von Maren Schönfeld
Zwei Mädchen kommen in der Silvesternacht 1954/1955 zur Welt, und nur der Name Cornelia eint sie. Ansonsten gehören sie in verschiedene Welten, was zu der Zeit noch enorm schwerwiegt. Die eine Cornelia wird in eine „anständige“ Familie geboren, ein hässliches Kind. Die andere, still und niedlich, ist als uneheliches Kind des Fräulein Hertz, wie die ledige Mutter im Krankenhaus angesprochen wird, eine „Schande“. Schon in den ersten Lebenstagen der Cornelias bekommen Leser*innen einen Eindruck der damaligen Verhältnisse, und bis Seite 20 hofft man mit einem lachenden und einem weinenden Auge, dass dieses Aschenputtel doch noch irgendwie das große Los ziehen wird – auch wenn sie dafür die denkbar schlechtesten Voraussetzungen hat. Ein kleiner Hinweis auf eine mögliche Wende ist nur der leibliche Vater, den Fräulein Hertz beim Fasching traf und der „das Gesicht eines Prinzen aus tausendundeiner Nacht“ (S. 21) hatte, was zumindest die Möglichkeit eines märchenhaften Happy Ends vorstellbar macht.
Zunächst trennen sich die Wege der beiden Cornelias, sie werden sich erst in der Schule wieder begegnen.
Die hübsche, aber arme Conny lernt nun von ihrem kriminellen Onkel, wie man sich durch kleine Fenster zwängt und wo in den Zimmern wertvolle Dinge zu finden sind, die man mit den kleinen Händen dem Onkel gut durchs Fenster anreichen kann. Dass die Autorin die Dialoge in herrlichstem Hamburgisch geschrieben hat, steigert das Lesevergnügen ungemein. In manchen Szenen fühlte ich mich an das Ohnsorg-Theater erinnert.
Mit der Einschulung wird aus der zweiten Cornelia – die „anständige“ – Nelli, und sehr zum Entsetzen der gutbürgerlichen Familie freundet sie sich sofort mit Conny an. Doch nicht die Nähe zu der besser gestellten Freundin, sondern ausgerechnet ein Raubzug bringt die Wende in Connys Leben: Sie wird von der Hauseigentümerin Frau Wohlgast geschnappt. Statt die Polizei zu rufen, besteht diese darauf, dass Conny eine vernünftige Erziehung und Bildung zuteil werden, und verdonnert sie, jede Woche Mittwoch bei ihr zu erscheinen und ihr vorzulesen. Die Sorge des Lesers, dass Connys kriminelle Karriere die einzig vorstellbare Berufsaussicht sein könnte, hat die „gute Fee“ in Gestalt der Frau Wohlgast schon einmal gemildert.
Eines Tages darf Conny an dem freitäglichen „Schurfix“ (S. 60) im Hause Wohlgast teilnehmen und begegnet der Russin Tante Ala, die des Wahrsagens mächtig ist und dem Mädchen drei Lebensentwürfe prophezeit. Heirate Conny jung, sei es der falsche Mann und eines ihrer beiden Kinder würde sterben. Heirate sie mittleren Alters, sei der Mann etwas richtiger und sie bekäme ein „liebes, schönes Knabe [sic] und Herzensfreude“ (S. 61). Nur eine späte Heirat verspreche Glück für den Rest des Lebens, getrübt allerdings von drei schrecklichen Töchtern. Geld sei von einer Heirat nicht zu erwarten, sondern nur von „Arbeit und Fleiß“ (S. 60).
