Karl Kraus – Magier der Sprache

Kalligraphie: Ralf Plenz

Eine Annäherung an einen linguistischen Genius.

Dies vorab: Mein Dank geht an Ralf Plenz, den Herausgeber der Reihe „Perlen der Literatur,“ in welcher jüngst „Die Sprache, der Eros der Logik“, erschienen ist. Die hierin enthaltenen Aufsätze aus der im Jahre 1899 von Karl Kraus gegründeten satirischen Zeitschrift „Die Fackel“ sind ein intellektueller Hochgenuss, der seinesgleichen sucht.

Altes Werk in neuem Glanz

Wer dieses elegant gestaltete Buch aufschlägt, legt es so schnell nicht wieder aus der Hand. Allerdings muss der Leser starke Nerven besitzen und sich seiner sprachlichen Defizite bewusst sein. Denn der Scharfrichter Karl Kraus kennt keine Gnade mit grammatikalischen Fehlern oder – noch schlimmer – sprachlichen Schlampereien. Einer der erbittertsten Feinde heutiger deutscher Literaten – von den Zeitungsschreibern ganz zu schweigen – ist offenbar der Genitiv. Nur wenige scheinen ihn noch zu beherrschen. Und auch die korrekte Anwendung von Pronomen ist ins Hintertreffen geraten. Weilte Karl Kraus noch unter uns, würde er so manchem selbsternannten Linguisten eine gnadenlose Lehrstunde erteilen.

Mein ganz persönlicher Karl Kraus

Karl Kraus saß, um es salopp auszudrücken, in meiner Familie mit am Tisch. Mein Bruder und ich liebten seine geistreichen Essays und geschliffenen Wortspiele, die unseren Wortschatz bereicherten. „Was zutrifft, trifft“ und „Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben. Man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken“ waren unsere Lieblings-Aphorismen aus der Feder des Karl Kraus. Leuten, die ihn nicht mochten, schrieb er folgendes ins Stammbuch: „Manche wollen nur mit mir reden. Andere mir den Kopf einschlagen. Vor jenen schützt mich das Gesetz.“ Wer „seinen“ Karl Kraus kennt, kommt mit einer Sammlung geistreicher Zitate gut durch das Jahr.

Fast hätte ich mich – horribile dictu – als Kraus Fan „geoutet.“ Auf der Stelle nehme ich diese Wortwahl zurück. Denn Kraus hätte ein derartiges Kauderwelsch mit Sicherheit gegeißelt. Oder mit Verachtung gestraft.

König der Satire

Karl Kraus‘ Weg auf den Olymp der großen Geister der Weimarer Republik war nicht vorgezeichnet. Als Sohn eines jüdischen Fabrikanten im Böhmen der k&k-Monarchie kam er in seiner Jugend eher mit Bilanzen und Produktpaletten in Kontakt. Dies erschien dem Genius des geschliffenen Dialogs offenbar zu banal. Und so entschloss er sich stattdessen zum Studium der Germanistik und Philosophie. Allerdings ohne einen universitären Abschluss. Sein literarisches Oeuvre und zahlreiche Auftritte im Theater verhalfen ihm zu frühem Ruhm in den einschlägigen intellektuellen Zirkeln Wiens. Das Diktum „Viel Feind, viel Ehr‘“ war ihm auf den Leib geschrieben. Denn nicht jeder goutierte Kraus‘ beißenden Spott. Berühmte Zeitgenossen wie Sigmund Freud und Arthur Schnitzler, um nur zwei zu benennen, sollen Kraus gar nicht geschätzt haben. Sein Kollege Stefan Zweig bezeichnete ihn gar als den „Schriftsteller des giftigen Spotts.“ Ein unabhängiger Geist wie Kraus hat vermutlich nur mit der Schulter gezuckt und gesagt: „Ach geh. Warum seids ihr nur so empfindlich. Satire darf halt alles.“

„Die Fackel“ Über den Gebrauch der Sprache

Foto: Input-Verlag

Es versteht sich, dass ein Sprachpurist wie Karl Kraus mit den meisten seinerzeit populären Presseprodukten nichts anfangen konnte. Wohl deshalb gründete er im Jahr 1899 „Die Fackel“, seine eigene satirische Zeitschrift, die sich vehement gegen die Verwahrlosung der deutschen Sprache positionierte. Die hierin enthaltenen Beiträge wurden in den intellektuellen Kreisen jener Epoche mit großem Interesse gelesen und kontrovers diskutiert. Um eine Vielfalt der Beiträge zu garantieren, lud Kraus zahlreiche namhafte Autoren ein, Gastbeiträge in der „Fackel“ zu veröffentlichen. Dazu gehörten unter anderen Detlev von Liliencron, Peter Altenberg, Egon Friedell und Else Lasker-Schüler.

Springen wir mitten hinein in das Opus Magnum des Karl Kraus, das seine sprachliche Meisterschaft in all ihren Facetten ausleuchtet.

Lieber Leser, lassen Sie jedes Kapitel des Buches auf sich wirken und stellen Sie fest, wie auch Sie als aus Ihrer eigenen Sicht der deutschen Sprache Mächtiger in Ihren Formulierungen nur allzu oft daneben liegen. Greifen wir nur das winzige Wörtchen „bis“ heraus, das laut Kraus kaum ein Österreicher jemals richtig einsetzt. Wer die Abhandlung gelesen hat, wird feststellen, dass auch wir Deutschen hier nicht besser abschneiden als unsere Nachbarn. Denn der Winzling „bis“ bezeichnet nicht den Weg, sondern das Ziel. Kraus erklärt dies ebenso wortreich wie logisch. Mit „nur noch“ und „nur mehr“ sieht es ähnlich aus. Wer beide Kapitel sorgsam gelesen und verinnerlicht hat, wird hoffentlich in Zukunft ein ebenso druckreifes Deutsch sprechen und schreiben wie der Verfasser. Zugegeben, das Studium der einzelnen Kapitel erfordert höchste Konzentration, denn hier zählt jedes Wort, ja sogar jeder Beistrich – vulgo Komma – dem Kraus viele Worte widmete.

Finde den oder die Fehler!

Wer sich durch den ambitionierten Sprachkurs des Karl Kraus durcharbeitet, erkennt schnell, dass er nichts von Haupt- aber noch weniger von Relativsätzen versteht. Asche auf unser Haupt. Hier eine Kostprobe: „Der schlechteste Sprachlehrer, den ich gekannt habe.“ Falscher geht’s nimmer. Denn Kraus korrigiert diesen einfachen Satz stante pede: „Das ist nicht der schlechteste Sprachlehrer überhaupt, sondern der schlechteste von denen, die ich gekannt habe.“ Noch Fragen?

Kein Zweifel, Kraus kann jeden, der meint, die deutsche Sprache zu beherrschen, zur Verzweiflung bringen. Denn, egal wie sorgsam er seine Worte wählt, irgendein Haar findet der Mann immer in der Suppe. Sei es nun die Syntax, ein falsch gesetztes Zeichen oder ein Casus. Nahezu brutal verfährt er mit der Journaille im Kapitel „Die Neue Freie Presse erteilt Sprachlehre“ aus dem Jahr 1929. Da werden die Schreiberlinge geradezu standrechtlich hingerichtet, denn so argumentiert Kraus unerbittlich: „Es ist nicht notwendig, dass der deutschen Sprache zu dem Schaden, den sie durch die Journalistik erleidet, noch deren Spott zugefügt wird.“ Selbst vor Ikonen deutscher Formulierkunst wie Friedrich Nietzsche und Dichterfürst Goethe macht Kraus nicht halt. Während er bei ersterem einen falsch gesetzten „Beistrich“ moniert, wird Johann-Wolfgang wegen eines Adjektivs gerügt.

Und so wird in diesem Werk jeder sprachliche Lapsus unter die Lupe genommen und vom Autor genüsslich seziert. Häme ist derweil nicht angebracht, sondern die Einsicht, dass auch der Gebildete nie auslernt.

Ein streitbarer Geist

Kraus hat es seinen Zeitgenossen nicht leicht gemacht. Viele haben ihn dennoch wegen seiner sprachlichen Virtuosität und politischen Hellsichtigkeit verehrt, andere ihn heißen Herzens gehasst. Dass er Stefan Zweig, einen der populärsten Schriftsteller seiner Zeit, abfällig einen „Schmuser“ nannte, wird dieser ihm kaum verziehen haben. Da aber nur wenige Weggenossen des großen Karl ohne verbale Blessuren davongekommen sind, ist dies nur eine Randnotiz. Keine Randnotiz hingegen ist Kraus‘ lapidare Bemerkung über den „Führer“, der in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts das politische Parkett Europas betrat: „Zu Hitler fällt mir nichts ein.“ Unverständlich, dass ein kritischer Geist wie er zu diesem Schluss kommen konnte. Vielleicht war ihm „Mein Kampf“ in die Hände gefallen, und nicht nur Hitlers abstruse Ideen, sondern auch der grottenschlechte Stil des Machwerks hatten dem Sprachästheten Kraus schlicht die Sprache verschlagen. Das wäre die einzige plausible Erklärung.

Fazit: Dieses Werk ist jedem empfohlen, dem der korrekte Umgang mit der deutschen Sprache am Herzen liegt. Der Sprachwitz sowie die
Wortklaubereien eines Karl Kraus sind dazu angetan, dieses amüsante „Libretto“ (Büchlein) zu einem ständigen Begleiter zu machen. Viel Spaß bei der Lektüre.

Epilog: Viele unserer heutigen selbsternannten Satiriker müssten angesichts ihrer flachen Witzchen und primitiven Diktion vor Scham im Boden versinken. Sie wissen nicht, dass Satire mit der feinen Klinge des Floretts ausgefochten wird und nicht mit der Brechstange. Es ist sicherlich müßig, diesen vulgären Sprachpantschern Karl Kraus‘ Meisterwerk zu empfehlen. Sie würden es wohl kaum verstehen. Im Volksmund nennt man dies „Perlen vor die Säue werfen.“ Diese Perle aus dem Input-Verlag hat in der Tat etwas Besseres verdient.

 

Karl Kraus: „Die Sprache – Der Eros der Logik“, 192 Seiten, erschienen im Input-Verlag, ISBN 978-3-941905-62-7 zum Preis von 20 Euro

Selbstverbesserung oder Wie ein Bücherstapel zwischen zwei Buchdeckel passt

Meisterplan-Panda Huan

Mit seinem neu erschienenen Buch „Der Meisterplan“ hat der Unternehmer, Coach, Sportler und Autor Boris Simon einen Navigator durch fernöstliche Weisheiten vorgelegt und sie mit westlichem Denken und Handeln in Beziehung gesetzt. Boris Simon möchte Menschen zu einem besseren Leben verhelfen, indem er ihnen viele kleine Bausteine verständlich und nachvollziehbar vorstellt, mit denen sich durch kleine Veränderungen spürbare Gewinne an Lebensqualität erzielen lassen. Die Leser erwartet in 17 Kapiteln eine komprimierte, eingängige und anregende Zusammenfassung diverser Themen, deren einzelne, tiefergehende Erschließung ihnen selbst überlassen bleibt.

Auf der Suche nach dem eigenen Weg, der für jeden Menschen individuell ist, bietet Boris Simons Progatonist Meister Taigen allerlei kurze Parabeln an. An der Seite der jungen Schüler des Meisters lauscht die Leserin mit und erhält anschließend eine sachlich-kurze Zusammenfassung mit Impulsen zum Ausprobieren. Da geht es um Karate und die dahinterstehenden Werte, um Lebensführung mit Zielen und Leichtigkeit, Gesundheit, Bewegung, Morgenroutine, die Kraft des inneren Dialogs, um emotionale Selbstregulierung, die Kunst des Schweigens und die Kunst, jeden Tag Sinn und Freude zu finden, in Japan Ikigai genannt, um nur einige Inhalte zu erwähnen. Dabei schwingt der Autor nicht die Keule der Selbstoptimierung und instrumentalisiert die positive Psychologie nicht zur garantierten Erfolgsformel für alles und jeden, sondern er stellt ein Thema und eine Möglichkeit vor, bietet etwas an, ohne dem Leser die Entscheidung aufzunötigen, ob dieser sich denn mit ebenjenem Ansatz befassen möchte oder nicht.

Dabei schafft Boris Simon es, dass man im schnellen Durchlesen des knapp gefassten Buchs gleichzeitig in immer tieferes und langsameres Reflektieren versinkt. Denn das nimmt der Verfasser der Leserin glücklicherweise nicht ab. So wird das Buch erst lebendig, wenn man für sich etwas daraus herleiten und es zu seinem eigenen Arbeitsbuch machen kann.

Wenn du viel wissen willst, lies langsam

Meisterplan-Meister Taigen

Fast möchte ich empfehlen, nur ein Kapitel pro Woche zu lesen, damit genug Zeit für die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema bleibt. Ich habe zu einigen Begriffen recherchiert, zu anderen Tagebuch geschrieben oder einfach eine Weile nachgedacht. Für diese Rezension habe ich es recht schnell zweimal hintereinander gelesen und mich dabei fast selbst überholt, weil ich in meinen Reflexionen nicht nachkam. Andererseits ist das Gute am schnellen Durchlesen, dass „Der Meisterplan“ mir nun als Navigator und komprimiertes Nachschlagewerk dienen kann und ich weiß, wo ich welche Themen finde. Wenn ich dieses Buch als junge Frau schon gehabt hätte, wäre ich in einigen Lebensphasen schneller gewesen und hätte es leichter gehabt – insofern geht die Leseempfehlung auf jeden Fall an Personen in jungen Jahren. Aber auch, wenn man schon ein Dutzend beratender Bücher von Dale Carnegie über Melody Beattie bis Alexandra Bischoff gelesen hat, holt „Der Meisterplan“ diese Erkenntnisse aus den Tiefen der Erinnerungen wieder hervor.

Ein kleiner Wermutstropfen war für mich die Begeisterung des Autors für die japanische Sprache, mit der immer wieder japanische Schriftzeichen aufgeführt wurden – im Verhältnis zum Gesamtumfang des Buches für meinen Geschmack etwas zu viel, wenn man nicht nebenbei die japanische Schriftsprache erlernen möchte; auch, weil die Informationen ohnehin schon sehr verdichtet sind. Mir hätte ein Glossar am Ende des Buchs besser gefallen. Dort wäre auch ein Register angenehm, um im Text Stichworte schneller wiederzufinden.

Kleine Schritte führen auch zum Ziel

Insgesamt zeigt das Buch, dass man keine tiefgreifenden 180-Grad-Wendungen vollführen muss, um sich in seinem eigenen Leben wohler zu fühlen, sondern im Gegenteil sogar eher mit kleinen, langsamen Schritten nachhaltig zu einer besseren Lebensqualität kommen kann. Auf dem Nachttisch oder am Frühstücksplatz deponiert, bietet es eine kleine tägliche Sequenz, die schnell gelesen ist, aber für eine ganze Weile still bewegt werden kann.

Ergänzend zum Buch „Der Meisterplan“ ist nun der gleichnamige Aufsteller mit dem Panda Huan und Meister Taigen erschienen. Darin finden sich „Wegweiser“ mit dazugehörigen „Aufgaben“, um sich in kleinen Übungen den einzelnen Themen zu widmen, die man wiederum im Buch findet.

Auf den ersten Blick mag einiges vielleicht zu stark verkürzt oder simplifiziert wirken; der Autor möchte aber, wie er in einem Gespräch mit der Rezensentin betonte, dazu anregen, sich weiter mit den Themen zu beschäftigen, die einen bei der Lektüre besonders ansprechen. Boris Simon hat nicht den Anspruch, in seinen Veröffentlichungen die gesamte Welt der Weisheit darzustellen, denn darüber findet sich eine Fülle von Medien. Seinem Anspruch, die für ihn prägenden und wichtigen Thesen und Themen komprimiert, verständlich und motivierend zusammenzufassen, ist er gerecht geworden. Dieses Buch eignet sich auch für Personen, die einen ersten Einblick in fernöstliche Weisheiten bekommen möchten.

Mehr über den Autor: Boris Simon

Mehr über den Meisterplan: Der Meisterplan

 

Neuerscheinung: „ChilehausStory: 100 Jahre einer Hamburger Legende

S 272 Eingang Portal C mit Schiffskeramik ©Foto_Michael Batz

Von Hartmut Höhne (Gastautor)  und Maren Schönfeld

Seit es 2015 zum UNESCO-Welterbe erklärt wurde, ist das „Herzstück des Kontorhausviertels“[i] immer wieder Gegenstand neuer Publikationen, sei es in Form von Artikeln oder Büchern. Die außergewöhnliche Bauweise fasziniert Hamburger und Touristen gleichermaßen. Ein Hauch vergangener Zeiten weht einen beim Betreten eines der alten Treppenhäuser an. Das „Manufactum“-Geschäft hat hier einen adäquaten Standort. Ein umtriebiger Geschäftsmann hatte allerdings bereits 1920 hier sein „Bandagen und Gummiwaren“-Geschäft: Iwan Budnikowski.

