?
Die Freundinnen hatten seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr. So wird Kathrin von K., Hannas Großmutter, nicht nur die Vergangenheit wieder aufleben lassen, sondern auch die Gegenwart lebendig machen und die Kindheitsfreundinnen wieder zusammenführen. Hanna, die sich nach dem Tod ihres Sohnes in ein Kloster zurück gezogen hat, und Barbara, die selbst einen querschnittsgelähmten Sohn hat, finden zu ihrer alten Freundschaft zurück. Renate Gandor-Glodny zeichnet ein einfühlsames Porträt von Menschen verschiedener Generationen, die Widrigkeiten in ihrem Leben überstehen müssen. Barbaras Sohn Alexander hat sich in einem geistigen Kosmos aus Literatur verschanzt und sich damit, ähnlich wie Hanna, in seinem Schmerz isoliert. Barbara lebt nur noch für Alexander und meint, kein Recht mehr auf ein eigenes Leben zu haben, solange es Alexander schlecht geht. In der wiedererstandenen Gemeinschaft der Freundinnen, ergänzt durch die Großmutter und Alexander sowie durch Andreas, der behutsam in Barbaras Leben tritt, erstarken die einzelnen Persönlichkeiten und finden zu einem tiefen Zusammenhalt. Wie der Buchtitel es schon benennt, ist diese Geschichte ein Plädoyer für Mut und Zuversicht, dass auch in den vermeintlich dunkelsten Momenten von irgendwoher ein Licht kommt und dass die Hoffnung zuletzt stirbt. Gerade in der heutigen Zeit baut diese Art Lektüre die Leserinnen und Leser gewiss auf und entlässt sie mit einem positiven Gefühl.
Renate Gandor-Glodny wurde 1944 in Posen geboren und lebte bis zu ihrer Ausreise 1979 nach Hamburg in Gleiwitz/Gliwice. Sie studierte am Polytechnikum in Gliwice und schloss das Studium als Dipom-Ingenieurin ab. Seit 1960 schreibt sie, zunächst Gedichte, später auch Prosatexte und journalistische Texte. Sie ist außerdem freie Übersetzerin und Journalistin.
Renate Gandor-Glodny: Steh auf und geh Verlag Tredition, Hamburg 2012
Die Frage, mit welchem Geschenk man seine langjährige Ehefrau noch überraschen könnte, soll das Leben des Autors Joachim Frank komplett auf den Kopf stellen. Eigentlich hat er es ja gar nicht mit Hunden. Hunde sind überhaupt nicht sein Ding. Und dass er eines Tages nicht nur einen Hund haben, sondern auch über ihn schreiben würde, das hätte er wohl selbst nicht gedacht. Für alle, die jetzt denken: „Nicht noch’n Hundebuch…!“ – das hier ist anders, denn es beschreibt die Wandlung eines Hundehassers zu jemandem, der dem Charme des kleinen Fellknäuels erliegt. Der Autor ist nicht für Gefühlsduseleien bekannt, und so ist auch sein neuestes Buch auf zurückhaltende Weise berührend. Es gibt informative Einblicke in ein Leben mit Hund, denn Joachim Frank thematisiert Unsicherheiten genauso wie erfreuliche Momente, Probleme in der Hundeerziehung, aber auch Kosten für den Tierarzt und dergleichen, sodass dieses Buch auch als Entscheidungshilfe für oder gegen einen Hund dienen kann. Alles das mit einer gekonnten Mischung aus Humor und Sachlichkeit kurzweilig erzählt.
Hier ein Auszug, den wir mit freundlicher Genehmigung des Verlags FRED&OTTO – Der Hundeverlag, Berlin, veröffentlichen:
Auszug Kapitel 1-3:
Der Tag beginnt
Ob Birka noch schläft?
Ich blinzele aus meinem Bett zu unserer Cockerspaniel-Hündin hinüber, die eingerollt in ihrem Körbchen liegt. Schon Zeit zum Aufstehen?
Im Sommer sind die Nächte kurz in Schweden, und erste Sonnenstrahlen dringen bereits früh am Morgen in unser Schlafzimmer. Wie spät ist es? Wenn ich jetzt zum Wecker lange, ist es mit der Nachtruhe vorbei. Dann weiß Birka nämlich, dass ich wach bin, kommt sofort an mein Bett und stupst mich an. „Hey“, scheint sie mir zu sagen, „ich bin auch schon wach, das Wetter ist herrlich, komm raus aus deiner Kiste, von mir aus können wir gleich loslegen!“
Ich bin kein Langschläfer und liebe die frühen Stunden des Tages. Also schaue ich doch auf die Uhr. Ist es allerdings vor sieben, dann sage ich: „Birka, es ist noch zu früh“. Diesen Satz kennt sie und trottet folgsam in ihr Körbchen zurück. Spätestens zwanzig Minuten später steht sie jedoch erneut vor meinem Bett, um mich zum Aufstehen zu bewegen. Sanft berührt ihr Näschen meinen Ellenbogen, und wenn ich in ihre braunen Augen schaue, kann ich gar nicht anders, als meinen Arm auszustrecken und sie zu streicheln.
Birka ist nicht sehr schmusig, aber am Morgen fordert sie ihre Streicheleinheiten regelrecht von mir ein. Meine Hand gleitet über ihr schwarz-weißes Köpfchen, hinter und unter ihre Ohren, die sich wie flauschige Waschlappen anfühlen. Darunter gibt es zwei ganz besonders empfindsame Stellen, kleine Vertiefungen am Ansatz ihrer wuscheligen Ohren, und wenn meine Finger sie dort sanft massieren, schmiegt Birka ihr Köpfchen fest an meine Handfläche, um durch den Gegendruck ihren Genuss zu erhöhen. Voller Dankbarkeit leckt sie gleichzeitig mit ihrer etwas rauen, fast trockenen Zunge über meinen Unterarm. Ein Moment inniger Verbundenheit ist das zwischen uns.
Höre ich mit den Streicheleinheiten auf, weil mein ausgestreckter Arm müde wird, stupst Birka mich erneut an, damit ich weiter mache. Oder sie dreht mir ihre Rückansicht zu, sodass ich oberhalb ihres Schwanzansatzes mit dem Kraulen fortfahre. Sie hockt sich hin, rückt aber nach und nach immer ein wenig weiter von mir weg. Nie habe ich begriffen, warum. Ich recke mich und strecke mich also bis an die Grenze meiner Reichweite. Ist das ihr „Trick“, mich aus dem Bett zu lotsen und zum Aufstehen zu bewegen? Wird die Entfernung zwischen uns zu groß, beende ich die Liebkosungen und lasse mich zurück in die Kissen fallen, vielleicht kann ich ja doch noch ein halbes Stündchen rausschinden und ein wenig im Bett dösen. Doch Birka gibt nicht auf! Erneut kommt sie ganz nah heran, stupst mich an und fordert weitere Streicheleinheiten.
Immer, wenn wir unseren Sommerurlaub in Schweden verbringen, wiederholt sich dieses morgendliche Ritual so oder so ähnlich, bis Birka unruhig wird und aus dem Schlafzimmer galoppiert. Ich kapituliere und stehe auf. Und genau das ist ihr eigentliches Ziel ‒ und das Signal! Voller Begeisterung rennt unsere Hündin in Richtung Haustür, denn sie weiß, dass gleich unsere ausführliche Morgenrunde durch den Wald beginnen wird. Das Wetter ist schön, die Natur lockt, und wir beide freuen uns auf den gemeinsamen Spaziergang über Stock und Stein, Hügel rauf und Hügel runter, durch hohes Gras, über weite Wiesen und dichten Wald. Für Birka hält jeder junge Morgen tausend und einen verlockenden Geruch bereit, und ich genieße es, mit ihr zusammen zu sein, meinen Gedanken nachzuhängen, die frische Luft zu atmen und mich aufs Frühstück zu freuen, das meine Frau Elke in der Zwischenzeit für Mensch und Hund vorbereiten wird. Kann ein Tag schöner beginnen?
Ich gestehe, dass ein derartiger Tagesbeginn vor unserer Zeit mit Birka so ziemlich das Letzte gewesen wäre, was ich mir gewünscht hätte. Schon der Gedanke, mit einem Hund in einem Zimmer schlafen zu müssen, hätte mich in Angst und Schrecken versetzt. Kein Auge hätte ich zugetan! Die Vorstellung, dass ein Hund Teil meines Lebens werden könnte, lag mir so fern wie der Mond. Mit Hunden hatte ich nämlich bis dahin rein gar nichts am Hut, und daraus machte ich keinen Hehl. Im Gegenteil! Wie es zu diesem erstaunlichen, von mir selbst für unmöglich gehaltenen Wandel vom Hunde-Hasser zum Hunde-Vater kam, das ist die Geschichte, die ich erzählen möchte.
Was schenke ich bloß?
Ich saß an meinem Schreibtisch und grübelte. Wie ein Papier gewordenes Fragezeichen lag die Glückwunschkarte vor mir auf dem Schreibtisch, denn der Geburtstag meiner Frau stand vor der Tür. Doch bevor ich das Hauptgeschenk nicht hatte, war es unmöglich, die passenden Formulierungen zu finden. Und genau da lag der Hase im Pfeffer, weil mir gerade das noch fehlte!