Die Leserin begleitet Conny und Nelli durch die Schulzeit, in der Conny es wegen ihrer Lebensumstände immer ein bisschen schwerer hat als ihre beste Freundin. Doch Nelli hat, ungeachtet ihres steigenden Gewichts und nicht unbedingt mit Schönheit gesegnet, schon als Teenager ihre große Liebe Damian gefunden, während Conny – auch die Vorhersage Tante Alas im Gedächtnis – sich vorerst zurückhält. Bis sie den etwas älteren Gymnasiasten Vico trifft. Die Verliebten beschließen zu heiraten, doch Vicos Eltern lehnen die Verbindung ab; Conny ist nicht gut genug für den Sohn aus gutem Hause. Damit treiben sie die junge Liebe in die Heimlichkeit und damit beginnt für Conny und die ihr gewogene Leserin eine lange, harte Phase ungewissen Ausgangs. Vico bekennt sich nicht zu ihr. Man trifft sich in der Natur, im Auto, in der Wohnung der Schwester. Das Verhältnis zieht sich wie eine Parallelwelt durch die Jahre. Conny, von Vico „Schäfchen“ genannt, beginnt eine Ausbildung, bei der sie von dem Chef sexuell bedrängt wird. Sie schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, lässt die Ausbildung sausen. Vico meldet sich monatelang nicht, taucht dann wieder auf und alles geht weiter wie bisher. Er studiert Medizin und versucht, Conny zu einer Ausbildung zur MTA zu bewegen, damit sie später zusammen arbeiten könnten. Denn Vico hat – für die Leserin offensichtlich – nicht die Absicht, ihre Beziehung offen zu leben oder durch eine Heirat zu „legalisieren“, was in den gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Familie auch in den 1970er Jahren noch sehr wichtig war. Aber die schwer verliebte Conny hofft, ohne in seinem Plan das Kalkül zu erkennen, die Geliebte in seiner Nähe zu platzieren.
Als ihre Mutter einen tragischen Tod stirbt, sorgt Vico sich um seinen Ruf: „Schäfchen, es ist so schrecklich. Wir sind vorletzte Woche gesehen worden“ (S. 156). Am Tag der Beerdigung ihrer Mutter spricht er von Trennung. Er beugt sich der Forderung seiner Eltern, den Kontakt zu Conny abzubrechen, ansonsten bekäme er keine finanzielle Unterstützung mehr für sein Studium. Die MTA-Ausbildung, die Vico für Conny bereits verabredet hat, verweigert sie, was er so übel nimmt, dass er sich nicht mehr bei ihr meldet. Darum entgeht ihm, dass Conny schwanger ist. Kurz vor der geplanten Hochzeit mit einem sympathischen Fahrlehrer kreuzt Vico jedoch erneut ihren Weg – und verhindert, zum zweiten Mal, dass Conny eine anderweitige Verbindung eingeht. Spätestens an dieser Textstelle, als Vico in Anbetracht ihres Babybauches sagt: „O Gott, Schäfchen – war ich das?“ (S. 190), möchte man diesem Kerl mal kräftig die Meinung sagen. Leider erweist sich der Spitzname als nomen est omen; Conny wehrt sich nicht, selbst dann nicht, als er ihr von seiner bevorstehenden Hochzeit mit seiner affektierten Kusine erzählt, die ebenfalls schwanger ist. Er stellt die Situation so hin, als sei es Connys Schuld! Hätte sie sich gemeldet, hätte er Susann nicht geheiratet. Schlag ihn!, denkt die Leserin, doch Schäfchen Conny sagt: „Du musst versuchen, Susann so glücklich wie möglich zu machen.“ Ist das zu fassen?
Vico heiratet, Conny löst ihre Verlobung und bekommt – Tanta Alas Vorhersage gemäß – einen Sohn. Und wartet. Vico hatte ja versprochen, sie zu heiraten. Nur wann? Vorerst ist er aus ihrem Leben verschwunden.