Vor 100 Jahren wurde das Chilehaus seiner Bestimmung als Kontorhaus-Domizil der Hamburger Kaufmannschaft übergeben. Am 1. April 1924 bezogen die ersten Firmenmieter ihre Büros. Noch heute lässt sich in den Foyers der Aufgänge an dekorativ gestalteten keramikgerahmten Adresstafeln ablesen, welche Unternehmen hier einst ansässig waren. Architektonisch ist das Chilehaus sicher das markanteste Beispiel für den norddeutschen Backsteinexpressionismus. Durch seine bloßen Abmessungen und die beeindruckende Formensprache galt das Gebäude überdies als Symbol des Aufbauwillens nach dem Krieg, entstanden mitten zur Zeit der übelsten Inflation.

S 134 Iwan Budnikowsky 1920er Jahre ©Iwan Budnikowsky GmbH & Co. KG

Pünktlich zum Jubiläum erschien Michael Batz´ imposantes Buch „ChilehausStory 100 Jahre einer Hamburger Legende“, welches er am 1. Juni im Hamburger Hafenmuseum einer interessierten Öffentlichkeit vorgestellt hat.

Während die Literatur zur Baugeschichte des Gebäudes Bibliotheken füllt, schließt der vorliegende Band eine Lücke: Es geht primär um die Nutzungsgeschichte des Kontorhauses, also um Geschichten rund um die einst dort ansässigen Firmen und um die Menschen, die für sie arbeiteten. Der Autor erzählte unter anderem über die Schwierigkeiten bei der Firmenrecherche, da Archivmaterial, etwa Fotos, mitunter kaum mehr vorhanden ist.

Gert Kählers kenntnisreicher architekturhistorischer Beitrag zum zeitgeschichtlichen Hintergrund sorgen für die Einordnung dieser Geschichte(n) in eine Chronologie der Ereignisse bis in unsere heutigen Tage hinein.

So erfahren Leserinnen und Leser nicht nur, wie der betagte Bauherr Henry Brarens Sloman – er war zum Zeitpunkt des Baubeginns am 14. Mai 1922 bereits 73 Jahre alt – zu dem Grundstück in der südlichen Altstadt gekommen war, sondern auch zu seinem Reichtum. Im Jahr zuvor hatte er das zweigeteilte Grundstück für 1.922.000 RM erworben. Er galt als reichster Bürger der Stadt, sein Vermögen hatte er inflationssicher im Ausland angelegt.

Mit dem Abbau von Salpeter in der chilenischen Atacama-Wüste hatte er ein Riesenvermögen gemacht. Die Schnellsegler der Reederei Laeisz, auch als „Flying P-Liner“ bekannt, transportierten das als Grundstoff sowohl für Düngemittel als auch für Sprengstoffe benötigte Kaliumnitrat in gefährlicher Fahrt um Kap Hoorn nach Hamburg. Hier befand sich der größte Importhafen für Salpeter. Im Hafenmuseum lässt sich mit der „Peking“ eine der legendären und eindrucksvollen Viermastbarken bewundern.

Um die Arbeiterschaft in der trocken-heißen und lebensfeindlichen Wüstenregion mit ihren Hochplateaus, den Pampas, an sich zu binden, führte Sloman eine eigene Währung ein. Die „Fichas“, es waren Bezugsmarken aus Hartgummi, konnten nur in den betriebseigenen Konsumstätten eingelöst werden, die sämtliche Waren importieren mussten, und die zu stark überteuerten Preisen angeboten wurden. Kam es zu Streiks, wurden diese durch chilenisches Militär niedergeschlagen.

Salpeterkönig und Klinkerfürst

Zurück zum Chilehaus, das seine Benennung der Referenz an das Land verdankte, das dem Bauherrn zu seinem Reichtum und zu seinem Beinamen „Salpeterkönig“ verholfen hatte.

Architekt Fritz Höger, der es mehr und mehr vorzog, sich als Baumeister zu bezeichnen, wurde mit diesem stilprägenden Gebäude weithin bekannt, berühmt, gerühmt und gefeiert. Hauptsächlich mit dem Chilehaus wurde sein Name verbunden. Es war Högers Opus magnum. Wegen seiner Formensprache nannte man ihn scherzhaft „Klinkerfürst“.

S 072 Ikonenfoto Spitze 1924©Foto_Gebr Dransfeld Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg

Es schien, als wäre dieses „Schiff aus Stein“ aus Superlativen errichtet worden. Ein paar Daten verdeutlichen es:

Zwischen dem Baubeginn im Mai 1922 und dem Einzug der ersten Mieter im April 1924 lagen keine zwei Jahre

Die beiden Grundstücke hatten eine Fläche von knapp 6.000 qm², die nutzbare Fläche lag bei 30.000 qm², verteilt auf 10 Stockwerke. Bei den oberen Stockwerken handelt es sich um Staffelgeschosse. Eines der ersten Hochhäuser in Deutschland.

750 Güterwagen Zement, 30.000 cbm Kies, 1.600 t Rundeisen, 900.000 Stück Deckenhohlsteine, 18.000 lfd. Meter Rammpfähle, 4,8 Millionen Backsteine, Bockhorner Klinker, Ausschussware und 2.900 Fenster wurden verbaut.

Dass das Chilehaus auch ganz anders hätte aussehen können, belegen Entwurfspläne, Skizzen und Zeichnungen, die der Umsicht des Hausmeisters Werner Rose zu verdanken sind, der den historischen Wert der jahrelang unbeachteten Rollen und Pappen erkannte und diese vor der Entsorgung bewahrte. „Neben Högers konzeptionellen Etappen ist auch der Wettbewerbsbeitrag des Architekturbüros Puls und Richter, Hamburg, im Konvolut enthalten, ebenso wie Zeichnungen des Malers und Illustrators Hermann de Bruycker, deren Ausführung als Bauschmuck nicht realisiert wurde“, berichtet Michael Batz. Offenbar sind die visuellen Vorlagen der Fassadenpläne und Grundrisse noch unbekannt und könnten nun architekturhistorisch ausgewertet werden.

Ein gutes Stück Hamburg-Literatur

S 268 Treppenhaus Portal C 2024©Foto_Heinz-Joachum Hettchen

Michael Batz´ „ChilehausStory“ bereichert die Hamburg-Literatur mit einem konzeptionell gut durchdachten, aufwendig und sorgfältig recherchierten, reich bebilderten Band, der die menschlichen Akteure hinter all den bekannten Superlativen in den Vordergrund stellt. Er gewährt kenntnisreiche Blicke hinter die Klinkerfassade des singulären Prachtbaus, in die Büros der Firmen, deren Exponenten und einfachen Mitarbeitern durch all die Jahrzehnte, der Weimarer Republik, der Zeit des Nationalsozialismus, der Kriegs- und Nachkriegszeit bis in unsere Gegenwart. Das Buch gibt ebenso Einblicke in die politischen Verstrickungen des Baumeisters Fritz Höger, der bereits 1932 in die NSDAP eintrat, sich Hitler allerdings vergebens andiente. Und: Von Beginn an wurde das Chilehaus zum Mythos stilisiert, zu einem Symbolträger der mächtigen Hamburger Kaufmannschaft.

Heute beherbergt das Chilehaus 79 Firmen und weitere Geschäfte im Erdgeschoss. Das kleine Café im Innenhof  mit Blick auf das gegenüberliegende Treppenhaus ist für einen Besuch zu empfehlen.

 

Michael Batz: ChilehausStory · 100 Jahre einer Hamburger Legende, Dölling & Galitz, Hamburg 2024, Gebunden, 232 S.

[i] aus: Hamburg History live-Magazin, Ausgabe 14, S. 62

 

Unser Gastautor Hartmut Höhne, geboren 1958, lebt seit 1984 in seiner Wahlheimat Hamburg, der er sich in kritischer Sympathie verbunden fühlt. Als Erzieher und Diplom-Soziologe übte er Tätigkeiten in diversen Branchen wie der Kinder- und Jugendarbeit, im Gesundheitswesen, in Umfrageinstituten und in der Erwachsenenbildung aus, aber auch im gewerblichen Bereich (Brauerei, Hafen). Er schreibt Romane, Erzählungen und Kurzprosa. »Mord am Thalia« ist sein zweiter Krimi im Gmeiner-Verlag.
(Text: Gmeiner-Verlag)

Einst im Land Gaza … Eine Kurzgeschichte

Der Autor, unterwegs im Land Gaza. Foto: privat

Ich heiße Mosche Landau. Traurig bin ich, und da es so ist, gehe ich mittags oft an diese Mole und schaue über das Meer. Denn das Meer beruhigt. Trübe Gedanken verweht der Wind.

Einst bin ich über das Meer ins Heilige Land gekommen. Meine Eltern flüchteten aus der Heimat nach Amerika. Ich verließ New York, um mich in das Land meiner Urahnen zu begeben. Nun darf ich auch hier nicht sein, wo ich sein möchte … was bin ich, frage ich mich? Ein Migrant? Ein Vertriebener? Ein Heimatloser? Ein Produkt kultureller Gegensätze?

Seit ein paar Tagen bemerke ich einen weißhaarigen Mann. Er sitzt immer allein an eine Mauer gelehnt, und aus den Lumpen zu schließen, die ihn umhüllen, ist er ein Bettler. Sein dunkles Gesicht ist zerfurcht, eingefallen, aber von gütigem Ausdruck. Heute beobachte ich wie er ein Stück Brot und eine Orange aus seiner Burnusfalte zieht. An beidem nagt er, als treibe ihn großer Hunger. Nach einer Weile stemmt er sich hoch und schlurft den nahen Häusern der Stadt zu. Auf dem Weg in mein Büro sehe ich den Landstreicher wieder. Er durchsucht einen Abfalleimer nach Essbarem. Seltsam: Der Mann beschäftigt mich.

Am nächsten Morgen hockt er erneut an der Mole. Ich spreche ihn an. Er zuckt zusammen als habe ich ihm ins Ohr gebrüllt. Ängstlich schlägt er schwarze, wässrige Augen auf. „Shalom, ist das Ihr Stammplatz?“, frage ich. „Dilwati (jetzt) – ajwa (ja),“ antwortet er arabisch. „Dann wissen Sie, was am Hafen so passiert?“ Er schaut dem Verkehr nach und meint: „Alles zieht dahin, nichts bleibt!“

Einem Drang, oder einer sozialen Regung folgend, schlage ich vor: „Werfen Sie das verschimmelte Brot weg, wir gehen etwas essen.“ Der Bettler glotzt, als traue er seinen Ohren nicht. „Was?“ – „Ich spendiere ein Essen!“ – „Und? Ihr Juden macht nichts umsonst!“ – „Vielleicht gibt’s Ausnahmen.“ – „Ich bin Flüchtling“, weht der Alte ab. „Sind wir das nicht alle?“, meine ich versöhnlich. „Meinetwegen, wenn Sie sich Läuse holen wollen!“

Gaza-Stadt vor 2023. Foto: Archiv Cropp

Wir gehen Jaffas Elyashiv Street entlang. In den Shaul’s Inn, der um diese Zeit rappelvoll ist. Schieben uns vor, an einen Tisch, den wir im nächsten Moment für uns alleine haben. Erst jetzt merke ich, dass seine Ausdünstungen ungeheuerlich sind. Bei dem Anblick der Auslagen hinter der Vitrine bildet sich Speichel um seine Lippen. Die Kellnerin kommt widerwillig an unseren Tisch. „Lamm mit Reis,“ sagt er leise.

Als das Essen gebracht wird, würde ich ihn gern mit tausend Fragen bedrängen. Er säbelt das Lammfleisch in kleine Stücke. Mit beachtlicher Geräuschkulisse leert er seinen Teller, führt ihn zum Mund und leckt den Soßenrest heraus. Ein saurer Rülpser zeigt an: Es hat ihm geschmeckt. „Satt?, frage ich. „Nein,“ sagt er kaum hörbar. Ich bestelle das gleiche noch einmal. „Allah ist mit den Barmherzigen!“, grunzt er.

Wir schweigen uns an. Der Alte blickt auf die Straße, meint endlich: „Ich bin heimatlos und zwischen alle Fronten geraten. Der Abfalleimer ist meine Speisekammer, der Himmel mein Dach.“ – „Gott schützt die Standhaften,“ versuche ich zu trösten. Er schüttelt den Kopf. „Ich, Jusuf, wurde verstoßen!“, sagt er mit traurigen Augen … und dann, ganz unerwartet, lässt er seine Geschichte heraus. Sein Leben interessiert mich. Einem plötzlichen Impuls folgend bin ich begierig, etwas über den Palästinenser zu erfahren.

Vor Jahren, der Rücken Jusufs war von harter, schlecht bezahlter Arbeit schmerzhaft geworden, stieg er doch regelmäßig auf den Dorfhügel, bis er die Stadt und das Meer in der Ferne, so grausam lockend, nicht mehr sehen konnte. Der Blick bereitete Pein, wie Sirenen, wie Drogen einem Süchtigen.

Jaffa, die Stadt in der Nachbarschaft, lag in der Hand eines verlängerten Arms vor ihm. Und doch fern in einer anderen, fremden Welt. Einer Welt so leicht und schön und zwanglos. Im Dorf erzählte man sich Geschichten über die Stadt, die ihm nachts den Schlaf raubten. Dort gäbe es das wahre Leben. Mit Geld sei dieses echte Leben herrlich auszukosten. Jusuf, der Landarbeiter, wollte von diesem Leben auch gern etwas probieren. Fünfundvierzig Jahre alt war er geworden, hatte sieben Kinder gezeugt. Diese und seine Frau zu ernähren war mühsam. Überhaupt waren die Dinge in seinem Dorf kompliziert und verworren. Am meisten bedrückte ihn das Verhalten seiner Frau, die ihn seit der Heirat für einen Trottel hielt. Er musste ihr endlich das Gegenteil beweisen!

All die schwere Arbeit als Erntehelfer galt nichts in ihren Augen. Er rackerte sich auf entlegenen Plantagen ab, um im Akkord Oliven zu pflücken. Und sie kassiert danklos seinen Lohn. Der Grund für dieses Verhalten lag in einem Stück Land. Als Mitgift hatte sie ein steiniges Feld bekommen. Jusuf bitter: „Das schielende Mädchen wäre der Vater ohne die Aussteuer nicht losgeworden!“ Aber der verdammte Acker mit achtzig krüppeligen Granatapfelbäumen war ihr stilles Pfand, und der Stachel, den Fatma, sein Weib, kräftig in sein Fleisch bohrte. Zum Glück war da der irre Traum vom prallen Leben im Land des Nachbarn.

Bis Mustafa, der Geschäftsmann, aus Gaza Stadt erschien. Er war es, der Jusufs Sehnsucht mit zwanzigtausend Dollar erfüllte. Er brauchte nur unterschreiben und sich der Illusion des anderen Lebens hinzugeben. Sauber gebündelte grüne Dollarnoten glitten aus dem Lederköfferchen Mustafas in die Tasche Jusufs. Verhasstes Land war zur Größe einer Zigarrenkiste geschrumpft und bestens zu transportieren.

Jusuf besorgte sich ein Auto mit Chauffeur und fuhr dem Meer entgegen, das so verheißungsvoll glitzerte. Und am Meer hielt er auf die Stadt zu, wo ihm ein schickes Hotel empfohlen wurde. Dort stellte sich rasch die passende Frau ein. Sie hieß Natascha, hatte Haare, gelb wie der Wüstensand, Augen, blau wie das Meer, und eine Haut, weiß wie Ziegenmilch. Wenn sie ihm ganz nah war, duftete sie wie frischer Jasmin. Sie kam aus der Ukraine.

Jaffa hatte sie auf illegalem Weg erreicht, war hier einfach untergetaucht. Auch sie hatte einem Traum. Den Traum von einem Haufen Dollarscheinen in einer neuen Heimat. Während Jusufs Geldbündel schmolz wie Butter in mediterraner Sonne, mehrte sich das Bündel Nataschas … bis Jusuf mit nur noch fünftausend der grünen Scheine erwachte und in sein Bergdorf zurückkehrte. Wo er sich jetzt einem Orkan der Entrüstung zu stellen hatte.

„Oh schändlicher Verräter!“, hieß es. Mustafa, der Geschäftsmann, hatte den Granatapfelbaum-Acker weiterveräußert – trotz heiliger Eide dies nie zu tun. Die weihevolle Erde erwarb eine jüdische Baufirma.

Der Bettler seufzt und schlürft Tee. „Ich bin der Verräter. Für das Dorf hatte ich Heimatland an Juden verschachert und mich mit dem Geld in Sünde gesuhlt!“ – „Das Hanggrundstück bei Jabaliyah?“, will ich wissen. „So ist es – warum?“, fragt er, fährt aber fort: „Meine Schandtat hing zwischen mir und meinem Weib, und ich sah eine zweite Frau als einzigen Ausweg aus dem Dilemma.“

Fünftausend Dollar ist ein beachtlicher Brautpreis. Doch er bekam nur eine aus einem heruntergekommenen Clan, dem es egal war, dass er Land an Juden verkauft hatte. Die Frauen, doch grundverschieden, verschworen sich gegen ihren Mann an dem Tag, an dem jüdische Sägen die alten ehrwürdigen Granatapfelbäume fällten, um an deren Stelle jüdische Häuser mit bunten Dächern zu errichten. Als die ersten Israelis die neuen, schönen Häuser beziehen wollten, rebellierten seine Frauen. Jusuf durfte weder klagen, lamentieren, noch züchtigen. Wer Heimaterde an Juden verkauft, hat zu dulden, zu schweigen, und zu leiden. Er wurde aus dem Haus, dann aus dem Dorf gejagt. Flüchten konnte er nur ins verhasste Israel. Kein Moslem aus Gaza hätte ihm Obdach gewährt.