Wenn man jahrzehntelang verheiratet ist, fällt es nicht leicht, zu jedem Geburtstag des lieben Partners eine Überraschung aus dem Hut zu zaubern. Männern soll das bekanntlich noch schwerer fallen als Frauen, und ich bin da keine Ausnahme.
Also goss ich mir noch ein Glas Rotwein ein und ging in meinem Arbeitszimmer auf und ab. Zwar hatte ich bereits ein paar kleinere Geschenke gekauft, jedoch war nichts wirklich Tolles darunter. Meine Nervosität wuchs, denn die Zeit drängte.
Ratlos tigerte ich hin und her, dachte über Karten für Konzerte oder Theater nach, über Gutscheine von Parfümerien, Einladungen in Restaurants und so weiter. Wie langweilig! Das übliche Buch und eine CD hatte ich zum Glück schon. Aber ein Knüller fehlte, eine richtige Überraschung, etwas, worüber Elke sich wirklich freuen würde. Bloß was?
Vor dem Fenster blieb ich stehen und schaute auf die Straße. Es dämmerte bereits, das fahle Licht der gegenüberliegenden Straßenlaterne fiel auf den nassglänzenden Asphalt und Wind trieb herabgefallene Blätter vor sich her. Herbststimmung. Wenn mir doch bloß dieses verdammte Geschenk einfallen würde! Verzweifelt nahm ich noch einen Schluck Rotwein, der aber leider auch nicht die zündende Idee bewirkte. Nervös trommelte ich mit den Fingern auf die Fensterbank. Ganz hinten bog jemand um die Ecke und kam die Straße entlang. Ein Spaziergänger, na ja, nichts Ungewöhnliches. Ich erkannte eine Frau, die einen Hund an der Leine führte. „Hoffentlich schei … der nicht vor unser Haus“, ärgerte ich mich schon im Voraus, denn das konnte ich nun gar nicht leiden. Überhaupt Hunde! Absolut nichts für mich. Im Gegenteil!
Gerade wollte ich mich vom Fenster abwenden, als jener Gedanke durch meinen Kopf zuckte, der unser Leben vollständig verändern sollte.
Der Entschluss
Plötzlich erinnerte ich mich an den lange gehegten Herzenswunsch meiner Frau, der allerdings unerfüllbar zu sein schien. Nicht weil dessen Verwirklichung zu teuer oder aus anderen Gründen utopisch gewesen wäre. Nein, ich war das Hindernis, das im Weg stand!
Schon oft hatte Elke mir von ihrer Kindheitsliebe erzählt, nämlich von Birka, einer schwarz-weißen Cockerspaniel-Hündin, mit der sie aufgewachsen war. Seitdem waren Jahrzehnte vergangen, in denen sie nie einen Hund besessen hatte, weil ich mich strikt weigerte, diese Möglichkeit überhaupt nur in Betracht zu ziehen.
Zurück an meinem Schreibtisch, starrte ich auf die noch immer unbeschriebene Glückwunschkarte, die wie eine stumme Mahnung vor mir lag. Ich goss mir Rotwein nach, kaute an meinem Stift. Ein Hund? Sollte ich ihr einen Hund schenken? Tausend Gedanken und Fragen schossen durch meinen Kopf. Ich wägte ab, stellte mir vor, verwarf wieder. Andererseits: Was wäre das für eine Überraschung! Dazu müsste ich allerdings meine Abneigung und vor allem meine Angst vor Hunden überwinden. Wollte ich das? Konnte ich das überhaupt? Zwei Seelen kämpften in meiner Brust. Gerade stellte ich mir noch Elkes Freude vor, dann stiegen schon wieder Erinnerungen und Bilder von ärgerlichen, peinlichen und von Furcht geprägten Erlebnissen in mir auf. Wie anders hatte Elke immer reagiert, wenn wir irgendwo Hunden begegnet waren! Wie liebevoll hatte sie beinahe jeden x-beliebigen Köter – so meine übliche Bezeichnung für diese „Kreaturen“ – mit vor Zuneigung glänzenden Augen gestreichelt, während ich am liebsten einen weiten Bogen um jeden Hund gemacht hätte.
Es gärte, brodelte, tobte in mir. Konnte ich? Wollte ich? Wie wäre wohl das Leben mit einem solchen Hausgenossen? Was würde sich ändern? Konnte ich meine Angst durch einen kleinen eigenen Hund, den wir selber erzogen, überwinden?
Vielleicht war es voreilig, unbedacht und einer momentanen Laune geschuldet, vielleicht half der Rotwein, vielleicht war es die Vorstellung von Elkes Freude, dass ich mir endlich einen Ruck gab. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“, sagte ich mir, „schließlich werden wir beide nicht jünger, und wenn wir uns auf das Abenteuer eines Hundes einlassen wollen, muss das jetzt geschehen.“ Aber ein kleines Hintertürchen wollte ich mir allerdings offen halten …
Beherzt griff ich zum Stift und fügte der üblichen Gratulation und den besten Wünschen für das kommende Lebensjahr hinzu: „Ich freue mich sehr, dass Du Dein Leben so überaus aktiv und fröhlich gestaltest und genießt. Prima! Aber fehlt da nicht etwas? Ist da nicht noch ein ganz lang gehegter Wunsch zu erfüllen? Drehst Du die Karte um, weißt Du, was ich meine. Und schließlich kommen wir in ein Alter, da sollte man die erfüllbaren Wünsche auch verwirklichen. Um es kurz zu machen: Ich schenke Dir einen Hund Deiner Wahl – wenn Du ihn denn willst.“
Ich goss den Rest der Rotweinflasche in mein Glas, lehnte mich zurück und dachte: „Worauf lässt du dich damit bloß ein? Aber vielleicht hast du ja auch Glück, und sie will gar keinen Hund mehr haben.“
<><><><><><><>
Ob der Autor aus dieser Nummer wieder rauskommt? Eher nicht …
Als Lektüre empfohlen:
Joachim Frank: Wie ich lernte, einen Hund zu lieben
FRED&OTTO – Der Hundeverlag, Berlin 2019
Zur Website des Verlags
Nicht umsonst beginnt das neueste Buch von Maren Schönfeld, der preisgekrönten Lyrikerin, mit einem Gedicht: „Du hast mir den Rücken gebeugt, mir im Nacken gesessen, meine Träume aufgezehrt, mir die Zeit gestohlen…“ Schon die ersten Zeilen von „Strategie des Schmerzes“ treffen den Leser mitten ins Herz. Da schreibt eine Autorin, die es von frühester Kindheit an lernen musste, mit teilweise unerträglichen Schmerzen zu leben. Da, wie Maren Schönfeld bereits im Vorwort anmerkt, Krankheit in unserer Gesellschaft als Störfaktor wahrgenommen wird, stellt der Umgang mit einem chronischen Leiden, gegen das bis heute kein wirksames Medikament entwickelt wurde, eine fast übermenschliche Herausforderung für die Betroffenen dar. Aber das Buch der Autorin mit dem etwas sperrigen Titel „Wenn du Schmerzen hast, gehe langsam“, soll all jenen Mut machen, die sich bereits in ihr Schicksal ergeben haben und resigniert meinen, man müsse das Leiden halt so hinnehmen. Dass dies nicht so ist, beweist dieses schmale Werk auf jeder seiner 148 Seiten.
Odyssee durch Arztpraxen
Die in Kapitel 1 geschilderte gesundheitliche Geschichte der Autorin beschreibt ihre schier unendliche Odyssee durch die Praxen von Orthopäden, Physiotherapeuten, Allgemeinmedizinern und Schmerztherapeuten. Verblüfft sind alle über die enorme Beweglichkeit ihrer Patientin, die zudem noch regelmäßig Yoga treibt. Doch gerade diese „Hypermobilität“, die einer der Ärzte schließlich diagnostiziert, ist Maren Schönfelds Problem. Hier liegt der Schlüssel, der der Patientin ihr Krankheitsbild in einem anderen Licht zeigt und sie nach Rücksprache mit Fachleuten darin bestätigt, dass ihre Strategien, mit den Schmerzen zu leben, die einzig richtigen sind.
Akribisch blättert Maren Schönfeld ihr Leben vor uns auf, beginnend mit ihrer Geburt im Jahre 1970. Nachdem die Großmutter feststellt, dass ihr neun Monate altes Enkelkind zwei verschieden lange Beine hat und verschiedene Ärzte sich dieses Problems annehmen, beginnt eine unendliche Leidenszeit für das kleine Mädchen. Nur ein paar Stichworte: Die diagnostizierte Hüftdysplasie und linksseitige Hüftluxation erfordern nicht nur ständiges Röntgen, sondern auch Spreizhosen und Eingipsung bis zur Taille. Schlimmer geht’s nimmer. Oder etwa doch? Der aufmerksame Leser wird auf den folgenden Seiten eines Besseren belehrt und wundert sich darüber, was ein Mensch – zumal ein so junger – alles aushalten kann.