Conny wird Schneiderin und gründet ihr eigenes Modelabel. Später, als Conny bereits Mitarbeiter beschäftigt, ihr Unternehmen etabliert hat und Vico Arzt mit eigener Praxis geworden ist, mieten sie ein Apartment, in dem sie sich jeden Mittwochnachmittag treffen: das Mittwochszimmer. In diesen Stunden bleibt ihr anderes Leben außen vor, der gemeinsame Sohn Eric spielt hier kaum eine Rolle. Conny ist alleinerziehende, berufstätige Mutter und sehnt sich immer noch nach Vico, der jede Woche rote Rosen mitbringt und den sie in ihrer Vorstellung überhöht. Es ist ein irreales Bild, das durch den Wegfall eines gemeinsamen Alltags, durch das radikale Leben einer nur stundenweisen Essenz des Schönen, überhaupt erst möglich wird. Wie gut sie ohne einen Mann zurechtkommt, ist ihr selbst wohl am wenigsten bewusst. Während Nelli bald mit zwei Männern lebt, zeitweise abwechselnd, beklagt Conny noch immer ihre Einsamkeit und kann sich nicht auf einen anderen Mann einlassen, obwohl sie Gelegenheiten hätte. Ihre Versuche, im Mittwochszimmer auf das seinerzeitige Eheversprechen zurückzukommen, münden in Streit. Ist das wöchentliche Treffen bald nur noch Tradition? Doch Conny hält fest an ihrem Märchenprinzen Vico, der mit dem Alltagsmann Dr. van Loon vermutlich nicht viel gemein hat.
Märchen haben meistens ein Happy End. Auch dieses moderne Märchen, geschrieben auf der Aschenputtel-Folie und in die Neuzeit versetzt, hat eines – aber es ist ein überraschendes …
Dagmar Seifert erzählt die Geschichte überwiegend personell aus Connys Perspektive. Erst im letzten Drittel wechselt sie einmal in Vicos Perspektive, sodass diese Figur zum ersten und letzten Mal eine Stimme bekommt und etwas tiefer ausgeleuchtet wird. Neben dem Erzählstrang dieser beiden sind diverse weitere Figuren relevant, deren Schicksale den Rahmen dieser Rezension sprengen würden, neben Nelli deren Bruder Christian, das Umfeld der Wohltäterin Wohlgast und Connys Familie, bestehend aus Mutter, deren Brüdern und deren Mann, der schließlich für ihren Tod verantwortlich ist. Seifert stellt die spießbürgerliche deutsche Gesellschaft der Nachkriegszeit vor und Conny selbst ist das Beispiel für die Veränderung der Frauenrolle von der versorgungsverheirateten Hausfrau hin zur alleinerziehenden, selbstständigen Mutter, die allerdings gedanklich mit ihrer eigenen Entwicklung nicht mitkommt.
Der Zeitrahmen der Geschichte streckt sich von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart. Die ältere Generation hat den eigenwilligen Lebensformen ihrer Kinder wenig entgegenzusetzen, wirkt erstarrt und frustriert.
Dagmar Seifert schafft dennoch Figuren, denen die Sympathie der Leser*innen sicher sein kann. Sie hat einen liebevollen, verständnisvollen Blick auf Eigenheiten und menschliche Schwächen, verurteilt ihre Figuren nicht. Die unendliche Langmut Connys ist freilich für eine in der heutigen Zeit sozialisierte Leserin schwer auszuhalten und regt gerade deshalb zum Nachdenken an. Denn es ist nicht realitätsfern, dass Frauen, die beruflich erfolgreich und souverän sind, ihre Eigenständigkeit und Sicherheit verlieren, wenn es um Gefühle geht. Auch in unserer gegenwärtigen Gesellschaft.
Insofern liefert „Das Mittwochszimmer“ durchaus einen Anstupser zum Nachdenken, ist jedoch vor allem eine sehr vergnügliche, gut lesbare und in ansprechendem Stil gestaltete Lektüre.
Dagmar Seifert ist Autorin, Journalistin und Redakteurin. Sie hat Short Stories, Kolumnen, Märchen, Radio-Features, Gruselgeschichten, Drehbücher und Theaterstücke verfasst. Außerdem schreibt sie Sachbücher, vornehmlich Kochbücher. „Das Mittwochszimmer“ ist ihr siebter Roman. Dagmar Seifert lebt und schreibt in der Nähe Hamburgs.
Internetseite: www.dagmar-seifert.com
Am 11. Mai um 19 Uhr wird die Autorin in der Handwerkskammer, Holstenwall 12, aus dem Roman lesen. Veranstalter: Hamburger Autorenvereinigung; Eintritt: 6 €
Das Mittwochszimmer, Roman, LangenMüller, 317 S.