Das war vor zwei Jahren. Hätte er das Land doch nur nicht verkauft! Er könnte Granatäpfel ernten, bescheiden, aber ehrbar leben. „Ich bin am Ende. Die Schmach ist groß. Ich büße meine Tat, in dem ich in der Fremde unter Ungläubigen lebe wie ein räudiger Hund,“ flüstert der Alte und über sein zerfurchtes, gütiges  Gesicht rinnt eine Träne …

Nun umarme ich Jusuf und drücke ihn lange. Schließlich blicke ich in seine wässrigen Augen und sage: „Ach Jusuf, wie sich Lebenswege gleichen, ich bin …“ – „Unsere Lebenswege gleichen sich?“, unterbricht er, „was meinst du damit, Jude?“. Ich antworte: „Gehe in dein Dorf zurück, gewiss wird man dich jetzt aufnehmen. Unsere Regierung …“ *)

„Oh ja, ich begreife,“ sagt der Palästinenser. Und über sein Gesicht huscht ein sanftes Lächeln. Er trinkt vom Tee. Dann steht er unsicher auf, beugt sich zu mir, haucht: „Schukran, danke. Allah weist mir den Weg .“ Damit wankt er zielstrebig aus dem Lokal, als gelte es einen wichtigen Termin wahrzunehmen.

Der Wirt atmet auf, die Gäste entkrampfen sich. „Ich habe zu danken!“, rufe ich ihm nach und zahle. Meine Traurigkeit ist verflogen. Merkwürdig, ich hänge ihm nicht mehr nach, dem zerplatzen Traum vom neuen Heim in der Siedlung, am Hang in Meeresnähe …

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*) Ab 2005 verbot die israelische Regierung ihren Bürgern die Besiedlung des Gaza-Streifens. Und was ist heute, 2024, daraus geworden?

 

Gedichte in neuem Gewand: Das lyrische Foyer

Fritz Sebastian Konka. Foto: Markus Schwochert

Die Zeiten, in denen Gäste ehrfürchtig und still einer Literaturlesung folgen und anschließend schüchtern eine Frage an die Schriftstellerin richten, scheinen vorbei zu sein. Während die Besucherzahlen bei klassischen Lesungen immer mehr zurückgehen, können andere Arten der Buchvorstellung wachsende Publikumszahlen verzeichnen. Beim Konzept „Das lyrische Foyer“ sind Schriftsteller und Gäste gleichermaßen gestaltende Elemente, denn die Reflexion der Texte durch die Leserschaft, in diesem Fall Zuhörerschaft, hilft nicht nur beim Erschließen der Inhalte, sondern ermöglicht einen für beide Seiten bereichernden Austausch. Für die schreibende Zunft ist es eine wertvolle Gelegenheit, die Wirkung ihrer Lyrik kennenzulernen.

Das Konzept hat der Autor Fritz Sebastian Konka, eine „prägende Person der Hamburger Literaturszene“ („Die Zeit“ v. 30.03.23), entwickelt. Wir haben ihn zum Interview eingeladen.

DAP: Fritz, wie bist du darauf gekommen, „Das lyrische Foyer“ zu veranstalten?

Fritz Sebastian Konka: Im Frühjahr 2022, anlässlich des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, war die Anthologie „Antikriegslyrik“ des Trabanten Verlags erschienen. Ich bin dort auch mit einem Gedicht vertreten. Durch Lesungen mit dem Buch wollte ich Spendengelder für die Ukraine sammeln. Ich fragte bei der Kunstklinik an, ob sie eine solche Spendenlesung veranstalten wolle. Leider hatte das Team um die Geschäftsführerin Rika Tjakea keine Kapazitäten. Rika schlug mir aber vor, die Lesung in Eigenregie in der Kunstklinik durchzuführen. Das tat ich und holte mir den Schlüssel, baute alles auf, inklusive Ton und Beleuchtung, moderierte und las selbst. Mein Tatendrang beeindruckte Rika. Kurze Zeit später fragte sie mich, ob ich nicht regelmäßig Lesungen in der Kunstklinik veranstalten wolle. Wollte ich und entwickelte das Konzept für das lyrische Foyer. Wir erhielten Förderungen für das Konzept und seitdem, September 2022, gibt es diese Reihe.

DAP: Bei der Programmgestaltung gehst du nach einem besonderes Verfahren vor, indem sich Tandempartner zu einem Thema bilden, bitte erläutere das doch einmal näher.

FSK: Ich mag den Austausch, das Miteinander-in-Kontakt-Gehen. Daher stehen die Abende des lyrischen Foyers jeweils unter einem Thema. Dieses wählen regelmäßig die beiden Lyriker:innen, die auf dem Sofa der Kunstklinik Platz nehmen, zusammen aus. Zu diesem Thema kann jede:r, der/die mag, Gedichte auf Instagram beisteuern. Drei Autor:innen dieser Gedichte werden eingeladen, ihr eigenes Gedicht und das einer anderen Autor:in, die/der ebenfalls auf der Bühne steht,  vorzutragen. Dies erleichtert und fördert den Austausch untereinander und schafft unterschiedlichste Blicke auf ein- und dasselbe Thema. Mir gefällt das.

Paulina Behrendt beim Das lyrische Foyer Festival. Foto: DAP

Neben der regelmäßig wiederkehrenden Veranstaltungsreihe an einem Freitagabend gibt es nun auch die Wochenendveranstaltung „Das lyrische Foyer Festival“. Mit einer Mischung aus Workshops von Yoga über Schreibwerkstätten bis zu PR-Maßnahmen für Autoren, Lesungen und Konzerten werden auch Menschen angesprochen, die mit dem Schreiben gerade beginnen oder noch gar nicht angefangen haben, sich aber einen Einstieg wünschen. Das Festival vom 5. bis 7. Juli bot beispielsweise einen Workshop namens „Schreiben im Schwarm“ unter der Leitung von Marta Marx an. Die Verfasserin dieser Zeilen hat an dem Workshop teilgenommen. Marta Marx beeindruckte durch eine sehr einfühlsame Herangehensweise und das Eingehen auf die individuelle Situation und Schreiberfahrung der Teilnehmerinnen. Nach einer kurzen Einführung ging die Gruppe in den Eppendorfer Park und verfasste, jede für sich, ein Minutenprotokoll über einen Zeitraum von 20 Minuten. Alle Sinneseindrücke waren gefragt, Geräusche, Gerüche, Gefühle und natürlich alles, was sich im Blickfeld tat. Die Teilnehmerinnen saßen dicht nebeneinander, tauschten sich während des Schreibens jedoch nicht aus. Das anschließende reihenweise Vorlesen, strukturiert nach den jeweiligen Minuten, in denen geschrieben wurde, offenbarte ein Kaleidoskop aus Beobachtungen desselben Schauplatzes. Abgesehen davon, dass dies eine großartige Übung zum Thema Beschreiben in der Literatur ist, hatten die Teilnehmerinnen auch die Möglichkeit, am Projekt „Parallelprotokolle“ der Kunsthalle Below in Mecklenburg-Vorpommern teilzunehmen, die aus den Minutenprotokollen thematisch sortierte Hefte erstellt und herausgibt.

Beeindruckend ist auch, dass die Mitwirkenden anlässlich des Festival-Wochenendes nicht nur aus dem Hamburger Raum, sondern aus der gesamten Bundesrepublik angereist waren.

Nach jedem Tandem-Lesepaar antwortete der Singer-Songwriter Max Prosa mit einem eigenen Gedicht auf die Texte des Lesepaars und sang einige seiner berührenden Lieder, setzte sich dazu ans Klavier oder spielte Gitarre. Diese Präsentationen sorgten für eine nahezu magische Verbindung der ganz unterschiedlichen Beiträge über den ganzen Abend hinweg.

DAP: Fritz, du verfügst offensichtlich über ein sehr großes Netzwerk. Wie hast du es aufgebaut?

FSK: Über Instagram. Es ging los in der Corona-Zeit mit dem Projekt „Lockdownlyrik“, das Fabian Leonhard, der Gründer des Trabanten Verlags, ins Leben gerufen hatte. Ich lernte nach und nach, mehr und mehr lyrikaffine Menschen kennen und lud sie nach Hamburg zu einem persönlichen Austausch beim sogenannten „Instalyrik-Treff“ ein. Kurze Zeit später entstand das lyrische Foyer und das Netzwerk wuchs weiter.

Das Festival ist nicht nur zur Präsentation eigener Werke gedacht, sondern hat gleichzeitig den Charakter einer Fachtagung und Fortbildungsveranstaltung. Interessierte werden an das kreative Schreiben herangeführt und bekommen neue Impulse. Zeit zum Austausch untereinander ist gegeben und es werden vielleicht neue Literaturfreundschaften geschlossen. So ist das Festival nicht nur ein Anlass der Begegnung der Autorinnen mit dem Publikum, sondern auch eine Zusammenkunft Kreativer, was für die Schriftsteller eine bereichernde Unterbrechung der ansonsten recht einsamen Tätigkeit bedeutet.

DAP: Du bist von Haus aus Jurist. Wann hast Du begonnen zu schreiben? Schreibst Du ausschließlich Lyrik?

FSK: Meine ersten Gedichte, natürlich Liebesgedichte, habe ich mit 18 geschrieben. Ich habe auch Prosa und Kurzgeschichten sowie zwei Romane verfasst. Alles aber unveröffentlicht und schon ein Weilchen her. Momentan schreibe ich, wenn überhaupt, Gedichte. Für längere Texte fehlt mir momentan die Zeit, vor allem aber die Muße. Denn würde ich wirklich wollen, würde ich die Zeit finden. Da muss ich mir nichts vormachen.

Max Prosa. Foto: DAP

Beim Festival Das lyrische Foyer sind viel mehr Altersgruppen vertreten als bei Lesungen in der klassischen Form. Es scheint, dass diese Form der Veranstaltung, die nicht nur einen Frontalvortrag darstellt, sondern die Zuschauer einbezieht, viel mehr Menschen interessiert als das pure Zuhören. Besonders beeindruckt hat mich das sehr junge Tandempaar, das sich literarisch mit der Generationenproblematik zwischen Großeltern und Enkelkindern befasst.

DAP: Fritz, glaubst Du, dass die klassische Art und Weise der Autorenlesung sich als Veranstaltungsform überlebt hat?

FSK: Nein, bestimmt nicht. Sie scheint mir nach wie vor das dominierende Format zu sein und ein schönes dazu.

DAP: Möchte das Publikum stärker auch in die Rolle der Akteure gehen und sich als Teil der Performance begreifen?

FSK: Das eine Publikum gibt es nicht. Manche hören gerne (nur) zu, andere beteiligen sich (auch) gerne. Bei uns sind alle willkommen.

Bewerbt euch für Das lyrische Foyer:

Das lyrische Foyer findet wieder am 4. Oktober 2024 statt. Es ist auf Instagram unter @das_lyrische_foyer sowie auf der Homepage von Fritz Sebastian Konka zu finden, man kann sich noch für die Teilnahme bewerben.

 

Denn sie lieben, was sie tun

Unter dem Motto … fair geht vor fand Ende April die von Manuela und Uwe Kowald veranstaltete alternative Buchmesse in Himmelpforten bei Stade statt. Rund 25 Aussteller teilten sich die Eulsete-Halle mit einem Bücherflohmarkt. Die Bezeichnung „alternative Buchmesse“ weckt in den älteren Semestern von uns eher Assoziationen zur alternativen Szene der 1980er Jahre; aber weit gefehlt: In diesem Fall ging es um alternative Publikationsmöglichkeiten für Schriftsteller, die im so genannten ersten Buchmarkt kaum eine Chance bekommen. In einem Markt, der hauptsächlich von Übersetzungen lebt und fast keinen Raum für Neuerscheinungen hat, sind neue Schriftstellerinnen harten Bedingungen ausgesetzt. Als das Selfpublishing aufkam, damals noch verachtet und verpönt von denen, die „es geschafft“ hatten, in einem größeren Verlag unterzukommen, kämpften die schreibenden Pioniere um einen Platz in der Welt der zu Papier gebrachten Gedichte und Geschichten, die ihren Weg zu Lesefreudigen finden sollten. Und was soll man sagen: Gut 20 Jahre später ist es kein Platz, sondern ein eigener Markt, der sich still und leise neben dem etablierten Buchmarkt, beherrscht von großen Verlagen, aufgestellt hat. Und der so viel Druck auf den „ersten Buchmarkt“ ausgeübt hat, dass es jetzt in Leipzig und Frankfurt am Main Selfpublisher-Areas auf den Buchmessen gibt. Sicherlich hängt die Qualität der Texte nicht zuletzt davon ab, ob sich die Verfasser ein Lektorat geleistet haben; Leser sind trotzdem zu finden. Und wer es als Selfpublisher schafft, sich einen Leserkreis zu erarbeiten, hat sich tief ins Marketing eingearbeitet. Denn die besten Texte kommen nur dann unter Leute, wenn die richtigen Werbemaßnahmen sie in die Welt bringen.

Präsentationen, mit Liebe gemacht

Zunächst beeindruckt, mit welcher Liebe zum Detail und mit welch großer Sorgfalt die kleinen Verlage und Selfpublisher ihre Stände ausgerichtet haben. Fast alle haben nicht nur Bücher, sondern auch Lesezeichen, Flyer, Leseproben und sogar bedruckte kleine Leinenbeutel mit dem entsprechenden Buchcover dabei und ansprechend aufgebaut. Für einen Titel, bei dem es um Schokoladentaler geht, sind goldglänzende Schokotaler auf schwarzem Samt ausgestreut; Farben, die sich im Buchcover widerspiegeln.

Auf den ersten Blick scheint es, als ob fast alles Fantasy und New Romance wäre. Beide Genres fallen durch eine besondere Farbgestaltung ins Auge sowie durch malerische oder Tattoo-ähnliche Coverbilder. Die meisten dieser Titel haben ein größeres Format als man es von traditionellen Verlagspublikationen her kennt, allerdings oft auch größere Schrift und einen großzügigen Buchsatz, der das Lesen erleichtert. Einige Bücher sind fast zu dick und schwer, um sie beispielsweise abends im Liegen zu lesen. Das schreckt die Fantasy-Fangemeinde offenbar nicht ab.

Der zweite Blick zeigt, dass sich andere Themen und Titel dazwischen befinden, die einen außergewöhnlichen Hintergrund haben. So hat die Heimatforscherin Debbie Bülau (s. Foto rechts, mit Landrat Kai Seefried) eine reich bebilderte Dokumentation von 696 Seiten über die „Heimatgeschichte von der NS-Zeit bis heute“ für den Ort Kutenholz und dessen Umgebung veröffentlicht. Für dieses Buch hat sie mehrere Jahre über die Opfer des Nationalsozialismus recherchiert und akribisch die Schicksale von Zwangsarbeiterinnen, KZ-Häftlingen, Kriegsgefangenen, Opfern der NS-Psychiatrie und kurz vor Kriegsende in der Samtgemeinde Fredenbeck verstorbenen britischen Soldaten sowie Wehrmachtssoldaten zusammengetragen.

Cosplayer und das wahre Leben

Besucher jeden Alters und sogar einige Cosplayer, wie man sie sonst eher in Leipzig antrifft, drängen in die Festhalle und inspizieren die ausgestellten Bücher und Lesezeichen. Und wie in Leipzig werden die Goodies freudig eingesammelt, diverse junge Mädchen stecken die Köpfe zusammen und bestaunen ihre ergatterten kleinen Schätze.

Wie einige der ausstellenden Autorinnen hat auch Rita Feinkohl ihren Stand liebevoll mit ihrem bislang einzigen Titel „Ich dank dir och schön“ dekoriert, dazu Schmuck und Tücher ausgestellt. In ihrer biografischen Geschichte verarbeitet sie ihre Erfahrungen mit einem behinderten Angehörigen, der sie lehrte, die Welt mit seinen Augen zu sehen. Mit dem Thema „Depression“ befasst sich die Autorin Jessica Düster alias Jessica Noir in ihrem Buch „Projekt Lea – Arbeitsnotizen der Depression RS21/4687/13“. Das Thema ist seit einiger Zeit nicht unbedingt mehr etwas Neues, jedoch hat Jessica Düster die Depression personifiziert und schreibt aus deren Perspektive statt aus derjenigen des Menschen, der an der Erkrankung leidet.

Haiku und Gruselgeschichten

Der Poet und Schriftsteller Manuel Bianchi hat Haiku-Dichtung und Gruselgeschichten in seinem Repertoire und erfindet für seine Gedichtbände Titel wie „poetricity“ (urbane Lyrik) oder „#commutiny“, dem neuesten Band mit Gedichten und Polaroids. „Die Gedichte entstanden in einem Zeitraum von dreieinhalb Jahren, eine Zeit der großen Umwälzungen. Die Pandemie hat ebenso wie andere persönliche Erlebnisse des Dichters ihre Spuren hinterlassen“, heißt es auf dem Klappentext.