Maren Schönfeld protokolliert in den folgenden Kapiteln, wie sie trotz aller Widerstände und Schmerzen ihr Leben gemeistert hat. Es muss nicht betont werden, dass sie es in der Schule, wo Sport immer eine übergeordnete Rolle spielte, nicht leicht hatte. Da Maren langsam ist, wird sie nolens volens von den Mitschülern als Letzte in eine Mannschaft aufgenommen und mit Hand- und Medizinbällen attackiert, wenn sie im Tor steht. Aber Schwamm drüber, denn die Autorin hat einen wachen Verstand und kompensiert all diese Widrigkeiten mit ihrem Interesse an Literatur. Während andere laufen, springen und turnen, verschlingt sie Bücher von Erich Kästner, Christine Nöstlinger, Astrid Lindgren, Otfried Preußler und anderen Autoren. Ein gutes Beispiel dürfte Astrid Lindgren, die geistige Mutter von Pipi Langstrumpf, gewesen sein, die bekanntlich mit dem Schreiben ihrer weltweit berühmten Werke begann, als eine längere Krankheit sie ans Bett fesselte.
Zwischengedichte
Und da sind wir bereits bei einem weiteren Aspekt von „Wenn du Schmerzen hast, gehe langsam“ – Maren Schönfelds wunderbaren Gedichten, die sie zwischen die Kapitel über ihre Krankheitsgeschichte eingestreut hat. Nicht immer leichte Kost, wie das folgende Gedicht „An der Angsthand“ beweist:
Gehen
kleine Schritte
die Angsthand hält
das klopfende Herz
keine Angst sagt die Angst
ich bin ja da lasse dich nicht
(S. 100)
Vom Alltag mit chronischen Schmerzen
In Kapitel 7 schildert Maren Schönfeld ihren Alltag mit „benennbarem“ und „unbenennbarem“ Schmerz. Sie weist darauf hin, dass alles Benennbare von anderen akzeptiert und mit Ratschlägen bedacht wird, während der Leidende mit dem nicht benennbaren Schmerz ganz allein ist und keine Hilfe von außen erwarten kann: „Du gehst durch tiefste Täler und stehst irgendwann wieder oben, und nebenbei lebst du dein Leben, spielst deine Rollen, und vielleicht ist das für andere Menschen das Hauptleben“, schreibt sie. Noch tiefere Einblicke in das zum Teil grausame Erleben der Betroffenen gewährt Maren Schönfelds Gedicht „Schmerz pur“ auf Seite 105.
Das vorletzte Kapitel dieses aufrüttelnden Buches beinhaltet alphabetisch geordnete „Praktische Stärkungen von A bis Z“, beginnend bei Arbeit, über Bewegung, Disziplin und Experimentieren bis W wie Wärme. Zu Z ist ihr nichts eingefallen, dafür aber zu gerade für die Damenwelt wichtigen Themen wie Kleidung, Kosmetik, Kultur und Schuhe. Letzteres dürfte jedoch ein Problem darstellen für jene Frauen, die gern auf sogenannten high heels herumstöckeln, auch wenn die Füße schmerzen. Maren Schönfelds Credo lautet: “Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass wir nur Schuhe tragen, in denen wir so gut wie möglich gehen können.“ Gut gebrüllt, Löwin. Aber sei’s drum.
Zu guter Letzt noch ein paar wertvolle Tipps von A bis Z im Hinblick auf mentale Stärkungen: Von Annehmen und Achtsam sein bis Zutrauen. Dem letzten Punkt, der sich eingehend mit dem Fortschritt der Medizin und besseren Behandlungs- und Heilungsmethoden als im Jahr des Heils 1970 befasst, sollte besondere Beachtung geschenkt werden. Denn hier keimt Hoffnung für alle Betroffenen auf.
Wer sich durch Maren Schönfelds Buch „durchgeackert“ hat, ist um viele Erkenntnisse reicher. Es dient auch als Anleitung für uns “Gesunde“, die nur hin und wieder eine Schmerztablette nehmen, sich in die Welt jener hinein zu versetzen, die tagtäglich mit zum Teil unerträglichen Schmerzen leben müssen. Es ist daher jedem zu empfehlen – ob Schmerzpatient oder nicht. Ein wenig Demut hat noch keinem geschadet. Dieses Buch ist nicht nur wegen seines klaren verständlichen Stils lesenswert, sondern beeindruckt besonders dadurch, dass die Autorin trotz ihres Leidensdrucks an keiner Stelle in Larmoyanz verfällt.
Die Lesung fand am 12. Juli in den Bethanien-Höfen der Evangelisch-Methodistischen Gemeinde in Hamburg-Eppendorf auf Einladung der Hamburger Autorenvereinigung statt. Sabine Witt, die Vorsitzende der HAV, leitete die Veranstaltung gewohnt souverän.
„Wenn du Schmerzen hast, gehe langsam“ ist im Verlag Expeditionen erschienen, hat 148 Seiten und kostet € 6,90 als Taschenbuch und als E-Book € 3,99.
ISBN: 978-3-947911-07-3
Zum Lyrikband „Global ins Affental“ von Rüdiger Stüwe
Mit einem gewissen Herrn Fiek, dessen Namen auf Ansage der Mutter in die Länge zu ziehen war – die Kinder gehorchten in diesem Fall aufs Wort – (Aufs Wort, S. 11) beginnt der Gedichtband des Lyrikers Rüdiger Stüwe aus Schleswig-Holstein. Und daran, dass die Kinder in diesem Fall gehorchten, ist sogleich zu erkennen, dass sie ansonsten eher aufmüpfig waren. Die Aufmüpfigkeit hat der Schriftsteller sich bewahrt und in seine meist kurzen, immer prägnanten Verse verstrickt. Mit wachem Verstand, scharfem Blick und einer Portion Ironie – die manchmal ins Tragische geht – betrachtet Rüdiger Stüwe sein Umfeld mit den weniger oder mehr bekannten Zeitgenossen. Er widmet sich dem (eigenen) Älterwerden oder, nennen wir es ruhig beim Namen, dem Verfall mit tragikomischer Note: „Noch immer / sehe ich mich / hoch zu Ross / Windmühlenflügel // bekämpfend doch / meine Figur / ähnelt schon lange / Sancho Pansa.“ (Gravierende Veränderung, S. 18).
Fünf Kapitel umfasst der Gedichtband, dessen Bandbreite von freien Gedichten über Lautgedichte im Stile Jandls bis zu Kinderversen – nicht nur für Kinder – reicht. Er versammelt Aphorismen, Haiku und Limericks. Diese Formen verbindet Rüdiger Stüwe auch mit Themen des aktuellen Zeitgeschehens und bezieht Position zu von ihm empfundenen Missständen regional und global. Das stumme Paar, das jeweils zum eigenen Smartphone redselig wird und damit das Kaffeegartenpublikum erfreut (Moderne Kommunikation, S. 70); das Trumpeltier, von es dem unverblümt heißt: „ (…) Mit alternativen Fakten / bringst du den all so Beknackten / sicher nicht zu Fall. (…)“(Trumpeltier, S. 72) bis hin zum Nachbarn, der mit seinem im Wind schellenden Klangspiel die Nachbarschaft in den Wahnsinn treibt (Gegenlärm, S. 68) – Rüdiger Stüwe nimmt all das wahr und lenkt die Leseraufmerksamkeit auf diese kleinen oder auch größeren Momente und Situationen, mit denen wir alle zu tun haben und die uns angehen, ob wir wollen oder nicht.
Ich würde ihn als Realpoet bezeichnen: Rüdiger Stüwe sagt, was ist, er nimmt kein Blatt vor den Mund, er verzichtet auf Schnörkel und Brimborium, seine Sprache ist eingängig und eloquent. Oftmals habe ich gegrinst, manchmal blieb mir das Grinsen auch weg. Und wann dem Lyriker die Wutwurzel schnurzel ist, das möge der geneigte Leser selbst herausfinden (Wutwurzel schnurzel, S. 84).
Rüdiger Stüwe: Global ins Affental, Donat Verlag, Bremen 2018
Biografie: Geboren in der Kalten Heimat, vor den Russen geflohen mit Mutter und Bruder; verschlagen ins idyllische Heidedörfchen Schneverdingen, wo die Häuser noch nummeriert waren und die Leute sehr fromm, jedenfalls war die Kirche immer voll; das färbte nicht sehr ab, nach krummer Schullaufbahn und anschließender Flucht ins Schülerheim (in Hermannsburg) Industriekaufmann gelernt (Hanomag Hannover); eigentliche Lehre auf dem Fußballplatz und im Jugendwohnheim der Arbeiterwohlfahrt Hannover; nach der Desertation als kaufmännischer Angestellter ins Lehrfach (Deutsch und Geschichte) ging es mit der Firma bergab, zur Zeit ist sie in japanischer Hand (Kommatsu); Lehrerlaufbahn, die letzten 18 Jahre an einer Gesamtschule, überzeugter Anhänger einer gemeinsamen Schule für alle Schüler bis zum 10. Schuljahr; heute als Schriftsteller lebend in Ellerbek, Mitglied im deutschen Schriftstellerverband (VS), im Literaturzentrum e.V. Hamburg, in der Hamburger Autorenvereinigung und im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt.