Hat man früher strikt die Genres voneinander getrennt und darüber nachgedacht, ob Texte oder Projekte ausreichend „literarisch“ seien oder man sein Gesicht verlöre, wenn man dies oder jenes veröffentlichen würde, steht die jüngere Generation selbstbewusst zu den verschiedenen Facetten ihres Schreibens und färbt offenbar auch auf einige ältere Semester ab. Das gibt Hoffnung, dass die hierzulande sehr beliebte Be- oder Abwertung irgendwann weniger schnell erfolgen mag, als man es bislang gewohnt war. Und es kann allen Schriftstellern Mut machen, zu den verschiedenen Genres zu stehen, in denen sie unterwegs sind.

Melanie Amélie Opalka schreibt „Romane für starke Frauen mit Entwicklungspotenzial“ und unter dem Namen Marley Alexis Owen Thriller mit der Hauptfigur Sara Konrad. So hat sie bereits zwei Romanreihen angelegt und feiert in diesem Jahr ihren zehnten veröffentlichten Roman.

Die Frage, inwieweit die Selfpublisher und Kleinverlage sich Lektorinnen und Covergestalter leisten, wäre höchstens durch die Befragung aller Autoren zu beantworten, die auf der Himmelpfortener Messe anwesend waren. Stattdessen erfahre ich am Stand von „Mostly Premade“, dass sich die von der Inhaberin Nadine Most gestalteten Cover sehr gut verkaufen. Sie zeigt einige ihrer Arbeiten am Tablet und schlägt mir eine Gestaltung für einen Lyrikband vor, ein wenig verschnörkelt, aber irgendwie auch ansprechend.

Auch meine zweite Messerunde endet beim „Lovemoon“ Verlag für „Romance, New Adult & Romantasy“ mit seinen farbprächtigen und großformatigen Büchern. Früher hatte man Goldschnitt, heute wird mit Farbschnitt gearbeitet, was dem zugeklappten Buch das Aussehen einer Schatulle verleiht.

Das Fazit ist positiv

Die alternative Buchmesse gewährte mir einen Blick in eine andere Lese- und Schreibwelt. Als ich Kind war, sagte man uns, dass Comics unsere Lesefähigkeit verdürben. Unsere Eltern hatten Sorge, dass wir keine „richtigen Bücher“ mehr würden lesen können. Dabei lasen sie selbst Utta Danella und Marie Louise Fischer. Waren das denn „richtige Bücher“? Noch früher hatte man Barbara Cartland, eine Weile später Rosamunde Pilcher, jetzt hat man New Romance, Cosy Crime, New Adult und Insta-Love. Lesen war und ist immer auch eine Leidenschaft, die ein Wohlgefühl hervorruft – entweder, weil man schwere und anspruchsvolle Lektüre bezwungen hat oder weil man sich in leichte und von den irrwitzigen Zeiten ablenkende Geschichten flüchten kann; oftmals auch, weil man Erkenntnisse aus der Lektüre gewonnen hat. Und seien wir ehrlich: Nicht jeder Spiegel-Bestseller ist ein literarisches Meisterwerk. Was wir Schriftsteller möchten, ist doch, gelesen zu werden. Den Ausstellerinnen in Himmelpforten ist es offensichtlich gelungen, ihre Fans zu finden und ihren Geschichten Flügel zu verleihen.

Die nächste „Fair geht vor“-Buchmesse ist für den 12./13. April 2025 geplant. Der Veranstalter informiert auf seiner Website über die Details: https://www.fairgehtvor.org/Aktivitaeten/Buchmessen/

 

Dies ist eine gekürzte Version des unter dem gleichen Titel bereits auf www.schoenfeld.blog veröffentlichten Artikels; darin sind weitere Infos über die Aussteller und Links zu deren Websites zu finden.

Fotos: Maren Schönfeld / Manuela Kowald

Panel de discusión “ Cien años de olvido – A dónde vas, Latinoamérica?

Foto: José Napoleón Mariona

Poetas-Ensayistas-Novelistas-Pen-Alemania. Pen Centrum Alemania –
100 Aniversario.
Asamblea anual 2024 en Hamburgo.

Gabriel García Márquez al agradecer el Premio Nóbel de Literatura dijo por primera vez la frase “ Cien años de olvido para Latinoamérica“ , y el CLUB PEN DE ALEMANIA lo vuelve a utilizar en ocasión de este panel de discusión acerca de la situación de los periodistas latinoamericanos acosados en sus propios países. Los participantes al foro de discusión dieron testimonio del rescate que el CLUB PEN realizó para sacarlos con vida desde una situación de exilio domiciliar en sus propios hogares y darles protección en Europa.

María Teresa Montaño, de México

María Teresa Montaño Delgado, periodista investigativa de México, relató los detalles de la persecución y acoso de toda su familia, como reacción refleja de las mafias investigadas y la posible conexión con las agencias de gobierno adictas a proteger más a este crimen organizado que a los ciudadanos.

María Teresa fue secuestrada durante 6 horas en el año 2021, los mafiosos la amarraron de pies y manos, le vendaron los ojos y sacaron de su casa sus archivos investigativos.
En ese episodio le robaron el automóvil y dejaron mensajes de amenaza de muerte para sus hijos. Algunas organizaciones de rescate a periodistas perseguidos, como Reporteros sin fronteras y la organización Forbidden Histories le ayudaron a regresar a México, después de cuatro meses de exilio en España. Después del asilo en España continuaron las amenazas y se volvió a exilar otros cuatro meses más. Su campo de investigación periodística son las Mafias Políticas y en el año 2023 pudo editar el trabajo que antes le habían robado durante el secuestro. PEN le confirmó en diciembre del año 2023 su apoyo y ahora está en preparación un libro que narra todo este episodio. Un reportaje aparecido en el periódico madrileño EL PAÍS fue el que despertó la atención del CLUB PEN.

Acoso contra las mujeres periodistas en Latinoamérica

María Teresa opina que en toda Latinoamérica existe el derecho a la libre opinión, aunque hay agresiones nacidas de la naturaleza machista de esa sociedad, con el resultado de que se registra un mayor impacto en contra de las mujeres periodistas investigativas.

Existe esperanza en la elección de una presidenta de la República mexicana para detener la violencia estructural en contra de las mujeres.

Las tres  profundas crisis más urgentes en México

La crisis profunda de los Derechos Humanos, con los miles de casos de desaparecidos y de feminicidios se manifiesta cruelmente con la ausencia de atención para las víctimas. Muchas familias de las víctimas se han organizado para solicitar el apoyo y la protección.

La crisis profunda de poder, crea la pregunta fundamental de ¿Quién es el que gobierna de verdad en México? Es el Presidente, o es el Parlamento, o es el conjunto de Mafias Políticas?

La profunda crisis humanitaria está pendiente de solución sobre todo por la incertidumbre de la magnitud de la intervención del propio presidente saliente, para lograr entendidos con esas Mafias Políticas, lo cual le deja una herencia política a la nueva presidenta electa.

Situación general latinoamericana de la represión literaria

El plano general latinoamericano muestra una represión literaria y el estudio de la organización Reporteros sin Fronteras en su Clasificación anual mundial 2024 muestra la situación precaria de la Libertad de Prensa sobre todo en Argentina, Perú, El Salvador, con un franco deterioro de la Libertad de prensa en todos los contextos políticos.

En resumen, en Latinoamérica es delito escribir desde el lado de la oposición sobre todo en los siguientes países tales como Cuba, Guatemala y Venezuela. Hay leyes y decretos explícitos que castigan el trabajo del escritor crítico.

Ariel Macedo Téllez, de Cuba

Ariel Macedo Téllez, actor, fotógrafo, investigador, es el coordinador en Cuba de la Plataforma “Demonios y Ángeles”. Algunas actividades de denuncia trajeron la atención del gobierno y desataron la represión en su contra.

Ha sido rescatado por PEN de Alemania, para salir de esa situación de incertidumbre y se encuentra a salvo en Alemania. El acoso contra Ariel Macedo Téllez es la continuación de una larga historia de represión política contra los escritores y poetas descontentos con la política del gobierno. En el caso de Ariel, la represión policíaca comenzó en el año 2018, bajo el manto de amenazas y de interrogatorios de parte de la policía política.

El Decreto 349 del Ministerio de Cultura en Cuba

El decreto 349, del año 2018, del Ministerio de Cultura es un instrumento de represión en contra de los autores y artistas que no se incluyan en los registros autorizados por el Ministerio de Cultura.

La Policía Política tiene el monopolio de la represión contra Ariel en particular y contra las asociaciones de artistas independientes. El gobierno cubano ha arrestado varias veces a Ariel, desde 2019 al 2022 , hasta imponer la pena de prohibición para salir del país-. Interesante es la percepción de Ariel, cuando encuentra un paralelo entre la represión en contra de los escritores independientes, tanto por del estado de la República Democrática Alemana (DDR) como en Cuba. El acoso del gobierno en contra de Ariel motivó un movimiento de protesta de parte del grupo de artistas independientes en contra de la política del Ministerio de Cultura. El acoso del gobierno asume diferentes formas que van desde las amenazas, los atentados y el arresto domiciliar. Ariel pudo obtener una autorización para viajar a Nicaragua y desde allí decidió viajar durante   tres días en diferentes buses hasta llegar a México.

Los viajes clandestinos en Centroamérica

Habiendo contratado los servicios de un mafioso dedicado a la migración informal, al llegar a Guatemala le confiscó el equipo profesional como periodista , bajo la sospecha de que Ariel se había colado como refugiado para redactar un reportaje , enviado por las autoridades cubanas , a fin de desprestigiar a las naciones que tienen migrantes informales en la zona centroamericana. Aunque no recuperó el equipo que le robaron los mafiosos que organizan esos viajes clandestinos, le perdonaron la vida, al descubrir que Ariel era un poeta perseguido por el gobierno cubano. La reacción del gobierno cubano fue la de exponerlo a la opinión pública , calificándolo de lumpen , de basura social por haberse exilado voluntariamente.

El rescate de Ariel hacia Alemania

Finalmente, PEN lo sacó de México y lo rescató para trasladarse a Alemania bajo su protección.

Ariel está muy triste por la decisión de quedarse a seguir luchando dentro de Cuba, por algunos poetas cubanos perseguidos por el gobierno, y no aceptan la oferta de PEN para encontrar una solución de vida, al trasladarse hacia Alemania.

El opositor tiene que exilarse para después de estabilizar su vida en ese exilio, regresar a luchar dentro de su propio país, ya con mejores herramientas en base a sus contactos durante la duración del exilio.

Ariel era el director secreto de una Página Satírica llamada “ Hay qué muera” y su identidad fue descubierta al público, como parte del acoso del gobierno, para ponerlo en peligro de los seguidores fanáticos del régimen.

Amir Valle Ojeda, de Cuba

Amir Valle Ojeda nació en Guantánamo dentro de una familia leal al ideal revolucionario. No era una persona disidente ni desobediente al régimen.

Solamente escribía dentro de uno de los dos bloques de escritores dentro de Cuba, que son : los que están inscritos en las listas dentro de Ministerio de Cultura y los otros, como Amir Valle Ojeda que se consideran escritores libres. A los escritores libres (independientes) es a quienes acosa la policía para “calmar sus ánimos”.

Siendo hijo de un Comandante de la Revolución , la familia lo definió como la oveja negra

En el año 2004 presentó su libro en España, pero entonces el gobierno tomó represalias y le negó la autorización para regresar a Cuba, Amir tuvo que quedarse indocumentado en Madrid y entonces PEN de España lo atendió y de esa forma llegó a vivir en Berlín.

PEN de Alemania lo ha apoyado y le ayudó a conseguir un empleo en la Deutsche Welle

Ya Gabriel García Márquez intercedió a su favor ante el gobierno de Cuba en el año 2006 y tuvieron una conversación privada juntos en Alemania en el año 2007.

Amir declara que haber nacido en Guantánamo fue una razón para comenzar a escribir y pone el ejemplo de su nombre – Amir- el cual fue encontrado en un diccionario cuando iba a nacer y no tiene nada qué ver con las tradiciones del sitio o de la familia. Era el nombre de un Príncipe y la mamá decidió nombrarlo como aquel Príncipe Amir. El abuelo de Amir es un comerciante fuerte en Guantánamo a tal grado que la carne fresca de pescado que se consume en la base de los marinos de Estados Unidos se la vende el abuelo de Amir, quien entre otros negocios es el propietario de la flotilla de pescadores.

El efecto “nostalgia por Cuba como aliado

Amir relata que desde la pandemia la situación del pueblo cubano ha empeorado y piensa que el gobierno cubano necesita comprar tiempo para realizar una estrategia que mejore sus relaciones con los países que tienen “nostalgia por Cuba”, y eso incluye a Europa y a los Estados Unidos.

La situación precaria de Cuba se esperaba que cambiaría al fallecer el líder Fidel Castro y no cambió, pero luego se esperó un cambio al fallecer su hermano Raúl Castro y tampoco sucedió.

El “mañana” post socialista en Cuba

Como resultado surgió la expectativa acerca de ese “mañana”, resultando en una idea de Cuba después del episodio socialista. Esta expectativa acerca de ese “mañana post socialista” motivó que las élites socialistas enviaran a estudiar a sus hijos al extranjero para conformar una nueva élite a su regreso.

El resultado es el surgimiento de monopolios económicos dirigidos por la nueva élite, agrupando a Microempresarios legalmente y operando la planta de turismo local. No funcionan los nuevos cambios introducidos por esta nueva élite.

“El aliento del lobo”, nuevo libro de Amir

En su nuevo libro, Amir lo tituló “El aliento del lobo”, hace una comparación entre los métodos del Ministerio de Seguridad del Estado de la -Stasi- DDR- y los métodos del Servicio Secreto de Cuba. Esta idea le surgió al comparar que el muro de Berlín y la situación de isla rodeada de agua en Cuba.

Recuerda la cooperación técnica acerca de los métodos del Ministerio de Seguridad del Estado de la DDR, con las Policías Secretas en algunos países en Latinoamérica, África y Asia , por medio de la cual se enseñaron los métodos de represión , con sus estructuras comparadas.

Conclusiones del panel de discusión

Resumen del Panel de Discusión.

Las expectativas de los escritores latinoamericanos rescatados por PEN de Alemania para una nueva vida en libertad se juntan en un común denominador de la esperanza de poder reunir a la familia, trayendo a quienes se han quedado en sus países. Los dos escritores cubanos desean ver el momento de una Cuba liberada, plural, justa y democrática. De momento en su vida en el exilio alemán, esperan tener un espacio de maniobra para gozar de la libertad dentro de la democracia. El mayor desafío lo consideran en lograr una reducción de la “nostalgia alemana sobre Cuba” , a través de la divulgación de sus libros redactados ye en el exilio.

 

Metaphysik des Dauernden im Flüchtigen

Der neuste  Lyrikband von Sybille Fritsch, „DA! Gedichte“, beschwört durch die Dichtkunst eine Metaphysik des Dauernden im Flüchtigen.

In diesem Band sind sowohl schematische, als auch manchmal intuitive Beschreibungen des persönlich erlebten Transzendentalen versammelt – sie gehen Hand in Hand mit Erörterungen von fernöstlichem Gedankengut und mystischer Tradition u.a. des Christentums: „Gib dich zufrieden und sei stille“ (S.11).

Hauptthema des Bandes, die Definition von „Wirklichkeit“ und deren Grenzen wird in Gedichten wie „Haiku I “ (S. 9),  „Vorläufigkeit“ (S. 28) ausgedrückt. Darum bedeutet Fritsch zu lesen immer auf einem Bewusstseinsstrom zu navigieren, auf dem alle Substanzen, Gefühle und Beziehungen unaufhörlich in Transformation sind: „Die nächsten 60“ (S.16) „Da“ (S. 34).

„Komm und wachse“ ist die eine Botschaft: „Ich werde nicht bescheiden sein“ die andere (S. 49).  und zum Moment zu sagen „verweile doch, du bist zu schön“ ist immer Falschheit und Selbstbetrug gewesen; Vervollständigung und Transzendenz wurden so verpasst. Dann wird die Zeit  zu einem Gefängnis, denn wo keine Veränderung stattfindet, wird Stasis zum Verfall: „Ewige Jugend“ (S. 62)  besagt in einem skeptischen Ton, was ebenso unmöglich wie unpassend ist: „Du willst …, dass ich Deinem Blick/anheimfalle/ … die Uhren/rückwärtsdrehn/Wunder wirken“. Stillstand erst bringt Sterblichkeit d.h. Gefangenschaft im Ich: „Zeitstillstand“ (S.74).

Sobald das „Glück ohne Ende“ sich erfüllt, wird es zu einer Erinnerung. Darum ist Glück ohne Ende eine Legende. „Die Legende vom Glück ohne Ende“ (S 65). Das von einer spießbürgerlichen Mittelschicht ersehnte „Glück ohne Ende“ (S. 69) steht als leer und hässlich entlarvt da.