Es gibt Bücher, die ich nicht mehr aus der Hand legen möchte. Denn sie zu lesen ist, als öffneten sich neue Räume, die entdeckt, betrachtet und bewohnt werden wollen; die lebendig werden durch den neuen Bewohner, der sich in ihnen bewegt. So ein Buch ist „Bodenkunde“ des Lyrikers André Schinkel aus Halle. Seine Gedichte erschließen sich nicht schnell, sie fordern Beschäftigung, auch mehrfache, sie verlangen ihren Lesern etwas ab. Und wer sich darauf einlässt, dem öffnet sich der Sprach- und Bildkosmos des Schriftstellers Schinkel in einer Weise, die einen verändert. Ja, diese Gedichte können etwas verändern im eigenen Weltbild, sie lassen einen neuen, anderen Blick zu – beispielsweise auf Sepien, jene Tintenfische, die man womöglich überhaupt noch nie betrachtet haben mag. Im gleichnamigen Zyklus verwendet, bringt mich die Lektüre der Gedichte zunächst in die Recherche nach dem Meeresgetier, und auch wenn das nicht wichtig ist, zeigt es die sorgfältige Wahl der Metapher: In der Homöopathie wird die Substanz Sepia u. a., wenn der Kranke „eine gewisse emotionale Distanziertheit und Kühle“[1] zeigt, und auch bei Frauenleiden. Es ist nicht wichtig, um diesen starken Zyklus zu verstehen, aber es zu wissen, verleiht ihm noch mehr Tiefe als er ohnehin schon mitbringt. Heute noch Liebesgedichte schreiben, über unglückliche Lieben zumal – ein Wagnis, dünnes Eis. So vieles schon tausendfach gesagt, kaum eine Metapher, die nicht bereits irgendwo verwendet wurde. Aber bei André Schinkel ist alles neu, dicht, „rastlos und atemlos“[2], düster verzaubert durch das Sepienthema und dabei so anerlebbar, nachfühlbar, verstörend schön: „(…) Das ist es, was ich von dir behalte: das Leuchten der / Sepien-Sprossen im Rausch, im bebenden Quirlen solch / Endloser Schwärme in der Brackschicht des Wassers; (…)“[3]
Lesen, immer wieder, leise und laut, nur diese sieben Gedichte des Sepien-Zyklus, und von ihnen umgeben, umschlossen sein, sich in der dichten Sprache bewegen und merken, wie sich einige Verse von selbst ins Gedächtnis einbrennen und sich allein rezitieren. Damit habe ich das Buch begonnen, nachdem ich André Schinkel im März 2018 in Leipzig daraus lesen hörte. Fast genau ein Jahr später habe ich natürlich das Buch mehrmals durchgelesen, all die thematisch unterschiedlichen und breit gefächerten Gedichte, die seinen archäologischen Hintergrund ebenso widerspiegeln wie seine weiteren Tätigkeiten, vieles verbirgt sich zwischen und hinter den Zeilen. Dieses Buch werde ich nie „durchhaben“, glücklicherweise, denn diese Gedichte bleiben ein Raum, der sich für mich geöffnet hat und den ich jederzeit wieder aufsuchen kann. Seine Opulenz, die Sperrigkeit der lyrischen Komposition, die dafür sorgt, dass man sich an manchen Gedichten durchaus ein bisschen abarbeiten muss, hier und dort ein Wort nachzuschlagen hat und überlegen darf, wie dieses und jenes Poem sich in der Beziehung zum Autor und dann zum Leser stellt – das sind für mich die Freuden der Lyrik. Zwischendurch finden sich an konkrete Poesie angelehnte sowie dem Tanka-Maß entsprechende Gedichte, die einen Kontrapunkt oder vielleicht eher einen weiteren Raum hinter dem Raum bilden, in jedem Fall aber die poetische Bandbreite abbilden.
[1] www.homöopathie-online.info [2] SEPIA, II, S. 18 [3] SEPIA, VII, S. 23
André Schinkel wurde 1972 in Eilenburg geboren, er wuchs in Bad Düben und im Bitterfelder Raum auf. 1988 bis 1991 erlernte er den Beruf eines Rinderzüchters mit Abitur. Er studierte ein Jahr Umweltschutztechnik und danach an der halleschen Universität Germanistik und Archäologie, 2001 erwarb er den Grad eines Magister artium. Seit 2005 arbeitet Schinkel als freier Autor, Lektor, Übersetzer, Herausgeber und Redakteur – so leitet er die Redaktion der Literaturzeitschrift oda – Ort der Augen und ist Redaktionsmitglied der Marginalien. Texte von André Schinkel wurden in siebzehn Sprachen übersetzt, er nahm an Autorentreffen und Poesiefestivals in Italien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Belgien, Bulgarien, Armenien, Bergkarabach teil und wurde als Stadtschreiber in Halle, Ranis und Jena tätig. Seit vielen Jahren arbeitet André Schinkel als Autorenpate, Dozent und Workshop-Leiter an Schulen und in der Erwachsenenbildung. Seine Arbeit wurde wiederholt mit Preisen und Stipendien geehrt, so u. a. mit dem Georg-Kaiser-Förderpreis, dem Joachim-Ringelnatz-Förderpreis, dem Walter-Bauer-Preis und dem Harald-Gerlach-Stipendium des Landes Thüringen. Seit 2016 gibt er die Edition Muschelkalk im Wartburg-Verlag Weimar heraus. Schinkel ist Mitglied des PEN, der Akademie der Künste Sachsen-Anhalt und der Sächsischen Akademie der Künste. Er lebt in Halle (Saale) und ist Vater zweier Töchter.
Dieses kleine Buch – es umfasst knapp 80 Seiten – hebt sich wohltuend von so manchem Werk ab, das sich wortreich mit den Befindlichkeiten Hamburgs beschäftigt und allzu oft dieselben Sujets in den Mittelpunkt stellt. Mit „Töne, metallen, trägt der Fluss“ hat Maren Schönfeld einen Band vorgelegt, der Lyrik und Prosa rund um Geschichten und Geschicke der Hansestadt elegant mit einander verbindet.
Postkartenromantik ist nicht die Sache der Autorin. Sie richtet ihr Augenmerk nicht auf die allseits bekannten Sehenswürdigkeiten der Stadt, sondern leuchtet völlig andere Aspekte aus. Und dies in der ihr eigenen klaren Sprache. Das Gedicht „Heute Nacht“ ist ein besonders schönes Beispiel ihres schnörkellosen Stils: „Durch die Zahnlücken / der Stadt pfeift / Sturm heute Nacht // das Lied der verlorenen / Gedanken, die wir suchen“ Dem Stadtteil Ottensen – im Volksmund „Mottenburg“, in welchem Maren Schönfeld seit Langem wohnt, widmet sie vier Strophen, in welchen sie den Wandel eines ehemaligen Industriestandortes mit rauchenden Schornsteinen und rußigen Häuserfassaden in einen sogenannten „In“-Stadtteil beschreibt. Hier im ehemaligen Quartier der armen Glasbläser, deren Lungen durch ihr aufreibendes Metier irreparable Schäden erlitten, die der Volksmund sarkastisch „Motten“ nannte, leben heute vornehmlich Künstler und arrivierte junge Leute, die gern ihren Latte Macchiato in einem der vielen Cafés und Bistros genießen. Sie wissen nichts von dem Elend, in welchem die Altvorderen dieses Quartiers einst ihr Leben fristeten. Continue reading „Lyrischer Spaziergang an den Gestaden der Elbe“
Als die Protagonistin Laura nach fast zwanzig Jahren wieder in das Ferienhaus der Familie zurückkehrt, um dort die Haushaltsauflösung voranzutreiben, ergreifen sie traumatische Erinnerungen. Ihren Freund, der sie begleitet, weist sie aggressiv zurück. Ihr Aufenthalt in dem Haus beschert ihr ein Déjà-vu nach dem anderen, ausgelöst von Dingen wie dem Kacheldekor in der Dusche. Was war geschehen in dem einen Sommer mit Onkel Edi, der auf die damals Elfjährige aufpassen sollte? Und wer wusste davon?