Der Tod ist nicht das Gegenteil vom Leben, Nacht ebenso wenig das Gegenteil von Tag „Sehnsucht“ (S. 76), sondern Ausdruck der Ewigkeit: „Sehnsucht geerdet /in Sinn und Verstand … im Haar.“ Die letzten 7 Zeilen dieses Gedichts erinnern an die Aussage des Sufimystikers Imadeddin Nesimi: „Ins Absolute schwand ich hin. Mit Gott bin ich zu Gott geworden.“ Die Einheit der Welt  besteht in Gott, der nicht außerhalb oder über, sondern in der Welt realisierbar ist: „Zwischentöne“ (S. 82). Jedoch existiert neben der immanenten Gottesebene eine transzendentale (c.f. Spinoza), auf der alle Elemente vereint sind. Das kann man auch von „Ausflug in die Zeit“ (S.100) behaupten.

Gott ist für den Pilger ein Paradox: „Licht ohne gleichen, das dunkel ist,/ in dem wir sehn.“ Des Pilgers Auffassung der Wirklichkeit ist unvollkommen und „beschlagen“ (c.f. 1. Kor. 13:12): Doch am Ende seiner Zeit sieht er ohne Schleier, „Nur eins dies Jahr“ (S.101), „Von Angesicht/ zu Angesicht“. Die Zeit kann nur punktuell Heimat werden, sie bleibt ein Tal der Tränen.

Jenseits der Zeit kann und muss man sich dann von den Elementen treiben lassen – wenn alle Zeiten zu einer Zeit zusammenkommen – das ist die Dialektik von Sein und Nicht-Sein. „Ich“ enthält in einem ewigen Augenblick alle Emotionen und überhaupt alles, was gewesen ist und was kommen wird. Gegensätze und Gegenteile sind versöhnt. „Ich“ ist befreit und nicht in der Zeit, sondern umgekehrt. Diese Herrschaft über die zeit besiegt den Tod: „Liedchen für den ewigen Augenblick – ein kaltes Gedicht“ (S. 88-89). In die Zeit hineingeboren zu sein, heißt auf eine Pilgerfahrt losgeschickt zu werden  – „Nur eins dies Jahr“  (S. 101): „Die Zeit ein Wanderstab/ zu Gott…“ – auf der das Ego vor dem Körper stirbt – „Vorhangbrokat“ (S. 36)  – . Tod und Sterben als Ende des hiesigen Fortlebens bedeuten die Transformation in einen anderen Zustand, die Erlangung von Frieden.

Der Band endet mit dem Gedicht „Gebet“ (S. 105). Eine Bitte an Gott und eine Zusammen- fassung der Merkmale des Pilgerlebens und dessen Hoffnung: „Mut und Neugier“, „Schönheit“, „Klugheit, Liebe dieser Welt/ zu Füßen legen und auferstehn…/ und dir Verstand und Herz und Sinn verdanken/ und meine Schranken testen …/ Ich komme zur Ruh und komm doch nicht zur Ruh,/bis ich ganz göttlich bin./Ich glaube und ich glaube nicht -“. Darum, liebe Leser(innen), mit Sybille Fritsch beten und „AUFSTAND WAGEN…“ !

Sybille Fritsch, „DA! Gedichte“, Geest-Verlag 2024, 116 S., 12 Euro,
ISBN 978-3-86685-974-6

Feinster literarischer Input: die neuen Perlen der Literatur

Ralf Plenz im Gespräch mit Henning Venske

Wer Literaturveranstaltungen schätzt, in denen nicht nur aus Texten vorgelesen wird, sondern es noch Wissenswertes über deren Autoren und ihre Bedeutung im Kontext der Zeitgeschichte zu hören gibt, ist bei einer Präsentation der Neuerscheinungen des Input-Verlags richtig. Die Hamburger Autorenvereinigung als Veranstalterin hatte zur Vorstellung der fünf neuen Titel eingeladen. Als die Buchreihe mit den ersten Bänden 2021 erschien, war der Gedanke nicht ganz abwegig, dass der Büchermacher Ralf Plenz entweder sehr gut in seinem Metier oder verrückt sein müsste – wer kommt sonst auf die Idee, in Zeiten schwindender Buchabsätze alte Titel neu herauszubringen?

Ergeben die Buchrücken der ersten 19 nebeneinander ins Regal gestellten Bände den Schriftzug „Perlen der Literatur“, ist die „Perlenkette“ fürs Bücherregal nun auf dem Weg, zweireihig zu werden. Zwischenzeitlich existieren 29 Bände, der dreißigste kommt im August. Die Buchvorstellung der fünf Neuerscheinungen von Karl Kraus bis Colette war am 14. Mai das Thema im Theatersaal des Oetinger-Verlags in Hamburg-Altona. Die Vorsitzende der HAV, Literaturwissenschaftlerin und Autorin Sabine Witt, begrüßte die Akteurinnen und Akteure sowie das Publikum, bevor Ralf Plenz die Moderation durch den Abend übernahm.

Der Eros der Logik – Aufsätze über den Gebrauch von Sprache

Elmar Dod referiert über Karl Kraus. Sitzend: Ralf Plenz, Cordula Scheel, Henning Venske (v.l.)

Nach dessen kurzer Vorrede ging es direkt mit Band 27 los: Der Nietzsche-Experte Elmar Dod hatte zu diesem Titel „Karl Kraus – Die Sprache“ das Vorwort verfasst, aus dem er Ausschnitte zu Gehör brachte. Dessen Hauptthema, der Wert des Wortes, beweise große Aktualität und zeige Liebe zur Sprache, so Elmar Dod. 1899 hatte Karl Kraus die Zeitschrift „Die Fackel“ gegründet, die über ihren gesamten Erscheinungszeitraum 30.000 Seiten umfasst. Kraus selbst fasste die in Band 27 versammelten Texte als Sammelband namens „Die Sprache“ zusammen, der 1937 posthum erschien. Die Bedeutung der Sprache, ihr ästhetischer Wert und ihr Geist sind die Themen der Aufsätze. Elmar Dods Zitate aus Vorwort und Kraus‘ Texten beglaubigen schon in ihrer Kürze deren Aktualität und machen Lust auf das Buch.

Kneipen, Kaffeehäuser und Kabaretts

Henning Venske. Foto: Ralf Plenz

Der Impuls zur Neuauflage des oben genannten Werks kam für Ralf Plenz aus der Arbeit an Band 28 „Erich Mühsam – Unpolitische Erinnerungen“, denn Mühsam verweist auf Karl Kraus. Sie waren sich in Wien begegnet. Die Vorstellung dieses Bands oblag dem Radiosprecher und Kabarettisten Henning Venske, der auch das Vor- und Nachwort zu Mühsams unpolitischen Erinnerungen verfasst hat. Bei ihm war das Werk in den besten Händen. „Den ernsthaften Anarchisten war Erich Mühsam zu sehr unpolitische Boheme, dem seriösen Literaturbetrieb trank er zu viel und vergnügte sich zu sehr, den Politikbeflissenen war er viel zu antiautoritär“, so Henning Venske in seinem Vorwort. Sein Vortrag der Satire „Das Lebensprogramm“ von Mühsam war herrlich und wurde weidlich genossen. Die erst 1949 bei Volk und Buch unter dem Titel „Namen und Menschen“ erschienene Sammlung aus den Jahren 1927 bis 1929 lässt das kulturelle Leben am Ende der wilhelminischen Epoche wieder aufleben. Dass Mühsam auch ein wunderbarer Zeichner war, ist nicht allen bekannt. Heute würde man wohl diese Zeichnungen als Comics bezeichnen, meinte Henning Venske.

Eine rosa Perle in der Kette

Florian Weber. Foto: Ralf Plenz

Zu viert übersetzte ein Team den Band 29 von Emilia Pardo Bazán mit dem sehr passenden Titel „Die rosafarbene Perle und andere Geschichten aus dem Panoptikum der Liebe“. Einer der Übersetzer, Florian Weber aus Kiel, war eigens für die Buchvorstellung nach Hamburg gekommen und brachte dem Publikum die hierzulande nahezu unbekannte galicische Autorin näher. Diese war nämlich in ihrer Epoche des 19. Jahrhunderts zur Skandalautorin geworden, weil sie authentisch über die Verhältnisse ihrer Zeit schrieb und dabei Themen wie das Leiden der Frauen unter der männlichen Fremdbestimmung nicht scheute. Ihr sachlich-nüchterner Stil verzichtete auf Wertungen, kam jedoch in einem ironischen Ton daher. Das Übersetzerteam hatte es nicht leicht damit, diesen Ton auch in der deutschen Version zu treffen. Florian Weber bot einen sehr spannenden Einblick in die Arbeit der Übersetzung, die letztlich eine literarische Nach- oder Neubearbeitung mit sich bringen musste. Erotische Obsession, Prostitution, Ehebruch, Eifersucht und Liebestod – nicht weniger als diese thematische Bandbreite umfasst das Buch als Sammelband, der ursprünglich 1898 in Spanien veröffentlicht worden war. Insgesamt hat Emilia Pardo Barzán über 600 Kurzerzählungen geschrieben, die in Zeitschriften publiziert wurden. Ob es noch unentdeckte gibt, ist nicht bekannt.

Zorn verhindert Verständnis für das Kind

Maria Montessoris „Das Geheimnis der Kindheit (Teil 1)“ ist bereits Thema des Bands 25 und findet die Fortsetzung im gleichnamigen Band 26 (Teil 2 und 3 zusammengefasst), einfühlsam präsentiert von der Schriftstellerin Cordula Scheel, die sich im Wege ihrer neuen Übersetzung aus dem Italienischen und des Verfassens ihres Vor- und Nachworts sehr intensiv mit Montessori befasst hat. Kinder gewähren zu lassen, sie nicht zu unterbrechen und ihnen unsere unbedingte Liebe unter Verzicht auf eigene Vorlieben zu geben, war Maria Montessoris dringendes Anliegen; dass sie diese Behandlung ihrem eigenen Kind nicht angedeihen ließ, sondern es weggab, um Karriere zu machen, verwundert indes. Cordula Scheel ist im Podiumsgespräch mit Ralf Plenz anzumerken, wie sehr ihr das Thema der Kindheit am Herzen liegt. „Hilf mir, dass ich es selber kann“, formuliert sie die Essenz der Lehre Montessoris.

Ältere Frau liebt jüngeren Mann

Der Band 30, nämlich „Chéri“ von Colette, wird von deren Fans sehnsüchtig erwartet, doch diese müssen sich noch bis August gedulden: Erst dann wird das Werk gemeinfrei und kann neu veröffentlicht werden. Ulrike Lemke, in mehreren Sprachen versierte Übersetzerin und Lektorin, übernahm die Neuübersetzung des Romans; Vor- und Nachwort stammen von der Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Charlotte Ueckert. Ulrike Lemke erzählte kurzweilig von Colette und der Romanhandlung: Die alternde Halbweltdame Léa verliebte sich in den Sohn einer Freundin und begann eine Affäre mit ihm. Colette schrieb das Werk bezeichnenderweise, als sie eine Affäre mit ihrem Stiefsohn hatte. Zu Colettes Zeit um 1920 war es ein größeres Tabu als heute, wenn der Mann 19 Jahre alt war und die Frau 24 Jahre älter. Colettes erste zwei Männer seien Schwerenöter gewesen, erzählte Ulrike Lemke. Colettes literarisches Leben begann kurz nach ihrer Heirat mit dem ersten Mann „Willy“, sie war 20 Jahre alt und wurde Ghostwriterin in seiner Schreibfabrik. Wie alle Vorträge, weckte auch Ulrike Lemkes Buchvorstellung mit Lesung aus dem Roman große Lust auf das Buch.

Die Perlen auf Expansionskurs

Darum schafft man es auch nicht, ohne Buch den Heimweg anzutreten. Die Freude über die schön gestalteten, in Leinen gebundenen Bücher mit individuellem Vorsatzpapier und ebenjener Banderole, die den eingangs genannten Schriftzug auf den Buchrücken bildet, ist groß.

Ich sinniere wieder darüber nach, wie man in diesen Zeiten eine 30-bändige Buchreihe europäischer Literatur auf den Markt bringen kann, und frage noch mal den Büchermacher. Er und seine mehr als fünf Übersetzerinnen und Übersetzer, 14 Vorwortschreiber und -schreiberinnen, drei Lektorinnen und diverse externe Berater haben die Perlen der Literatur in die Welt geschickt: Man kennt sie in Schweden, Norwegen, Italien, Frankreich, Amerika, Österreich und der Schweiz. Sogar nach Australien haben sie es schon geschafft. Man liest sie sowohl allein als auch gemeinsam; zum Beispiel in Lesekreisen. Dort erscheint Ralf Plenz auf Wunsch sogar persönlich und stellt drei ausgewählte Titel vor. Die Buchreihe wurde in diversen Print- und Onlinemedien vorgestellt und rezensiert. Totgesagte leben länger – so verhält es sich mit der Literatur und so kenne ich es aus der Lyrik auch.

Man kann die Buchreihe abonnieren und sogar Vorzugsausgaben mit Original-Kalligraphien und Aquarellen bekommen. Ein einen halben Meter Regalfläche habe er gerade freigeräumt, berichtete der Büchermacher auf die Frage aus dem Publikum, wie viele Titel es noch werden sollen. Man darf also auf die Fortsetzung der hochwertigen Reihe gespannt sein.

Zum Artikel über die ersten Bände geht es hier: Eine Perlenkette fürs Bücherregal

Zum Input-Verlag geht es hier: https://input-verlag.de/

Die erste arabische Autorin einer Autobiographie

Porträt von Emily Ruete (Sayyida Salme) in traditioneller Kleidung als Prinzessin von Sansibar. (Foto: gemeinfrei)

Vor 100 Jahren starb Emily Ruete, die Witwe eines Hamburger Kaufmanns und Autorin des Werkes „Memoiren einer arabischen Prinzessin“

Die erste Autobiographie einer Araberin in der Literaturgeschichte, „Memoiren einer arabischen Prinzessin“, erschien in Deutschland. Ihre Autorin beschrieb sich wie folgt: „Ich verließ meine Heimat als vollkommene Araberin und als gute Mohammedanerin, und was bin ich heute? Eine schlechte Christin und etwas mehr als eine halbe Deutsche.“ Das klingt nach einer bewegten Biographie, und das ist sie auch.

Bei der besagten Adeligen handelt es sich um die Prinzessin von Oman und Sansibar Salama (Salme) bint Said. Die Prinzessin kam als Tochter des regierenden Sultans von Oman und Sansibar, Said ibn Sultan, und einer verschleppten tscherkessischen Sklavin in einem Palast ihres Vaters in dessen Reich zur Welt. Dem Herrscher ein Kind zu schenken, erhöhte Prestige und Status einer Sklavin ungemein, machte sie zur Nebenfrau, und Salme war das einzige Kind ihrer Mutter. Das ist eine mögliche Erklärung für das gute Verhältnisse zwischen den beiden Frauen. Mit ihrer Mutter wuchs Salme in Wohlstand im besagten Palast auf.

Die Prinzessin wusste, was sie wollte und was nicht. Beispielsweise wollte sie schreiben können, und so brachte sie es sich selbst bei. Sie wollte keinen Mann, den ihr die Familie ausgesucht hatte, und so war sie mit 22 Jahren noch ledig. 1856 starb ihr Vater und drei Jahre später auch ihre Mutter. Das Erbe beider ermöglichte ihr ein Leben in Wohlstand und Unabhängigkeit.

Die Liebe kostete sie die Heimat

Ihren Ehemann wählte sie sich selbst aus. Der Glückliche war ihr Nachbar, der Kaufmann Heinrich Ruete aus Hamburg. Eine Eheschließung in ihrer Heimat war ausgeschlossen. Als sie von ihm ein Kind erwartete, entschloss sie sich in Absprache mit Ruete, der später nachreiste, zur Flucht übers Meer. Sie war mit der Ehefrau des britischen Konsuls befreundet, und so nahm sie 1866 vor der Küste ein britisches Kriegsschiff auf seinem Weg nach Aden auf. In Aden heiratete sie Ruete, und die Fahrt ging weiter nach Hamburg. Die Prinzessin nahm neben der Staatsangehörigkeit auch den Glauben ihres geliebten Ehemannes an. Als Taufnamen wählte sie den Namen der befreundeten Ehefrau des Konsuls, der sie ihre gelungene Flucht maßgeblich zu verdanken hatte. Abgesehen vom ersten Kind, Heinrich, mit dem Salme in Afrika schwanger war und das kurz nach seiner Geburt in Aden dort auch verstarb, bekam das Paar 1868, 1869 und 1870 im Jahresabstand noch drei Kinder: Antonie Thawka, Rudolph und Rosalie Guza.

Das Glück währte indes nur kurz. Noch im Geburtsjahr ihres letzten Kindes kam Rudolph Heinrich Ruete buchstäblich unter die Räder. Auf dem Rückweg zu seiner Frau sprang er unglücklich von einer Pferde-Straßenbahn ab und wurde von dieser überfahren.

Emily Ruete, die in ihrer afrikanischen Heimat diverse Plantagen aus dem Erbe ihrer Eltern bewirtschaftet hatte, musste die Erfahrung machen, dass ihr für die Verwaltung des Erbes ihres Mannes ein Verwalter vor die Nase gesetzt wurde. So ist es denn auch nicht ihre Schuld, dass das ererbte Vermögen dahinschmolz. Es begann ein gesellschaftlicher, aber vor allem finanzieller Abstieg. Aufgefangen fühlte sie sich weder durch die Hamburger Gesellschaft noch durch die Familie ihres Mannes. Als sie merkte, dass man anderswo günstiger wohnen kann als in Hamburg, zog sie um. Doch in keiner deutschen Stadt konnte sie Wurzeln schlagen, weder in Dresden oder Berlin noch in Rudolstadt oder Köln. In Deutschland blieb sie überhaupt nur wegen der Kinder. Sie ist halt nur „etwas mehr als eine halbe Deutsche“ geworden.

Auf ihre Besitzungen in der afrikanischen Heimat zurück konnte sie auch nicht. Ihre diesbezüglichen Schreiben an den Sultan blieben unbeantwortet. Immerhin hatte sie unerlaubt das Land verlassen, sich unverheiratet schwängern lassen und schließlich auch noch dem Islam abgeschworen. 1875 erfuhr sie indes, dass Sansibars Sultan Barghasch ibn Said nach London kam, und sie fuhr mit geborgtem Geld extra dorthin, um ihn zu sehen. Doch nicht nur, dass ihr Halbbruder sie nicht sehen wollte. Die Briten hintertrieben das Vorhaben. Sie fürchteten, dass nach einer möglichen Versöhnung das Deutsche Reich versuchen könnte, Emilys Sohn Rudolph als Nachfolger seines Halbonkels durchzusetzen. London bot deshalb Ruete Unterhalt für ihre Familie an, wenn sie ihr Vorhaben abbrach. Ruete brach daraufhin ihr Vorhaben ab – aber die versprochene Gegenleistung blieb England schuldig.

Spielball der Kolonialmächte

Ein Jahrzehnt später schien sich Ruete abermals eine Chance zu bieten. Zwischen dem Deutschen Reich und Sansibars Sultan kam es zu Gebietsstreitigkeiten. In klassischer Kanonenbootpolitik-Manier tauchte ein deutscher Flottenverband vor Sansibar auf, unweit davon ein deutsches Zivilschiff mit Ruete an Bord. Sollte sich der Sultan als nicht kooperativ erweisen, wollte die Reichsregierung den Araber mit den Ansprüchen der deutschen Staatsangehörigen Ruete unter Druck setzen. Doch Barghasch zeigte sich kooperativ, und so verzichtete das Reich darauf, die Ansprüche seiner Staatsangehörigen zu unterstützen. Wenigstens durfte Ruete an Land gehen und ihren mitreisenden Kindern die Stätten ihrer Kindheit und Jugend zeigen. Danach ging es zurück nach Deutschland.

Ein Jahr später landete Ruete mit ihren Memoiren einen Erfolg, der ihre finanzielle Situation verbesserte. 1888 unternahm sie auf eigene Faust eine weitere Reise nach Sansibar. Wieder verweigerte ihr der Sultan eine Begegnung. Aber diesmal kehrte sie nicht nach Deutschland zurück. Denn ihre Kinder waren aus dem Gröbsten raus. Sie sah sich nun nicht mehr gezwungen, bei der Wahl ihres Wohnortes auf diese Rücksicht zu nehmen. Nacheinander wohnte sie in Jaffa, Jerusalem und Beirut, wo auch ihre beiden Töchter hinzogen und ihr Sohn am deutschen Konsulat arbeitete. Im Jahr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs verließ Ruete Beirut.

Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie wieder in Deutschland. In Jena fand sie Unterschlupf bei den Schwiegereltern einer ihrer Töchter. Dort ist sie auch vor 100 Jahren, am 29. Februar 1924, gestorben. Ihre letzte Ruhestäte fand Emily Ruete an der Seite ihres geliebten Mannes in Hamburg-Ohlsdorf.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Preußischen Allgemeinen Zeitung.

Berührt von schönen Büchern

Am 25. Februar 2024 veranstaltete der Büchermacher Ralf Plenz in Kooperation mit der Hamburger Autorenvereinigung ein Treffen der Pirckheimer Gesellschaft in Hamburg-Altona. In der Alfred-Schnittke-Akademie konnten Interessierte sich über die Institutionen informieren, bibliophile Buchausgaben bewundern und erstehen. Dabei ging es auch um die Frage, was der Begriff „bibliophil“ denn eigentlich umfasst.

Den ersten Programmpunkt der Tagung bildete jedoch ein Vortrag von Ralf Plenz über die Umwälzung der Druckbranche, verknüpft mit seinem Werdegang in dieser Branche. In den 1960er und 70er Jahren fand der Wechsel vom Bleisatz zum Offsetdruck statt. Als Gründungsmitglied der Druckwerkstatt Ottensen bot Plenz gemeinsam mit seinen Mitstreitern eine Spezialität an: Zum Gestalten der Druckvorlagen für die Kunden verwendeten sie altes Werkzeug wie zum Beispiel Federn und stellten die Vorlagen handschriftlich her. So hatten sie viele Autoren und Künstler unter ihrer Kundschaft, u.a. den Lyriker Peter Rühmkorf und den Künstler Albert „Ali“ Schindehütte, der durch die Rixdorfer Drucke berühmt wurde. Die Druckwerkstatt, die heute noch existiert, war ein Erfolgskonzept aus hochwertigen Druckerzeugnissen in Zusammenarbeit mit Kleinstverlagen, dem Verkauf einer kleinen Auswahl an besonderen Büchern sowie Umweltschutzpapiererzeugnissen und einem Copyshop.

Palma Kunkel als Raubdruck

Ralf Plenz (Foto: DAP)

Plenz berichtete über Details des Druckwesens, zu denen Laien kaum Zugang haben. So erfuhr manch erstaunter Gast, dass digital gedruckte Bücher für Bibliothekare nicht archivfest seien, weil diese keine 100 Jahre hielten. Denn Digitaldruck ist technisch fast immer eine Fotokopie – sie blättert ab, wenn sie beispielsweise geknickt wird. Zudem sind die Buchrücken nicht gerade für die Ewigkeit gemacht und brechen meist, wenn man das Buch weit aufzuklappen versucht. Aus diesem Grund ist die Reihe „Perlen der Literatur“ von Ralf Plenz (Input-Verlag) im Offsetverfahren gedruckt und hochwertig ausgestattet.

Für den Nachdruck der historischen Titel fahndet Plenz in Antiquariaten nach sehr alten Ausgaben und stößt manches Mal auf Kuriositäten. Eine ganz besondere ist ein Gedichtband von Christian Morgenstern, datiert auf den Zeitraum 1915-1920, mit gerissenem statt geschnittenem Papier. Die Nachforschungen des Büchermachers ergaben, dass es sich um einen Raubdruck handeln muss, denn in keinem autorisierten Buch gibt es diese Zusammenstellung aus drei Bänden Morgensterns, zudem noch in einer Ausgabe.

Paradiesische Bücher made in Hamburg

Rudolf Angeli vom Angeli & Engel-Verlag bestritt den zweiten Vortrag im Programm. Der Verlag „widmet sich Publikationen zur Kunst mit bibliophilem Anspruch“ (Verlagswebsite). Angelis Leidenschaft für das Schachspiel und für Stefan Zweigs „Schachnovelle“ motivierte ihn schließlich, ins Verlagswesen einzusteigen. Eigentlich aus dem Management kommend, gründete er gemeinsam mit dem Autor Peter Engel den „Verlag für paradiesische Bücher“ (Verlagswebsite) in Hamburg und eignete sich autodidaktisch das entsprechende Wissen an. Neben den o.g. Publikationen betreibt er ein Antiquariat. Er ist von Worten fasziniert und bezeichnet seine verlegerische Berufung als „Serendipity“, also eine „zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist“. (Wikipedia)

Rudolf Angeli (Foto: DAP)

Ein Blick auf den liebevoll präsentierten Büchertisch beglaubigt seine Leidenschaft und man möchte die hochwertigen, großformatigen Bücher gern berühren und aufschlagen. Aktuell erschien die 4. Edition, das Balladenbuch „Liebe, Leid & Untergang“ von Klaus Waschk, das als Buchhandelsausgabe und als Vorzugsausgabe mit einer Original-Grafik des Künstlers erhältlich ist.

Bei so vielen spannenden Vortragsthemen konnte man fast das Anschauen ebenjener Büchertische vergessen. Dabei gab es unter den ausgelegten Leseschätzen viel Schönes zu bewundern, so zum Beispiel der Nachdruck der sehr kurzen Erzählung „Die Insel“ von Stefan Zweig, hochwertig gebunden als schmales Heft mit einer nachgedruckten Grafik von Markus Behmer sowie ergänzt durch das Faksimile des handschriftlichen Manuskripts als Beigabe.

Als weitere Besonderheit hat der Verlag Angeli & Engel 2020 den „Hamburger Bothen“ herausgebracht, einen Rundbrief, der sechsmal im Jahr erscheint, um über einschlägige Veranstaltungen zu informieren und die Kontakte innerhalb der Regionalgruppe Nord der Pirckheimer Gesellschaft zu unterstützen.

Antiquarisches und Bibliophiles

In der Alfred-Schnittke-Akademie ging es nach der Mittagspause mit einem Podiumsgespräch weiter. Zunächst sprachen Ralf Plenz und die Verfasserin dieses Artikels über die in Hamburg-Ottensen spielende Trilogie „Großstadt-Oasen“, zu denen auch zwei Podcastfolgen kostenlos zu hören sind. Im weiteren Gespräch zu dritt mit Rudolf Angeli ging es zunächst um die Situation der Antiquariate in Deutschland und die Vor- und Nachteile der Online-Portale, mithilfe derer sich Bücherfreunde zwar einfach sowohl seltene Ausgaben beschaffen als auch durch Verkauf gebrauchter Exemplare ihr Bücherregal aufräumen können, die jedoch für die stationären Antiquare eine Existenzbedrohung darstellen. Denn wegen sofortigen Vergleichbarkeit aller Anbieter des gleichen Produkts fallen die Preise. Ehemals kostspielige Raritäten sind heutzutage für wenige Euro erhältlich. Zudem wird die Anzahl der Leser insgesamt drastisch weniger und teilt sich überdies auf in solche, die noch Papierbücher lesen und andere, die digitale Medien wie E-Books bevorzugen. Das sind immerhin konstant sechs Prozent.

Aus diesem Thema folgte die Frage, was denn eigentlich bibliophil sei? Wikipedia offenbart dazu: Als Bibliophilie bezeichnet man allgemein das Sammeln von schönen, seltenen oder historisch wertvollen Büchern, meist durch Privatpersonen zum Aufbau einer Privatbibliothek nach bestimmten Sammelkriterien. Die drei Diskutanten einigten sich zusätzlich auf die Ausstattung (Haptik, Papierqualität, Bindung, Veredelung, Beigaben wie z. B. Künstlergrafiken und natürlich die besondere Typografie etc.), den Geruch und die persönliche Bedeutung von Büchern für die Leser. Rudolf Angeli empfindet Bücher wie Freunde, was eine berührende Umschreibung und sehr nachvollziehbar für Menschen ist, die sich einmal mit dem Lesen infiziert haben.

Pirckheimer „unterwegs im Büchermeer“ im April

Die Pirckheimer Gesellschaft, die nach eigenem Bekunden „Sammler und andere Verrückte“ beheimatet, betreibt auf ihrer Website auch einen umfangreichen und vielfältigen Blog. Außerdem wird sie am 5. bis 7. April 2024 im Museum der Arbeit (Hamburg-Barmbek) bei der Buchdruckkunstmesse „Unterwegs im Büchermeer“ vertreten sein. Vielleicht kann man dort auch die weiteren Aussteller, die krankheitsbedingt nicht in Altona sein konnten, antreffen und ihre Schätze bewundern.

Nachruf auf Guy Stern, Ehrenpräsident des PEN Zentrums deutschspr. Autoren im Ausland

Guy Stern, Foto: Susanna Piontek

Guy Stern, Ehrenpräsident des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland (früherer Deutscher Exil PEN) verstarb am 7. Dezember 2023, fünf Wochen vor seinem 102. Geburtstag. Unser PEN Zentrum verliert mit ihm einen großartigen und bedeutenden Menschen und ich persönlich einen Kollegen und Freund.

Guy wurde in Hildesheim geboren und emigrierte 15-jährig als einziger aus seiner Familie in die USA. Seinen Eltern war es finanziell nicht möglich, mehr als eine Person ausreisen zu lassen, und sie entschieden sich für den ältesten Sohn Günther, wie er damals noch hieß. In den USA versuchte er seine Familie nachkommen zu lassen, was aber nur möglich war, wenn ein Bürge gefunden werden konnte, der sich verpflichtete, für den Unterhalt aufzukommen. Das war schwierig und alle Versuche eine entsprechende Person zu finden, scheiterten. Somit hat Guy weder seine Eltern noch seine Geschwister und Großeltern je wiedergesehen. Sie wurden von den Nationalsozialisten ermordet.

Als ich ihn einmal fragte, was er vom Abschied von seiner Familie in Erinnerung behalten habe, hat mich seine Antwort stark berührt. Sie bestand aus einem Wort: Taschentücher! Auch werde ich nicht vergessen, was er mir über sein Empfinden sagte, als einziger der Familie überlebt zu haben, u. z.: „Wenn du gerettet wurdest, sagte ich mir, musst du zeigen, dass du dessen würdig bist. Und das war die treibende Kraft in meinem Berufsleben“, und mit dieser Kraft beeindruckte er in seinem Leben in vielen verschiedenen Funktionen.

So wurde er Mitglied der geheimen Einheit der „Ritchie Boys“, des Militärgeheimdienstes der USA im Zweiten Weltkrieg. Für seinen Einsatz wurde er mit dem amerikanischen „Bronze Star“ ausgezeichnet.

Einmal fragte er mich spitzbübisch lächelnd, wie es seine Art war: „Weißt du eigentlich, dass ich ein Filmstar bin?“ Ich wusste es damals nicht, war sehr erstaunt und erfuhr, dass es einen Film aus dem Jahr 2004 mit dem Titel The Ritchie Boys gibt, in dem er mitgewirkt hatte. Auf dem Cover der DVD, die er mir schenkte, ist er als einer von drei „Ritchie Boys“ abgebildet. Der Name geht zurück auf das Camp Ritchie in Maryland, wo die Ritchie Boys ausgebildet wurden. Ihre Aufgabe war es, ihre Kenntnisse der deutschen Sprache und Kultur im Kampf gegen die Nazis zu nutzen, und sie wurden nach der Invasion als Geheimwaffe vor allem für Verhöre von Gefangenen an der Front und zur Spionageabwehr in Europa eingesetzt (s. auch https://die-auswaertige-presse.de/weisst-du-eigentlich-dass-ich-ein-filmstar-bin/).

Vor noch nicht langer Zeit, am 9. Mai 2021, erinnerte das amerikanische Fernsehen in der bekannten CBS-Sendung „60 Minutes“ an diese Einheit. Guy Stern kam in diesem Beitrag auch zu Wort, in dem die „Ritchie Boys“ damit gerühmt wurden, dass sie Leben gerettet hätten und man sie als Helden bezeichnen müsse.

Nach dem Krieg beendet Guy sein Romanistik- und Germanistikstudium und unterrichtete an verschiedenen amerikanischen und als Gastprofessor auch an deutschen Universitäten.

Einen besonderen Platz in seinem Leben war mit der Position des Direktors eines Instituts des Holocaust-Museums in Detroit verbunden, für das er bis in sein hohes Alter tätig war. Als Autor und Herausgeber veröffentlichte er zahlreiche Bücher und Sammelwerke zur deutschen Literaturgeschichte, insbesondere zur Emigrantenliteratur.

Er wurde vielfach ausgezeichnet und erhielt u. a. das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, die Ehrenbürgerschaft seiner Geburtsstadt Hildesheim und 2017 den erstmals verliehenen OVID Preis des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

Guy Stern (r.) und Gino Leineweber bei der OVID Preisverleihung am 7. Mai 2018 in der Frankfurter Nationalbibliothek. Foto: privat

Dieses Zentrum wurde 1934 von den aus Deutschland vor den Nazis geflüchteten Schriftstellern und Schriftstellerinnen als Deutscher Exil-PEN gegründet. Heinrich Mann war der erste Präsident. Bis vor einem Jahr hieß einer seiner Nachfolger als Präsident Guy Stern. Erst 100-jährig gab er das Amt auf und wurde von den Mitgliedern zum Ehrenpräsidenten gewählt. Mit ihm wurde die Tradition und das Selbstverständnis unseres Zentrums in besonderer Weise personifiziert und wir wurden von der Kraft bereichert, die ihn als Überlebenden des Nazi-Terrors angetrieben hatte.

Das PEN Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland und ich werden ihn als einen engagierten Literaten und humorvollen Freund in Erinnerung behalten. Unser Mitgefühl gilt seiner Frau Susanna Piontek.

 

 

 

 

 

Endlich wieder Leipziger Buchmesse!