Brigitte Cleves klar und taktvoll geschriebener Roman basiert auf einer wahren Begebenheit. Diese Geschichte könnte sich überall abgespielt haben, denn in den meisten Fällen findet Missbrauch in der eigenen Familie oder im engeren sozialen Umfeld statt. Wie die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung von Kindesmissbrauch in einer Studie 2016 ermittelte, waren in 70 Prozent der 200 untersuchten Fälle die Täter aus Familie und sozialem Umfeld. Dass die Familien den Opfern nicht glauben, dass die Mütter meistens Bescheid wissen und wegsehen, ist für die Opfer sehr verstörend.[1]
Rezension zu Zana Ramadani: Die verschleierte Gefahr. Die Macht der muslimischen Mütter und der Toleranzwahn der Deutschen. Europa-Verlag, Berlin, 2017
Politische Korrektheit ist zu einem Menetekel geworden. Einst als sprachbewusste Kategorie gestartet, hat sich der Begriff von Gegenständen und Sachverhalten abgelöst und rückverwandelt nun die Realität in bloße Sprachspiele. Wenn alles eingeebnet ist und gut Begründetes gleichrangig neben schlecht oder gar nicht Begründetem steht, ist alles gleichwertig. Kultur heißt aber auch, Unterscheidungen treffen zu können. Politische Korrektheit ist eben nicht wissenschaftliche, auch nicht epistemologische Korrektheit, sondern ein politischer Imperativ, den man teilen kann oder eben nicht. In der jetzigen Handhabung ist er brandgefährlich, nicht nur weil er gesellschaftliche Machtstrukturen verschleiert mitsamt Denunziation und Exkommunikation ihrer Gegner, sondern weil Bedeutungsfelder ausgeblendet werden, die latent bleiben, aber erspürt werden.
Zum Glück hat die ehemalige Femen-Aktivistin Zana Ramadani das begriffen und letztes Jahr ein Buch vorgelegt, das ihr – wie könnte es anders sein – einiges an Scherereien gebracht hat. Doch mutig genug, heiße deutsche Eisen anzufassen, konnte sie schon bei Femen ihr Engagement unter Beweis stellen, als sie im Jahr 2013 mit ihren Kolleginnen Heidi Klums Verkennungs-Wettbewerb, genannt ´GNTM´, bloßstellte. Im Nachgang zu der Aktion kam bei Femen-Aktivistin Hellen Langhorst ein seltsamer Rechtfertigungsdruck auf, den jene jedoch angemessen agierte: Femen kämpfe gegen Sexindustrie, Religion und Diktatur. ´Diktatur, wo?´ mochten manche fragen, ´in Nord-Korea?´ Oder vielleicht in unseren Köpfen? Nichts weniger als die allumfassende Diktatur des marktradikalen Neoliberalismus war kurzerhand Thema. So machten Femen einen gesellschaftlichen blinden Fleck mittels situativer Objektivierung sichtbar, und deren Bild-(Ver)störung bewirkte allerhand Unruhe, die im kurzatmigen medialen Raum gleichermaßen Wellen schlagen wie verhallen musste.
by Maren Schönfeld (German version), English summery by Uta Buhr
The German fairy tale “Rapunzel” – one of many tales collected by the Brothers Grimm – forms the basis of Sofi Oksanen’s new novel. Do you remember? Rapunzel, the young woman who is endowed with the most beautiful long hair imaginable which serves her secret lover as a ladder to see her in her tower on top of a castle. Generations of children and young adults all over the world were and still are enchanted by this charming and thrilling tale.
In 2017, “Norma” was published in German language under the title “Die Sache mit Norma.” The author is the daughter of a Finnish father and an Estonian mother, born and raised in Central Finland. Russian animal tales and other stories inspired her to create the post-modern figure of Norma. It goes without saying that a writer of Sofi’s stature does not merely tell us a story, but spices her novel with fine doses of feminism and social problems. Just imagine, in 2010 19 million people went on a pilgrimage to the Indian Tirupati Temple to offer their hair to the gods. As a matter of fact, the temple sells the hair very expensively to celebrities such as Jennifer Lopez and Paris Hilton as hair extensions! To make a long story short: There is not enough hair to satisfy the “need” for it worldwide. Some gangs meanwhile even go so far as to steel women’s hair by cutting it while their victims are trying to cross the street. Afterwards these gangsters chop off on their mopeds. Continue reading „“Norma” – the new book by Sofi Oksanen“
Das Märchen Rapunzel war der Ausgangspunkt für Sofi Oksanens 2015 in Finnland, 2017 in Deutschland erschienenen Roman „Norma“ (deutscher Titel: „Die Sache mit Norma“). Für die estnisch-finnische Autorin, in der Kindheit geprägt von russischen lehrreichen oder Tiermärchen, war die revolutionäre Geschichte von Rapunzel das Lieblingsmärchen. So kreierte sie eine, wie sie sagt, postmoderne Version dieser Märchenfigur. Aber es wäre nicht Sofi Oksanen, bekämen wir es nicht auch mit Feminismus und gesellschaftlichen Fakten zu tun. 19 Millionen Menschen kamen 2010 zum indischen Tirupati-Tempel, um ihre Haare den Göttern zu opfern[1]. Die Tempel verkaufen das Haar, längst reicht es nicht mehr, um den Bedarf in der Welt zu decken. Extensions, wie sie Jennifer Lopez und Paris Hilton tragen, sind beliebt und werden teuer bezahlt. Längst ist das Geschäft mit den Haaren ein weltweites geworden. Im chinesischen Taihe wurden 2012 mit Haarexporten 88 Millionen Dollar erwirtschaftet.[2] Es gibt Orte auf der Welt, in denen sich zwei Bandenmitglieder auf einem Mofa einer an der Ampel stehenden Frau nähern und ihr – ratsch! – die Haare abschneiden, um damit zu türmen und sie zu verkaufen. Doch die Frauen im Tempel geben ihre Haare freiwillig her, andere gegen einen geringen Preis. Am wenigsten bekommen weltweit die Frauen, die ihre Haare abgeben. Am meisten kassieren Männer, die diese Geschäfte machen. Continue reading „Rapunzel und die Mafia“
Gertrude Stein aus der Sicht von Alice B. Toklas aus der Sicht von Gertrude Stein
Rund 90 Jahre ist es her, dass Gertrude Stein unzählige Künstler und Denker in Paris versammelte. Picasso und Dalí gehörten dazu, Juan Gris, Georges Braque und Tristan Tzara, Mitbegründer des Dadaismus. Die Surrealisten – Surrealismus sei die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, so Walter Benjamin im Jahr 1929 (1) – hatten sich der Kommunistischen Partei zugewandt; das heute noch existierende Verlagshaus Gallimard veröffentlichte die Zeitschrift „La Révolution Surréaliste“ von 1924 bis 1929. Nachdem André Breton dem Motiv der Begegnung eine ganz neue Dimension eingehaucht hatte, sollte Jacques Lacan, der Salvador Dalí in den 1930ern traf, das Trauma als verpasste Begegnung konzipieren – ein unerhörter Ansatz. Continue reading „Die Autobiographie von Alice B. Toklas“
„Nach Golde drängt, am Gold hängt doch alles. Ach wir Armen!“ Dies lässt Goethe in seinem „Faust“ Margarethe seufzen, als sie das von Mephisto in ihr Zimmer geschmuggelte Geschmeide entdeckt.
Kennen Sie Hooksiel? Falls nicht, sollten Sie umgehend eine Spritztour dorthin unternehmen, um in diesem 2.127 Seelen-Ort in der Gemeinde Wangerland (Landkreis Friesland) Ihr Glück zu machen. Denn es könnte sein, dass Ihnen eine gute Fee oder einfach nur ein guter Mensch klammheimlich Goldmünzen aus der Kaiserzeit zusteckt. Ist Ihr Interesse geweckt? Na, dann lesen sie mal, wie es zu diesem Goldregen an der stürmischen Nordseeküste kam. Continue reading „Klondike in Friesland – „Alarm in Hooksiel“, ein Kriminalroman von Michael Buschow“
Wie geht es uns denn so in der heutigen Bundesrepublik, lautet die von Martin Dornes gestellte Frage, und die Antwort heißt: danke, ganz gut! Warum auch nicht?! ´Good – better – best – bested´, wie schon Edward Albee wusste. Dass nebenan und um die Ecke man zu anderen Ergebnissen kommt, wen kümmert´s? Nicht der Rede wert, da empirisch nicht haltbar.
Etwas zugespitzt ließe sich die alte Einsicht wiederholen, dass mit dem Kopf im Eisschrank und den Füßen im Ofen eine angenehme Durchschnittstemperatur herrscht – was besagt, dass mit statistischen Durchschnittswerten nicht nur wenig über den Einzelfall gesagt werden kann, sondern oft ebenso wenig über die Menge an Fällen. Etwas verkürzend ist dies natürlich, und Statistiken (und deren vorsichtige Interpretationen) haben durchaus ihre Berechtigung; doch muss vor raschen – und auch scheinbar weniger raschen – Aussagen auf deren Grundlage dringend gewarnt werden. Man dachte ja, mit dem Beginn des neuen Jahrtausends seien die Torheiten der datensüchtigen Vergangenheit endgültig überwunden, doch weit gefehlt. Denn so oder so ähnlich wird immer wieder einmal von durchaus seriös auftretenden Personen argumentiert – egal worum es geht. Da werden Zahlen und Daten jede Menge herangezogen, und es wird suggeriert, dass dies Fakten seien, die sich geradezu von selbst interpretieren.