Wie schön! Nach drei Jahren coronabedingter Pause fand endlich wieder die Leipziger Buchmesse im Verbund mit der Manga-Comic-Con und dem Lesefest Leipzig statt. Mit rund 2.000 Ausstellern aus 40 Ländern, mehr als 3.000 Veranstaltungen und rund 3.200 Mitwirkenden an etwa 300 Veranstaltungsorten bot die Messe wie vor Corona eine große Bühne für Autorinnen und Autoren, für Verlage und natürlich für die Leserinnen und Leser. Oder sollte man genauer sagen Hörerinnen und Hörer?  In zahlreichen Lesungen, Talkrunden, Interviews und Mitmachaktionen wurden alle Aspekte rund um Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt vorgestellt. Aber es wurden auch – so ist es gute Tradition hier – viele Fragen zu den generellen Themen Zukunft des Buches, veränderte Lesegewohnheiten des Publikums und Situation der Autorinnen und Autoren diskutiert. Eher am Rande ging es auch um politische Themen.

Ich besuchte die Leipziger Messe vor Corona etwa alle zwei Jahre. Einerseits, um jeweils meine eigenen neuen Bücher auf Lesungen vorzustellen, anderseits, um mich über den Stand der Dinge zu informieren, Anregungen zu bekommen und bekannte Autorinnen und Autoren zu erleben beziehungsweise weniger bekannte zu entdecken. Immer spannend und inspirierend!

Was würde sich verändert haben nach dieser Zwangspause?

Stand Österreichs

Mein erster Eindruck: Vor allem überall Freude, dass die Buchmesse wieder stattfindet. Allerdings hat Corona Spuren hinterlassen: Man rechnete mit ca. 40 % weniger Besuchern (es sollten dann doch fast 250.000 werden!), und auch die Hallen waren längst nicht völlig ausgebucht. Aller (Neu-) Anfang ist eben schwer. In vielen Gesprächen wurde geklagt, dass die stark gestiegenen Papier- und Produktionskosten für die Buchherstellung das Verlagswesen erheblich belastet haben und noch belasten. Aber es war auch viel Optimismus nach dem Motto „Trotz allem!“ zu spüren. Vielfach wurden die staatlichen Hilfen unter dem Titel „Neustart Kultur“ lobend erwähnt. Ja, und das spezifische „Leipziger-Buchmessen-Feeling“ stellte sich nicht nur bei mir ganz schnell wieder ein. Überall Lesungen, Gespräche und Buchvorstellungen, jede Menge junger Leute in ihren Verkleidungen und geschäftiges Treiben an den Verlagsständen und auf den diversen Foren. Allerdings fiel auf, dass selbst größere Verlage auf oft etwas kleineren Ständen als früher vertreten waren.

Wer diese Messe besucht, sollte sich Schwerpunkte setzen, denn sonst verliert man leicht den Überblick und läuft irgendwann orientierungslos durch die Gegend, was zugegebenermaßen auch seine Vorteile haben kann. Manchmal stößt man dadurch auf unentdeckte literarische Schätze, hört interessante, noch unentdeckte Autorinnen und Autoren oder gerät in spannende Diskussionsrunden.

Preisverleihung

Für mich als Autor von Belletristik sind die neuen Romane des Jahres ein naheliegender Schwerpunkt, auf den ich mich konzentriert habe. Dementsprechend habe ich den Bereich Sachbuch nur gestreift, und über Krimis, Horror, Fantasie und Jugendliteratur können andere viel kompetenter schreiben.

Preise der Leipziger Buchmesse

Der Höhepunkt des ersten Messetages war die Verleihung der Preise der Leipziger Buchmesse in den Kategorien Sachbuch, Übersetzung und Belletristik. Es war wie in besten Zeiten gerammelt voll in der zentralen Glashalle. Die fünf nominierten jeder Kategorie waren jeweils anwesend, und erst mit der Bekanntgabe der Gewinnerinnen und Gewinner löste sich die Spannung. In der Kategorie Belletristik kürte die siebenköpfige Jury den türkischstämmigen Dinçer Güçyeter für sein Familienportrait „Unser Deutschlandmärchen“. Für mich eine Überraschung, waren doch u.a. auch die viel bekannteren Clemens J. Setz und Ulrike Draesner nominiert. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass in der Kategorie Sachbuch/Essayistik Regina Scheer sowie Johanna Schwering in der Kategorie Übersetzung ausgezeichnet wurden.

Wie vergänglich nicht nur sportlicher, sondern auch literarischer Ruhm ist, zeigte sich mir bei einem Gespräch im ARD-Forum mit dem großartigen Lyriker Jan Wagner. Der war 2015 umjubelter Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse im Bereich Belletristik gewesen, und nun berichtete er vor lichten Reihen über Idee und Produktion des Podcasts „Book of Songs“. Anschließend war ich der Einzige, der sich seinen wunderbaren Lyrik-Band „Regentonnenvariationen“ signieren ließ.

Gastland war in diesem Jahr Österreich. Dementsprechend setzte ich meinen Schwerpunkt und hörte mir Lesungen und Gespräche mit u.a. mit Michael Köhlmeier, Tonio Schachinger, Raphaela Edelbauer und Teresa Präauer an. Ständig muss man sich zwischen unendlich vielen Angeboten entscheiden, und immer beschleicht einen das Gefühl, irgendwo anders etwas zu verpassen. Man sollte gelassen bleiben, auch mal hier und dort ungeplant hineinhören, um so ganz eigene Entdeckungen zu machen. So besuchte ich auf Empfehlung von Lou A. Probsthayn, dem Betreiber des in Hamburg ansässigen Literatur Quickie Verlages, eine abendliche Lesung in einer Eisdiele am Stadtrand von Leipzig. Denn das ist eine der Besonderheit hier: Begleitend zur Messe findet das Festival „Leipzig liest“ nicht nur auf dem Messegelände, sondern überall statt: In Cafés, Bankfilialen, diversen Vereinen und vielen anderen Orten der Stadt.

Ulrike Schrimpf im Café

Schon diese Location war eine Attraktion: Im Stil der 1970er Jahre bot das Café ein lauschig-nostalgisches Ambiente, und die Lesung von Ulrike Schrimpf aus ihrem Roman Lauter Ghosts bekam dadurch einen besonderen Reiz, dass die männlichen Passagen von einem Schauspieler des Stadttheaters Halle im Wechsel mit der Autorin gelesen wurden. So konnte der Text noch mehr funkeln.

Und die Politik? Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine? Spielte kaum eine wahrnehmbare Rolle. Ich hatte mich dennoch entschlossen, der Vorstellung des Buches „Kremulator“ des belarussischen Autors Sasha Filipenko zuzuhören, der im Exil in der Schweiz leben muss. Auf ihn war ich durch seinen das russische Herrschaftssystem entlarvenden Roman „Die Jagd“ aufmerksam geworden. Und jetzt? Besuchten vielleicht 20 Zuhörerinnen und Zuhörer diese Veranstaltung.

Kein Vergleich zu einem Autor wie Sebastian Fitzek! Um sich von ihm ein Buch signieren zu lassen, standen die vor allem jugendlichen Fans in einer mindestens 100 m langen Schlange an. Überhaupt die Jugend. Ihr wird schon traditionell viel Raum gegeben. Auffallend die kostümierten Kids, die sich vor allem für Mangas, Horror, Phantasie und Lebenshilfe interessieren. Hochwertige Literatur ist das sicher nicht, und ich frage mich, zu welchem Ergebnis das führen mag, denke aber: Besser sowas lesen als gar nichts. Schließlich ist lesen bzw. lesen können eine fundamentale Fertigkeit, die nicht bei allen Jugendlichen in wünschenswertem Umfang vorhanden sind.

Und Corona? Alles schon vergangen und vorüber? Hoffentlich! Auf ein Neues: Auf zur Leipziger Buchmesse 2024, vom 21.bis 24.März. Gastland wird dann übrigens die Niederlande plus Flandern sein.

Unser Lesefest auf der Alster

Foto: Wolfgang Schönfeld

Auf drei Touren durch die Alsterkanäle mit Live-Lesungen haben am 1. Juni 2023 zwölf Autoren aus ihren Gedichten und Geschichten gelesen. Dabei konnten die Gäste neben der Literatur und der malerischen Natur auch das historische Dampfschiff St. Georg genießen, einen Blick in den Maschinenraum werfen und sich mit Getränken an Bord stärken.

 

Glück, Schicksale und Visionen in Prosa

Die erste Tour von 10:00 Uhr bis 11:30 Uhr unter dem Motto „Glück, Schicksale und Visionen in Prosa“ bestritten Lilo Hoffmann, Wolf-Ulrich Cropp, Joachim Frank und Christine Sterly-Paulsen:

Die Hauptfigur in Lilo Hoffmanns Roman „Das Glück ist selten pünktlich“ ist die erfolgreiche Psychotherapeutin Julia.  Nach einer großen Enttäuschung verliebt sie sich in den smarten Sachsa, der nach allen Regeln der Kunst um sie wirbt. Dumm nur, dass dieser ausgerechnet ihr Patient ist. Das sieht nach einer Menge Ärger aus, denn ein Patient, so charmant er auch sein mag, sollte für eine Therapeutin absolut tabu sein.
https://www.amazon.de/Lilo-Hoffmann/e/B07DY63SHS%3Fref=dbs_a_mng_rwt_scns_share

Vor genau 394 Jahren entsandte die V.O.C., die mächtigste Handelsgesellschaft der damaligen Welt, ihr größtes und schnellstes Flaggschiff, die BATAVIA, zur Jungfernfahrt nach Südostasien. Was der TITANIC des späten Mittelalters nach ihrer Havarie vor West-Australien passierte, ist ungeheuerlich, ja einmalig in der Seefahrt. Am 15. Mai 1629 brach im Houtman-Abrohos-Archipel eine Meuterei mit grauenhaften Folgen aus … Wolf-Ulrich Cropp las aus seinem spannenden Buch.
http://www.wolf-ulrich-cropp.de/

Oft beginnt das Geschehen in Joachim Franks Kurzgeschichten im Banalen, bevor etwas Unerwartetes das Beliebige durchbricht. In den durch Ereignisse oder innere Vorgänge veränderten Situationen entstehen neue, oft überraschende Blickwinkel, die sowohl bei den Protagonisten als auch bei den Lesern bisher Gedachtes infrage stellen und zu veränderten An- oder Einsichten führen können.
http://www.joachimfrank.info/

Eine düster-poetische Zukunftsvision hatte Christine Sterly-Paulsen mitgebracht. In Cleos Welt herrschen Sicherheit und Ordnung. Die Straßen sind verwaist und Kinder verboten. Mit ihrem Geliebten Jacques träumt sie davon, der alles umfassenden Kontrolle zu entkommen. Als Jacques verschwindet und die Wohlfahrtsbehörde Cleo mit Verhaftung droht, wird das Spiel mit der Flucht zur unheimlichen Realität.
https://www.sterly-paulsen.de/

Poesie von Mensch und Hund

Auf der zweiten Tour von 12:00 Uhr bis 13:30 Uhr erwartete die Gäste das Motto „Poesie von Mensch und Hund“:

„Ich halte mich nur an Regeln, die ich selbst gut finde.“ Das ist der Wahlspruch der selbstbewussten Terrierhündin, die in Susanne Bienwalds, pardon, Minas Buch aus ihrem Leben erzählt und dabei das merkwürdige Gebaren der Zweibeiner aufs Korn nimmt.
https://susanne-bienwald.jimdosite.com/

Für „Mehr Nordsee“ plädierte Reimer Boy Eilers. „In Reimer Boy Eilers‘neuem Gedichtband ist die Zaubermacht der deutschen Sprache weder zerstört noch verweht. Sie hält allen Stürmen stand, die auf und an der Nordsee toben. … Möge der Wortpianist noch viele klingende Worte finden, um uns laut zu sagen, was ist, an der Nordsee und anderswo.“ (Sibylle Hoffmann, Juli 2021) https://www.reimereilers.de/

Gino Leinewebers Gedichtband „Wo Zeit im Wege steht“ verknüpft mythologische und spirituelle Erinnerungen mit aktuellen Wahrnehmungen und Ideen. Die Verse entsprechen in Inhalt und Form Leinewebers Philosophie, angelehnt an die Stoa, Schopenhauer und die buddhistische Lehre. Oft sind sie in surrealistischer, manchmal auch dadaistischer Diktion geschrieben.
http://www.gino-leineweber.de/

Maren Schönfelds Lyrik- und Kurzprosaband „Töne, metallen, trägt der Fluss – eine lyrische Elbreise“ enthält Texte von Hamburg bis ans Meer. Drei Kapitel gliedern das Buch in Stadt, Fluss und Meer. Je nachdem, wo man die Reise beginnen möchte, kann man das Buch vorwärts und rückwärts lesen. Außerdem las sie noch einige Gedichte aus ihrem aktuellen Buch „Engelschatten“.
https://schoenfeld.blog/

Gestern, Heute und Morgen in Prosa

Die letzte Tour von 14:00 Uhr bis 15:30 Uhr stand unter der Überschrift „Gestern, Heute und Morgen in Prosa“:

In der Anthologie „Von Menschen und Masken“ hat Vera Rosenbusch  literarische Tagebuchnotizen aus dem Herbst 2020 veröffentlicht. Wie surreal ist ein Schreib- und Urlaubsaufenthalt in der Coronaphase? Hat man mehr Inspiration durch Zeit und Ruhe – oder gar keine mehr?
http://www.hamburgerliteraturreisen.de/

1865: Johannes Biel ist Bergmann auf der Zeche Neu-Iserlohn. Seine Ehefrau, Wilhelmine Biel, bringt acht Kinder zur Welt, die sie in armen Verhältnissen resolut aber liebevoll großzieht. Abseits der glanzvollen Geschichten bekannter Industriellenfamilien gewährte Jörg Krämer tiefe Einblicke in das Leben der einfachen Bergleute. Die Arbeit auf der Zeche ist dabei nur am Rande Thema. Der Blick ist immer in die Familie und das Gefühlsleben hinein gerichtet.
https://www.ruhrpottstory.com/

Gabriele Albers, Autorin und Politikerin las aus ihrem utopisch-dystopischen Roman „Nordland 2061 – Gleichheit“. In einem nicht allzu fernen Hamburg, in dem nur noch das Geld zählt und Frauen nichts wert sind, ist Lillith die einzige Person, die an den herrschenden Verhältnissen etwas ändern könnte. Doch Nordland ist voller Intrigen und Verrat, und sie weiß nie, wer Freund ist und wer Feind.
https://www.gabriele-albers.de/

Lásló Kovas Gedichte und Erzählungen sind dynamisch, klar, allgemein-verständlich, wahrheitssuchend, glaubhaft und humorvoll. Seine emotionsreichen und philosophischen Gedanken lagern sich in einer natürlichen Stimmung in seinen Schriften ab, die sich auf dem Papier mit feinen schriftstellerischen und künstlerischen Mitteln einfinden – zu hören war dies in den drei Erzählungen „Erinnerungen an eine Stadt, an Lübeck“, „Unser Hund Bátor“ und „Zufall? Fügung? Arno?“.
http://www.edition-kova.de/

Jede Tour hatte rund 20 begeisterte Gäste, die sich sehr über dieses außergewöhnliche Format zum zudem sehr günstigen Eintrittspreis von fünf Euro freuten.

Die Auswärtige Presse e.V. und der Verband deutscher Schriftsteller*innen bedanken sich beim Deutschen Literaturfonds Neustart Kultur für die großzügige Förderung.

 

Fotos: Wolfgang Schönfeld

Wenn die Mutter fast Gott ist

Titel, Foto: DAP

Die italienische Erstausgabe des Romans „La Madre“ von Grazia Deledda erschien 1920. Genau 95 Jahre später erregte eine Studie aus Israel internationale Aufmerksamkeit, mit dem Begriff #regrettingmotherhood wurde ein Tabu thematisiert: Was, wenn Frauen es bereuen, Mutter geworden zu sein? Eine Entscheidung, die unumkehrbar ist. Eine Diskussion, die das überhöhte und idealisierte Mutterbild ins Wanken brachte. 2022 legte nun der Input-Verlag eine von Ulrike Lemke neu übersetzte Auflage von „Die Mutter“ vor.

 

Zwischen Liebe und Zölibat

Der junge Priester Paolo, von seiner Mutter bis zu deren Selbstaufgabe unterstützt, lebt in einem kleinen italienischen Dorf mit der Mutter unter einem Dach. Ihrer beider Leben läuft in festen Bahnen, die Dorfbewohner schätzen sie. Doch dann verliebt Paolo sich in eine junge Witwe und findet sich im Spannungsdreieck zwischen dieser Liebe, seinem Gelübde und den Ansprüchen seiner Mutter wieder. Denn sie hat ihr Leben nicht aufgegeben, damit er sich nun in Schimpf und Schande in eine Liebe stürzt und sein Priesteramt verliert. Man könnte glauben, dass Paolo hier die Hauptperson ist, aber das Buch trägt den Titel „Die Mutter“ nicht umsonst. Eine Mutter, die aus dem kleinen sardinischen Dorf einst wegzog, um als Dienstmagd ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihrem Sohn die Ausbildung zum Priester zu ermöglichen. Später, zurück in ebenjenem Dorf, nun mit dem erwachsenen Sohn als Priester, lebt sie nur aus dem Stolz auf ihn und der Anerkennung der Dorfbewohner, dem Status als Mutter des Priesters, den alle schätzen und achten. Was hätte sie wohl aus ihrem Leben gemacht, wenn sie kinderlos geblieben wäre?