Kaum etwas ist so komplex und schwer zu verstehen wie menschliches Verhalten. Es existieren jedoch durchaus Verstehens- und Erklärungsansätze, die – so komplex sie auch sind – vieles an unverständlich erscheinenden Phänomenen einer Taxonomie zuführen können. So z.B. existieren Strukturen, in denen wir uns bewegen, die – hier etwas verkürzt dargestellt – mit dem Konzept sogenannter objektiver Gewaltstrukturen erfassbar sein können. Objektive Gewalt “resides in the contours of the background which generates […] outbursts and consists of the often catastrophic consequences of the smooth functioning of our economic and political systems” (Schmid, 2011). Versteht man Schmids Verb „generate“ als „herstellen, bilden“ und nicht so sehr als „erzeugen“ im Sinne monokausaler Verursachungs-Zuschreibung, kommt man dem Kern objektiver Verhältnisse schon nahe. Die darin enthaltene potentielle Fragmentierung des Menschen ist jedoch mit statistischen Werten kaum oder nur rudimentär erfassbar. Dennoch wird nicht selten anhand von Zahlen erklärt, wie die Sachlage ist. Im Großen und Ganzen macht Dornes dies in seinem neuen Band; und würde nicht sehr viel Pseudo-Kritik zum derzeitigen bundesrepublikanischen Kapitalismus umhergeistern, man müsste ihm sein Unterfangen ganz grundsätzlich übel nehmen. Eine Kritik der Kritik ist also durchaus statthaft – doch nicht so.
Grundlegendes
Dass uns sowohl aktuelle als auch überdauernde bio-psycho-soziale Gegebenheiten (der Streit mit dem Nachbarn, die große Liebe, die Langzeitarbeitslosigkeit, das neue Auto, aber auch die einfache Tatsache, dass wir bspw. im Jahr 2017 in Deutschland leben und nicht auf Borneo oder vor fünfhundert Jahren) psychisch beeinflussen, ist selbstverständlich. Es macht einen Unterschied, wann, wo und wie wir sind, und dies mit-determiniert Depression und andere psychische Störungen. Vielleicht nicht wegen, sondern trotz eines entfesselten Kapitalismus heutiger Prägung, in dem munter jeder Legitimationsdruck für was auch immer in Luft aufgelöst wird, ist in der Bundesrepublik nicht mehr manifeste depressive Symptomatik zu verzeichnen als zuvor. Dies würde ihn nicht besser, aber einen bedeutenden Unterschied im Verständnis mancher vorgelegter Daten machen. Womöglich ist die Zersplitterung des Menschen in der Postmoderne nämlich sehr real: die tödliche Wirklichkeit der durch politischen Willen erzeugten objektiven Verhältnisse (vgl. Vester, 1993) könnte sich in dem, was Richard Sennett Korrosion (Sennett, 1998) nennt, niederschlagen. Und Depression können wir da gar nicht gebrauchen; stattdessen kann jede noch so symptomwertige Idiotie zum Lebensstil erhoben werden. Selbst wenn Charakterstruktur beständig wäre: die Korrosion derer könnte es eben auch sein. So wie beim Öffnen eines kommerziellen email-Providers am Bildschirm Werbebotschaften haften bleiben und nachwirken können, könnte sie an der Zersetzung unserer Psychen arbeiten. Insbesondere in Bezug auf die zunehmende Virtualität der Gesellschaft, in der Bildschirme Nähe suggerieren und Kategorien von Subjekt-Objekt-Differenzierung auflösen (Fuchs, 2014), ist dies sehr ernst zu nehmen. Letztens hat Eisenberg eindrücklich auf das destruktive Potential dieser gesellschaftlichen Entwicklung hingewiesen (Eisenberg, 2015).
Kulturelles
Die kulturelle Verfasstheit des Psychischen wird allzu häufig geschickt pariert, ignoriert und geleugnet. Kulturelle Verfasstheit meint auch nicht Handy ja/Handy nein, sondern Formung und/oder Verformung des Psychischen im Sinne von pathologischer Tendenz. Das Nicht-offensichtliche in psychischen Bereitschaften zu sehen (Bräutigam, 1990) sollte für Fachleute eine Selbstverständlichkeit sein. Aber man kann es durchaus auch konkret angehen: dann greift Dornes´ Diagnostik ebenso kurz; vor allem aber scheint es ihn nicht zu stören, wenn der Arm bis zur Schulter im Mülleimer nach Leergut sucht. Solange die Person, der der Arm gehört, nicht depressiv oder anderweitig klinisch gestört ist, erscheint er in Dornes´ Auswertungen nicht. Zudem folgt Dornes einer Logik, die nicht nur den leiblichen Aspekt des Psychischen (Fuchs, 2007) übersehen lässt, sondern auch den, dass kein Gehirn ohne Leib denkt und kein Leib ohne Umweltbedingungen ist, in denen er existiert (Fuchs, 2008).
Hochinteressant nebenbei auch manche Vorstellungen, in denen ohne Unterscheidung vergangenen Zeiten pauschale Einschätzungen zuteil werden. So wird von weiblichem Entsetzen bei Entdeckung der Menstruation oder von unsteuerbarer Erregung beim Durchblättern eines Miederwäsche-Katalogs in der Nachkriegszeit gesprochen. Der zivilisierte Mensch – gerade auf dem Fahrrad unterwegs zum nächsten Veggie-Laden – ist eigentlich gestern erst erfunden worden. Gern wird mit der Möglichkeit der Fehlerkorrektur argumentiert, im Gegensatz zu vergangenen Zeiten, in denen man nach einmal getroffener Entscheidung an Arbeitsplatz, Ehemann oder Sportverein gebunden war – das ist jetzt alles vorbei, wie schön. Genau dieses Denken ist antiquiert in einer Zeit, in der massive Umwälzungen bereits allerlei Verwerfungen gebracht haben – und täglich bringen. Wenig bedacht wird dabei, auch von Dornes, dass der Anspruch, möglichst wenige Fehler zu machen, damit rapide sinken dürfte, was angesichts der Komplexität heutiger Gesellschaften und ihrer Probleme als hoch problematisch gelten muss. Das übrigens wird Billy Joel mit seinem Etikett ´Zeitalter der Inkompetenz´ gemeint haben.
Wenn Dornes einmal im-, einmal explizit, die heutige Demokratie als Lösung für alles und jedes preist, unterliegt er zudem glatt der Verwechslung von Demokratie mit Marktwirtschaft. Nicht einmal eine Legitimationskrise (Ptak, 2009) findet bei ihm statt. Colin Crouch wird erwähnt, aber rasch verworfen. Alain Badiou hingegen beschreibt die derzeitige Wählerdemokratie als „nur insofern repräsentativ, als sie zuerst konsensuelle Repräsentation des Kapitalismus ist, der heute in ´Marktwirtschaft´ umbenannt ist. Das ist ihre prinzipielle Korruption“ (Badiou, 2008, S. 97). Das derzeitige Unbehagen an vielem Beanstandungswürdigem, das z.B. in allerlei Medien-Initiativen ihren Niederschlag findet, hat in ihrer privatisierten Form oft etwas von Pseudo-Partizipation, in ihrer politisiert-verstaatlichten Form mitunter etwas Totalitäres an sich. Die unterliegende dogmatische Marktgläubigkeit samt Exkommunikation derer, die diese nicht teilen, hat Josef Berghold bereits anhand des Falles Chile beschrieben (Berghold, 2009), die emotionale Verelendung inbegriffen.
Unbewusstes
Dass Terrorismus und Konsumerismus zusammen hängen könnten, darauf will Dornes gar nicht erst kommen. Talcott Parsons hat in seiner ´oversocialized conception of man´, die Dornes (S. 64ff.) mal eben für falsch erklärt, interessante Schlaglichter gesetzt, in der mittels ich-psychologischer Identifikation mit dem Aggressor und deren Transformierung in die totale Leistungsgesellschaft als Ausgangspunkt bemerkenswerte psychische Mechanismen beschrieben werden. Manches mag Parsons vielleicht nicht exakt getroffen haben, aber präödipale, frühe Verinnerlichungen (die nicht unbedingt mit Liebesentzug durch die Mutter verbunden sein müssen), sind nichts Unbekanntes. Und schon bei Kleist sehen wir ein fühlendes Individuum im Konflikt mit der gesellschaftlichen Ordnung (Parzinger, 2011, S. 171), das ganz unterschiedlich konzeptualisiert werden kann. Gewiss will das Kleinkind nicht einfach das, was auch die Mutter will; ein komplexer dialektischer Prozess ist hier am Werk, von dem nicht abschließend als geklärt gelten kann, was genau stattfindet. Selbstredend findet aber keineswegs irgendeine bruchlose Verinnerlichung statt, sondern Kompromissbildungen in dialektischem Prozess von Aneignung und Widerstand. Da die Verhältnisse ohnehin schon nicht unbrüchig sein können (vgl. Egloff, 2015b), ist jedoch eine ´oversocialized conception of man´ in Zusammenhang mit der frühen Mutter nicht wirklich nötig. Es muss als ganz und gar ungeklärt gelten, ob übergreifende gesellschaftliche Bewegungen die symbolische Ordnung in nur noch einer dem anomischen Urvater geschuldeten fragmentierten Form existieren lassen, die, kleinianisch gesprochen, in der paranoid-schizoiden Position auch bösen Mutter-Introjekten geschuldet sein könnte, oder ob wir es im Sinne früher mütterlicher, guter Beziehungserfahrungen mit einer progressiven Bewegung hin zu Freiheit und Selbstbestimmtheit zu tun haben (Egloff, 2015b, S. 324-325). Erst innerhalb solch einer Fragestellung wären Dornes´ Selbstermächtigungsvorschläge, die keineswegs so eindeutig und unvoreingenommen auftreten, wie sie in seinem Text daherkommen, prüfbar.