Was bedeutet es, Mutter zu sein?

Ausschnitt, Foto DAP

Diese Mutter ist mir unheimlich. Natürlich geht es auch um Macht, um Kontrolle, die vermeintliche Aufopferung hat ihren Preis, nicht nur für Paolo, wie sich am Ende des Buchs zeigen wird. Dieser schmale Band aus der Reihe „Perlen der Literatur“ wirft elementare Fragen auf, die mir nachgehen. Ist die Aufopferung einer Mutter so selbstverständlich, wie sie auch in unserer Gesellschaft noch vielfach angenommen wird und die einmal pro Jahr mit dem Muttertag mit großem Medienzirkus gefeiert wird? Wie tief stecken wir noch in alten Rollenbildern? Wie ergeht es einer Mutter, die es bereut, Mutter zu sein? Und was bedeutet es für ein Kind, entweder eine aufopfernde oder eine weniger altruistische Mutter zu haben? Für Paolo ist die Mutter eine Instanz, die so mächtig ist, dass sie mit Gott verschmilzt. Er glaubt, dass die Mutter ein Werkzeug Gottes ist, um dem Sohn die göttliche Weisung zu überbringen, wie er sich in dem Dilemma der Liebe zu der Witwe einerseits und seinem Priesteramt andererseits zu entscheiden hat. Wie diese Entscheidung ausfällt, soll hier nicht vorweggenommen werden.

Dieser schmale Band ist einmal mehr ein wunderbares Beispiel dafür, wie aus einer Story mit wenigen Figuren und minimaler Handlung tiefgehende Literatur werden kann. Umso mehr, wenn auch die Erzählsprache – aus dem Italienischen übersetzt von Ulrike Lemke – in ihrer Eloquenz das Thema aufnimmt und die Leserschaft in Bann zieht. Grazia Deledda erhielt für ihr Gesamtwerk den Nobelpreis für Literatur. Es ist erfreulich, dass sie dem deutschsprachigen Lesepublikum mit der Neuauflage des Titels „Die Mutter“ wieder vorgestellt wird.

Wie alle Bände der Reihe „Perlen der Literatur“ ist auch dieser liebevoll in Leinen mit Prägung gebunden, hat ein eigenes Vorsatzpapier, eine eigene Schrifttype mit einigen kalligraphierten Absätzen und eine mit Kalligraphie versehene Banderole erhalten.

Foto: DAP

Grazia Deledda: Die Mutter (übersetzt von Ulrike Lemke)
Input Verlag, Hamburg 2022
Link zum Verlag: https://input-verlag.de/19-20-die-mutter-meister-floh/

„Ein Jahr noch, und dann ist es aus“

Vorsatzpapiere, (c) Input-Verlag

Diesen Satz sagt Felix zu seiner Geliebten Marie, als sie im Prater in einem Wirtshaus sitzen. Dieser Satz ist der Anfang eines Verhängnisses, das Arthur Schnitzler in seiner Novelle „Sterben“ auf 134 Seiten aufrollt und von allen Seiten beleuchtet, auf so packende Weise, dass man das Buch kaum weglegen mag.

Felix ist krank, sterbenskrank – oder glaubt er nur, es zu sein? Es gibt allenfalls diffuse Symptome.  Sein Arzt Alfred äußert sich gleichzeitig so vage, resolut und Mut machend, dass es argwöhnisch macht. Entweder ist Felix ein Hypochonder oder ein todkranker junger Mann. Jedenfalls ist er davon überzeugt, in einem Jahr sterben zu müssen. In ihrer Verzweiflung und Angst verspricht Marie, mit ihm zu sterben.

Man könnte glauben, dass dies ein trauriges, vielleicht gar trostloses Buch sei, resignativ durch das schwere Thema. Dass es kein Happy End geben wird, ist in der Atmosphäre der Geschichte angelegt. Wie das Ende aussehen wird, jedoch nicht, es bleibt bis zum Schluss spannend. Und nicht weniger spannend ist die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens, der Liebe, des Schönen und des Schrecklichen. Schnitzlers unvergleichliche, poetische Sprache schafft eine oszillierende Schönheit, die – gepaart mit der inhaltlichen Spannung – den Leser in den Bann schlägt.

Im Spannungsfeld der starken Nähe zweier Verschwörer in Erwartung des baldigen gemeinsamen Endes und der großen Entfremdung, als Marie von ihrem Lebenswillen gepackt wird, fühlt man als Leser mal mit der einen, dann mit der anderen Figur, ist hin- und hergerissen und kann es kaum aushalten, nicht zu wissen, was nun wirklich los ist. Denn Schnitzler benennt die Krankheit an keiner Stelle, man weiß sehr lange nicht, ob Felix wirklich krank ist oder sich alles nur einbildet.

So geht es auch Marie. Während eines Kuraufenthalts in den Bergen scheint Felix wieder zu genesen, das quälende Versprechen Maries, mit ihm in den Tod zu gehen, scheint sie nicht einhalten zu müssen. Fast könnte man glauben, dass nun alles gut würde. Fast. Wenn da nur nicht dieser immerwährende Zweifel wäre, den Arthur Schnitzler meisterhaft zwischen den Zeilen hält.

Wie diese großartige Novelle endet, soll hier nicht vorweggenommen werden. „Sterben“ ist ein wunderbares Buch für den Winter, für die stillere Zeit. Der Verzicht auf drastische Schilderungen und Effekte macht die Erzählung stark und zeigt, wie weite Räume sich mit poetischer, bildhafter Sprache und Andeutungen öffnen lassen. Man darf als Leser hier Phantasie haben.

Dieser Band trägt die Nummer 14 der Reihe „Perlen der Literatur“ aus dem Input-Verlag und zeichnet sich, wie die anderen Bände auch, durch sein bibliophiles Erscheinungsbild aus. Dadurch wird das Lesevergnügen noch einmal gesteigert. Mehr über die außergewöhnliche Reihe finden Sie in diesem Artikel:

https://die-auswaertige-presse.de/2021/09/eine-perlenkette-fuers-buecherregal/

 

Arthur Schnitzler: Sterben
Perlen der Literatur, Band 14
Input-Verlag, Hamburg 2022

Nimm uns mit, Kapitän, auf die Reise…

Mit dem Sahara-Express durch die Wüste

In seinem jüngst erschienenen Buch „Zwischen Hamburg und der Ferne“ lädt uns der bekannte Schriftsteller Wolf Cropp auf eine Reise rund um die Welt ein. Leichtfüßig bewegt er sich zwischen der Hansestadt und zahlreichen Ländern auf der nördlichen und südlichen Halbkugel unseres Globus. In Insgesamt zweiundvierzig völlig voneinander unabhängigen Erzählungen gewährt der Autor dem Leser einen Einblick in sein abenteuerliches Leben, das ihn stets fernab der ausgetretenen touristischen Pfade nicht nur in die interessantesten, sondern häufig auch gefährlichsten Regionen des Planeten führten.

Die Reise um die Welt beginnt vor der Haustür
Mal wieder im Hamburger Hafen bei der Verholung der PAMIR

Ein kluger Fahrensmann sagte einst, dass einer, der die Welt erkunden will, zuerst seine Heimat richtig kennenlernen solle. Dann erst habe er das Rüstzeug für die weite Ferne. Folgerichtig beginnt Cropp seinen Erzählzyklus in seiner Vaterstadt Hamburg. „Kampfplatz Stadtpark“ berichtet von einem gefährlichen Abenteuer, das er und seine Spielkameraden nach 1945 in der vom Krieg zerstörten Hansestadt zu bestehen hatten. Vielleicht war dieses Erlebnis zusammen mit anderen gewagten „Aktionen“ auch die Feuertaufe für diesen drahtigen Mann, der auf seinem weiteren Lebensweg nie einer Herausforderung auf dem Weg ging.

Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen
Der Voodoo-Priester mit der Plastiktüte?

Wer kann sich etwas Schöneres vorstellen als die Inseln der Südsee? So verschlug es den Autor nach Moorea, Tahiti, wo er mit dem „Inselschreck“ Bekanntschaft schloss. Mit den Füßen im Stillen Ozean plätschernd, überlegte er sich, wie er zu Wasser nach Papeete gelangen könnte, mietete ein Auslegerkanu und landete in der Tat am Ziel seiner Träume, trotz der Warnung eines Einheimischen, er könne zwar heil in Tahiti ankommen, aber auch bei ungünstiger Strömung auf dem offenen Meer verloren gehen. Hatte der Waghalsige nur Glück oder war er einfach ein begnadeter Navigator? Wir vermuten letzteres. Von dieser Tour de Force etwas erschöpft, wandelt Cropp beseelt auf den Spuren des Malers Paul Gauguin und lässt uns an der tragischen Lebensgeschichte des Malers teilhaben. Der Künstler erträumte sich einen Garten Eden in der Südsee, frei von allen Konventionen der westlichen Zivilisation, fand aber zu seinem Leidwesen eine durch die französische Kolonialherrschaft zerstörte autochthone Kultur vor. Quelle déception! Dennoch schuf er wunderbarer Gemälde, die zwar zu seinen Lebzeiten niemand kaufen wollte, die aber heute unbezahlbar sind. Ein Schicksal, das er mit anderen genialen Künstlern teilt. Man denke nur an Vincent van Gogh.

Eisfischen am Nordrand Alaskas

Auf den „Marktbesuch“ im westafrikanischen Benin folgen spannende Geschichten auf dem „Transalaska Highway“ sowie eine „Kreuzfahrt ins ewige Eis“ Alaskas. Ferner erfahren wir, dass am Sambesi „Die Hölle stinkt.“ Es gehört schon viel Mut dazu, sich auf eine „entspannte Bootsfahrt“ oberhalb der Victoriafälle zu begeben. Noch viel gefährlicher aber sind die Gewässer darunter, in denen hungrige Krokodile leben und auf Beute lauern. Doch auch diesen Höllentrip übersteht Cropp mit einem Lächeln auf den Lippen, als er gleich zwei der riesigen Echsen mit weit aufgerissenen Mäulern neben seinem Boot erblickt. Nach einem solchen Abenteuer mutet der Ausflug in die Wüste im Tschad zwar auf den ersten Blick wie ein Spaziergang an, entpuppt sich jedoch als Ausflug voller Tücken. Als der Autor die Orientierung verliert, verlassen ihn bald seine Kräfte. Völlig erschöpft legt er sich im Wüstensand zum Schlaf nieder: „Ich suchte den Boden ab. Schwarzkäfer bohrten sich in den Grund. Skinke huschten über den Sand. Ein Skorpion hastete davon. Eine Hornpiper grub sich ein. Der Abendwind blies sie weg, die letzten Lebensspuren…“ Aber auch aus dieser prekären Lage arbeitet sich Cropp heraus, der offenbar wie eine Katze über sieben Leben verfügt. Der wunderbaren Geschichten sind viele in diesem lesenswerten Buch. Eine der anrührendsten ist jene, in der sich der Autor auf die Suche nach dem verlorenen Sohn eines Freundes in Thailand begibt und diesen nach endlosen Umwegen auch findet.

Kein Platz für Märchen
Der Autor on Tour

Wenn auch manche Erzählungen etwas fantastisch anmuten, so haben wir es im Autor Cropp nicht etwa mit einem Claas Relotius zu tun, der den „Spiegel“ vor nicht langer Zeit mit Geschichten beglückte, die ausschließlich seiner allzu lebhaften Fantasie entsprangen. Keines von Cropps Abenteuern ist erfunden. Hier geht es ausschließlich um „histoires vécues“ – am eigenen Leib Erlebtes und Erlittenes. Manche der in „Zwischen Hamburg und der Ferne“ enthaltenen Erzählungen kennen wir bereits aus verschiedenen Büchern, die der Autor im Laufe der Zeit über seine Reisen rund um den Globus geschrieben hat. Sein einzigartiges Fabuliertalent lässt uns seine Abenteuer hautnah miterleben. Dazu gehören u.a. „Fluchtort Guantánamo, „Heimaterde“ und „Die Brandung.“ In diesem Kontext hervorzuheben ist „Insel der Meuterer (Pitcairn), eine faszinierende Geschichte, die das Schicksal der Überlebenden der legendären „Bounty“ auf einer gottverlassenen Insel in der Südsee erzählt. Da dieses felsige Eiland offenbar auf den Seekarten der britischen Admiralty im 18. Jahrhundert nicht zu finden war, biss man sich im fernen London die Zähne aus nach dem Verbleib von Fletcher Christian und den übrigen Meuterern. Kaum zu glauben, aber es gibt auf Pitcairn immer noch Nachkommen dieses Aufrührers gegen die britische Krone.

Zurück zu den Wurzeln

Mit „Zwischen Hamburg und der Ferne“ überreicht uns Wolf Cropp einen bunten Blumenstrauß wunderbarer, den ganzen Erdball umspannender Erzählungen. Die literarische Reise endet, wo sie begann, in Hamburg. Hier begegnen wir der drallen „Seemannsbraut“ auf St. Pauli, erfahren manch Bizarres über die „Liebe in Zeiten von Corona“ und wohnen der Überführung der „Viermastbark Peking“ in ihren heimatlichen Hafen auf dem Grasbrook bei.

Fazit

Wer sehnt sich in dieser trüben kalten Jahreszeit nicht nach Sonne, Meer und Abenteuern in fernen Ländern? Empfehlung: Man greife zu „Zwischen Hamburg und der Ferne“ und genieße dieses fast 500 Seiten starke Buch in vollen Zügen. Viel Spaß bei der Lektüre.

Buchcover
(c) Verlag Expeditionen, Hamburg

„Zwischen Hamburg und der Ferne“ von Wolf Cropp ist im Verlag Expeditionen erschienen, umfasst 491 Seiten und kostet 20 Euro. ISBN 978-3-947911-68-4

Fotos: Wolf-Ulrich Cropp

Siri, die Gänse reden

Alsterabend
Foto: Privat

Ich fragte Siri nach dem Sinn des Lebens
und sie sagte: 42
seitdem vertraue ich ihr
und nun warte ich vor dem Neptun
der seinen Dreizack hoch über das Gewässer hält
Zur Rechten und zur Linken flüstert der Wind
in Schilf und Weiden
in meinem Rücken eine asphaltierte Promenade
und das Gras auf der Liegewiese dahinter
ist raspelkurz gehaltenen von einer Herde Gänse
alle beringt und sprachfreudig und von guter Verdauung

Ich frage Siri, und sie sagt
die Gänse sprechen von Futter und Liebe
Genau wie ich, ist meine Antwort
und Siri sagt: deine Verabredung
ist 30 Minuten überfällig
Ich sage: das hat nichts zu bedeuten
sie wird schon kommen
wir haben uns mehr zu sagen
als alle Gänse zusammengenommen
und Bilder lügen nicht
davon hat sie mir auch genügend geschickt
das Grübchen, dieser offene Blick

Siri sagt: dein Provider ist vertrauenswürdig
aber das besagt nichts
über die Nutzerinnen der Programme
Ich ärgere mich über die Antwort
wir schweigen beide und lauschen den Gänsen
bis hinter dem Sockel des Neptuns
eine Bewegung entsteht und
meine Verabredung hervortritt und mich fragt
sprichst du mit deinem Handy?
ich habe mich nicht getraut dich zu stören

Darauf will ich etwas entgegnen
aber Siri übernimmt und sagt
so einfach liegen die Dinge nicht
ich kenne eine Angststörung
wenn ich sie höre
wie lange bist du schon in Therapie?
Und meine Verabredung sagt
seit einem Jahr, mein Therapeut meint
ich mache gute Fortschritte

In der Pause, die folgt, schnattern die Gänse
der Wind streicht durch Schilf und Weidenlaub
und winzige Wellen glucksen ans Ufer
während meine Verabredung
die Finger zu einer Raute aneinanderlegt
Siri fragt dann an meiner statt
warum versteckst du dich hinter einem Denkmal
gehört das zur Therapie?
Ich komme meiner Verabredung zuvor
und sage zu meinem Phone
die Frage ist berechtigt
doch sollte sie nicht zur Unzeit gestellt werden
hörst du nicht die Gänse
von Futter und Liebe und Sex reden?

Und Siri sagt: dieses Gespräch führt zu keinem Ziel
es ist ein Fehler, wir sollten es löschen
aber wie du willst – kein Problem
wenn du deine Verabredung behalten möchtest
dann wirf mich ins Wasser
Worauf meine Verabredung gründlich erschrickt
das kann ich nicht zulassen
also gehe ich jetzt wieder zum Neptun
dahinter hat es eine schöne Aussicht
über den See und wir alle tun so
als hätte es dieses Treffen nie gegeben

Siri sagt: das scheint mir eine elegante Lösung
bravo und nichts für ungut
richte das deinem Therapeuten aus
Ich schüttele den Kopf und schaue auf meine Uhr
und Siri sagt: jetzt schon 45 Minuten Verspätung
du sollest dich nach einer Alternative umsehen
Meine Verabredung winkt mir Adieu und sagt
ich werde meinem Therapeuten von dir erzählen
Grüße an dein Phone, wenn’s genehm ist
Hinter mir schnattern die Gänse
während meine Verabredung Leine zieht,
Siri was reden die Gänse?
komm mit auf die Wiese
wir wollen uns umhören