Folgen wir Freud in seiner Beobachtung über die anfängliche Hilflosigkeit des Säuglings, der Urvertrauen aufbauen muss, so werden wir einer immensen Aufgabe gewahr. Ganz schlicht weitergedacht, dürfte schon an dieser Stelle der Beginn der Ideologie zu verorten sein. So wie Urvertrauen enttäuscht wird und werden muss, muss es dennoch aufrecht erhalten werden; dieser Konflikt – nachrangig, ob nun als Konflikt oder Strukturmangel konzipiert – als anthropologische Grundkonstante gedacht, begründet den Beginn des potentiell ´falschen´ Bewusstseins, dessen projektive Kraft sowohl zu Anpassung als auch zu Widerstand führt. Daher macht es wenig Sinn, dies in Abrede zu stellen, auch wenn aus einer pragmatischen Haltung heraus eine interventionistische Perspektive hilfreich sein mag. Ein schmaler Grat zwischen Hoffnung (durch Selbstwirksamkeit) und Enttäuschung (über die Desillusionierung des grandiosen Selbst) ist therapeutisch ohnehin zu gehen.
Politisches
Aus interventionistischer Perspektive wäre hier viel früher anzusetzen; prä- und perinatale Zusammenhänge und ´neurodevelopmental outcome´ sind zahlreich beschrieben worden (vgl. Roth, 2016; vgl. Egloff u. Djordjevic, 2016), ´new social deprivation´ als Vorbedingung und Ergebnis von Depravationsprozessen (Egloff u. Djordjevic, 2016) weist hin auf Psychopathologie im gesellschaftlichen Gefüge, sodass von ´new morbidity´ in einem neuen Sinnzusammenhang gesprochen werden müsste. Deutlich mehr vorzeitige Geburten scheinen Teil dieser gesellschaftlichen Entwicklung zu sein. Paul Virilio spricht nicht ohne Grund von ´Rasendem Stillstand´ (Rosa, 2005), in dem die Entzeitlichung der Subjektwerdung Programm ist – auch das nicht neu, es darf aber Gültigkeit beanspruchen. Die beschleunigte Gesellschaft produziert schon auf Ebene des Zeitgefühls vermehrt depressive Subjekte (Mensen, 2014). Dies kann subklinisch, also unauffällig sein. Es muss eben nicht ein klassisches Konzept von Depression herangezogen werden – auch nicht als Beziehungskonzept im engeren Sinn –, sondern ein Konzept narzisstischer Transformation als gesellschaftlicher Modus von „Überlebensstrategie“, wie Mensen formuliert, „- wer sich selbst nicht übermäßig wichtig nimmt und inszeniert, geht im marktbestimmten Geschäft unter -, die als ´Abfallprodukt´ oftmals eine narzisstische Depression zur Folge hat“ (Mensen, 2014, S. 119.) Dies ist in Therapie-Praxen gut bekannt, aber schwer zu operationalisieren bzw. sichtbar zu machen (vgl. Egloff, 2012b). Darum geht es, wenn Depravation aus Deprivation entsteht, und umgekehrt. Stattdessen erklärt Dornes Aktivität, Initiative und Beweglichkeit zu einer Art urwüchsigem Privileg der Mittel- und Oberschichten, ohne deren materielle Voraussetzungen zu bedenken – die glatte Psychologisierung des Sozialen. Um es sich nochmals auf der Zunge zergehen zu lassen: er meint, mit jener Aktivität, Initiative und Beweglichkeit habe das sogenannte Prekariat Schwierigkeiten (S. 120ff.) und macht Anleihen bei der von ihm so monierten Form der Sozialreportage mittels der altbekannten Sensations-Beispiele aus dem ´Spiegel´, die es natürlich gibt, die aber mit dem Begriff des Prekariats alles andere als deckungsgleich sind – dies vielleicht der schwerwiegendste Fehler in seinem Band, dessen Verwechslung folgenreich.
Modenas operationalisierter Begriff von Proletariat (Modena, 1984), der schlicht aber zutreffend dieses als von Lohnarbeit abhängige Personen definiert, zeigt auf, wie Reifikation und Kommodifikation zunächst einmal als Grundpfeiler kapitalistischer Verkehrsformen gelten dürfen, die auch die menschlichen Beziehungsformen grundlegend durchdringen (Egloff, 2015b). Doch es ist noch schlimmer gekommen: nicht nur in Deutschland ist das Proletariat durch die vielleicht infamere Variante des Prekariats abgelöst worden (eine sehr gelungene und zutreffende Darstellung der nicht nur als Malaise zu bezeichnenden Situation ewiger Praktikantinnen und Praktikanten sowie der Tendenz zu in ´Frauenberufen´ – auch akademischen – sinkenden Einkommen im Rahmen des ´gendered capitalism´ bei Feiereisen, 2011); der operational definierte Begriff von Proletariat, angewendet auf das Prekariat (empirisch in der, wie Dornes meint, kaum anzutreffenden Auflösung der Mittelschicht nachweisbar) aufersteht mittels der von Gerhard Schröder und Tony Blair mit-initiierten Erfindung der system-immanenten ´working poor´ in Europa. Heimgesucht von Unsicherheit, von Unplanbarkeit, von niedrigsten Renten usw., geht es beim Prekariat gar nicht mehr um ´klassische´ Entfremdung, sondern zunehmend um nackte Existenzsicherung: ein Kellner muss heute zumal ´nice´ sein, sonst verliert er den Job. Im Industriekapitalismus konnte er im Grunde weiterarbeiten; heute ist er zusätzlich prekarisiert (Groys u. Hegemann 2016). Die Prekariatsvariante bedeutet geradezu einen massiven gesellschaftlicher Rückschritt. Wohl ist es nicht nur so, dass „people retreat from responsibilty, either escape or somatize“ (Siltala, 2009, S. 128), sondern andersherum ist in der Praxis gut nachvollziehbar und seit langem bekannt, wie Symptomatiken gerade nicht in Erscheinung treten, wenn die materiellen Bedingungen gut sind. Denn abgesehen davon, dass die von Dornes geschilderten polymorphen Symptomatiken nicht nur in sogenannten sozial schwachen Milieus auftauchen, wird ebenso nicht nur in sozial stärkeren Schichten Symptomatik bspw. mittels Kompensationskäufen, aber gern auch mit ´dezentem´ Alkokolkonsum, in Schach gehalten. Beispiele in unterschiedlichsten Konstellationen gibt es hierzu jede Menge (Egloff, 2013; Egloff u. Djordjevic, 2015; Salfeld-Nebgen et al., 2016; Uhlendorf et al., 2016), und das Team um Gerisch, King und Rosa hat verschiedene Varianten untersucht und Optimierungsbestrebungen im Kontext von Beschleunigung, Flexibilisierung und Ökonomisierung beleuchtet und aufgezeigt, wie Dynamiken ineinandergreifen, auch ohne dass diese nur ´früh´ ablaufen. ´Spät´ ist eben auch möglich. Ähnliches gilt für die Arbeitsverhältnisse: andere Sichtweisen sind durchaus vorhanden (Parpart, 2016). Diese tauchen epidemiologisch eben nicht oder in anderer Form auf – ganz abgesehen davon, dass konstruktivistische Systemtherapeuten, von denen es nicht wenige gibt, bspw. überhaupt keine Diagnosen stellen. Die Dunkelziffer dürfte erheblich sein. All zu wichtig erscheint Dornes dagegen, dass Geldtransfers an sozial Schwache nichts bewirken würden. Dass Bill Clintons Berater James Gilligan zu anderen Ergebnissen kommt, nämlich dass ´reducing societal inequalities most effective against violence´ ist (Gilligan, 2000), wird Dornes gewiss bestreiten.
Künstlerisches
Es liegt nicht lange zurück, dass Don DeLillo mit „Cosmopolis“ auf Verwerfungen hingewiesen hat, die die Mesalliance von Konsumkapitalismus, Virtualisierung und Psychopathologie mit sich bringt. Die Weltliteratur ist voll davon. Thomas Pynchon hat in ”The Crying of Lot 49” bereits 1966 Depravationsprozesse dargestellt, die system-immanent wirken – selbstredend mit aus naturwissenschaftlich-empirischer Sicht fragwürdiger Analogien, doch das liegt in den Gegenständen begründet. “The Crying of Lot 49 presupposes that the Puritan, middle-class, commercial, capitalistic, industrial, technological process is subject both to thermodynamic entropy, which creates waste, and communication entropy, which creates silence. The by-product of this process is a third kind of entropy, human, which leads to an army of outcasts, of derelicts and failures […]. This army of men and women operates as a counterforce to the commercial processes that have ravaged the land as they have moved silently west through history” (Lehan, 1995, S. 40). Die ´counterforce´ ist jedoch größtenteils aus der Mode, und Dornes findet dies berechtigt – und aus empirischer Sicht nun auch nicht einmal nötig. Schauen wir auf andere künstlerische Arbeiten:
Die Inszenierungen von Frank Castorf oder Christoph Marthaler (vgl. Egloff, 2012a), die Arbeiten von René Pollesch, oder Christoph Schlingensiefs „Rosebud“ (2002), Kathrin Rögglas „wir schlafen nicht“ (2004), aber auch Lucy Prebbles „Enron“ (2009), oder letztens Philipp Löhle, dessen Theatertext „Du (Normen)“ exemplarisch auf die Banalität von Nutzenmaximierung als zweiter Natur der neoliberalen Persönlichkeit verweist, arbeiten genau jenes durch, was in den Daten nicht ohne weiteres erscheint. Daher seien sie jenen Interessenten, die mehr verstehen wollen, neben einer etwaigen Dornes-Lektüre anempfohlen. Denkt man etwa an Peter Weiss´ „Marat/Sade“ in Volker Löschs Hamburger Inszenierung von 2008, so lässt sich zudem sagen: vorsätzliches Vergröbern muss nicht schlecht sein, um Sachverhalte zu verdeutlichen. In Anlehnung an eine Besprechung Löschs (Pilz, 2008) gilt für Dornes: seine Interpretationen sind oft ein bisschen richtig, obwohl vereinfachend, aber weder komplex noch vereinfachend genug, dass es wirklich die wunden Punkte der Gesellschaft träfe.
Und auch „Die 120 Tage von Sodom“ in Johann Kresniks wie auch immer zu bewertenden Volksbühnen-Inszenierung von 2015 könnte hilfreich bei der Horizont-Erweiterung sein. Die Liste ließe sich fortsetzen. Dass die schöne Warenwelt mit Verhinderung von Symbolisierung zu tun haben könnte (vgl. Seidler, 2002; Layton, 2014) und diese, wenn schon nicht monokausal bedingt, dann aber fördert, dürfte viel mit Kommodifizierung und Reifizierung zu tun haben, gerade im Übermaß des entgrenzten Konsum-Kapitalismus. Daher kann nur gelten, es nicht bis zur vollständigen Kommodifizierung des Subjekts zu treiben (Egloff 2015a). Thematiken wie der Umschlag von Gemeinschaft in Gesellschaft oder von symbolischer Ordnung und Über-Ich-Bildung (Egloff 2015b, S.317ff.) sind geeignet zu bearbeiten, wie gesellschaftliche Verhältnisse und individuelles Verhalten sowohl Identität als auch Nicht-Identität bergen (Egloff, 2015b, S. 318; vgl. Ottomeyer, 2014). Sozialisationsprozesse bergen viele solcher Aspekte, die warenproduzierende Gesellschaft vor allem aber das Versprechen, durch fetischistische Transaktionen vollständig zu werden. Dieses ist uneinlösbar, da nie genügend Objekte vorhanden (Decker, 2016). Dass sich hier psychische Phänomene bilden müssen, liegt auf der Hand bzw. ist schon in den Begrifflichkeiten enthalten. Und, nein: Psychisches nimmt keine Rücksicht auf Gegenstandsbereiche. Alles andere wäre rationalistisch.
Überforderndes
Dass Überforderung schon im Subjektanspruch der Moderne an sich stecken könnte, die Verwirklichen und Bewältigen-wollen einfordert, mag sein. Dieser allerdings scheint heute immer mehr einer Steigerungslogik unterworfen, in der Humankapital nun gar aus Individualität und Differenz gebildet werden soll (Klinger, 2015). Dornes´ Affinitätsbehauptung der Psychoanalyse als Methode zur Ich-Stärkung hinsichtlich gesellschaftlicher Anforderungen ist nicht nur überzogen, sondern stößt nur allzu munter ins Horn unrealistischer Befähigungsphantasien. Es gehe ihm nicht um eine Individualisierung von sozialen Problemen, erklärt er, weil es eine gesellschaftliche Aufgabe bleibe, Selbstermächtigung der Menschen voran zu treiben, diese nur eben anders ausgestaltet werden müsse. Letztlich heißt das aber nichts anderes als Gesellschaftsgestaltung entlang ökonomischer Kriterien. Damit ist Dornes voll drin im aktivierenden Sozialstaatsmantra (vgl. Butterwegge, Lösch & Ptak, 2007) und spielt zudem eben doch der brandgefährlichen Therapeutisierung sozialer Problematiken in die Hände – man kann es nicht oft genug wiederholen. „Zugleich wird es möglich, soziale Verwerfungen und ´Verlierer´ auf unterschiedliche Resilienzausstattungen zurückzuführen und damit zu individualisieren und zu naturalisieren“ (Graefe, 2016, S. 47). In Dornes´ Ermächtigungsvorstellungen des Subjekts spricht er von Steuerungsfähigkeit und ähnlich gut operationalisierbaren Begrifflichkeiten, die, ob in Psycho- und Sozialtherapie oder Arbeitsamt-Kurs, vermittels Sprache sogenannte frühe Strukturdefizite ausgleichen anzutreten haben. Ersetzt man seine Begriffe durch sprachphilosophische oder (post-)strukturalistische, fällt sein Empowerment-Konzept jedoch wie ein Kartenhaus zusammen – was übrig bleibt, sind Machtverhältnisse, Virtualisierung, Globalisierung. Daher wäre es zielführend gewesen – wenn man schon große Fragen angeht –, die zu untersuchenden Phänomene auch in ihren ´Differenzkonstruktionen´ zu betrachten, diese also nicht nur und ausschließlich unter (neo-)psychoanalytischen Gesichtspunkten zu untersuchen, sondern bspw. auch unter strukturellen oder semiotischen. Dass dies nicht nur möglich, sondern fruchtbar und vervollständigend sein kann, zeigen semiotisch fundierte Ansätze auf anderen, doch nicht fernen Gebieten (vgl. Egloff, 2016). Sonst nämlich könnte es sein, dass der Schritt vom äußeren Tatbestand zur inneren Bedeutung zu nichts anderem führt als zu Pseudo-Verstehen, in dem innere Motive als Ausweis für politisches Handeln herangezogen werden, diese sich aber als trügerische Maske, ja Narrativ von Lüge, erweisen können (Žižek, 2015, S. 16). Doch all dies scheint jenseits von Dornes´ angebahntem neoliberalen Empowerment-Konzept zu liegen. Rasch wird von Sensibilisierung der Öffentlichkeit gesprochen, wenn in manchen Bereichen der Begriff Fetischisierung zutreffender wäre (Binkley, 2008). Max Webers ´stahlhartes Gehäuse´ der Moderne mag durchaus aufgeweicht worden sein, aber jetzt ist Postmoderne angesagt. In eben dieser will Dornes Selbstermächtigung feilbieten, so wie mittlerweile Kochbücher erscheinen, die günstiges Nachkriegsessen für Hartz IV-Empfänger anpreisen. Nach seiner Logik könnte man dieses gleich amtlich ausgeben: einfaches, aber gesundes Essen. Intrinsische Motivationen zu ermöglichen – die Betonung liegt auf dem Verb ´ermöglichen´ – sollte stattdessen oberstes Gebot sein (Holm-Hadulla, 2009), so wie extrinsische Motivationsfaktoren zu minimieren.
Abschließendes
Auch für Hartgesottene gilt somit: kaufen, lesen, Abstand nehmen. Denn was Dornes anzustreben scheint, ist die Verwirklichung seines prototypischen Menschenbildes einer Kapitalismus-krisenfesten Persönlichkeit, die korrelieren dürfte mit dem vom Dortmunder Amerikanisten und Ars-Legendi-Preisträger von 2010 Walter Grünzweig erschrocken beklagten Minimalhorizont aktueller Studienanfängerjahrgänge. Doch Korrelationen sind eben nur Korrelationen. Alles sehr fraglich, gewiss. Weniger fraglich jedoch ist, was die Sozialwissenschaftlerin Stefanie Graefe festhält: „Die krisenfeste Persönlichkeit hat (idealerweise) keinen Bedarf, das System zu verändern; sie verändert sich selbst – und dies permanent. Sie ist konsumkompetent, beratungsoffen und ressourcenorientiert; steigenden und schwankenden Produktivitätserwartungen von Unternehmen und Gesellschaft kann sie nachkommen, ohne ihre eigene Gesundheit nachhaltig zu gefährden. Politisch im herkömmlichen Sinne ist sie hingegen nicht: Im Zeichen von Resilienz wird Gesellschaft als unveränderliche Randbedingung der eigenen ebenso komplexen wie stets gefährdeten Lebensgestaltung verstanden, nicht aber als Gegenstand kollektiver Veränderung“ (Graefe, 2016, S. 47).