
Vor 150 Jahren, am 6. Juni 1875 wurde der Schriftsteller Thomas Mann geboren. In Lübeck wird er besonders gefeiert. Viele seiner Werke werden wieder aufgelegt und neue über ihn veröffentlicht. Lassen Sie mich mit einer Reise nach Nidden an ihn erinnern:
Eine geheimnisvolle Nehrung
Nidden, oder Nida? Das Örtchen im fernen Osten? Klar, es gehört zur Allgemeinbildung, dass die Location etwas mit Thomas Mann zu tun hat. Doch viel mehr war mir von dem weit weg gelegenen Städtchen, dort in der Ostsee-Lagune in Litauen nicht bekannt.
Keinesfalls unvorbereitet wollte ich unterwegs sein. Dass hieß Informationen sammeln und, allmählich ergab sich ein Bild von einer Landschaft, eines Ortes, anfangs noch fremd, doch schließlich wurde beides auf wundersame Weise vertraut. Natürlich trug erst die Reise dazu bei, sich den Teil des früheren Ostpreußen zu erschließen.
Nun möchte ich einladen, diesen besonderen Zipfel Land zu erkunden. Land, das geeignet ist Sehnsucht und Fernweh zu wecken! Kurische Nehrung heißt jene Lagune zwischen nordostpreußischem Samland und der Ostsee. Der Name stammt von den Kuren, der Urbevölkerung der Nehrung, deren Sprache ausgestorben ist.
Die meergeborene Nehrung ist eine fast einhundert Kilometer lange, schmale Halbinsel. Sie wird auch als Sandsichel oder Sandhaken bezeichnet. Ihre breiteste Stelle misst vier Kilometer, die schmalste gerade mal 380 Meter. 1980 brach dort die Ostsee zum Kurischen Haff durch, damit wurde die Nehrung für kurze Zeit eine Insel.
Die Nehrung bietet dem Besucher keine kulturelle Attraktion. Eine 1330 in Rossitten gebaute Burg ist längst im Sand verschwunden.
Es ist die Natur, die den Reiz ausmacht. 1890 schrieb Wilhelm von Humboldt: „Die Kurische Nehrung, ein schmaler Strich toten Sandes, an dem das Meer unaufhörlich auf einer Seite anwütet, und den in der andern eine ruhige große Wasserfläche, das Haff, bespült.“
Und Thomas Mann verkündete 1931 auf einem Vortrag: „Der eigenartige Charakter dieses Landstrichs hat nichts Einschmeichelndes, aber er kann einem ans Herz wachsen!“
Durch die Dünen gestapft, muss ich bestätigen: Zwischen den Wellen liegt eine Spur von Unwirklichkeit, von Märchenhaftigkeit, von Geheimnis. Sogar etwas Archaisches, paradiesischen Ursprungs. Land wie von Urbeginn aus jener Ewigkeit, da Gott Erde aus dem Wasser schuf.
Oh ja, die Dünen! Die großen liegen im Süden und sind die höchsten Europas. Ein Naturphänomen! Und verschlingender Sand wurde Stoff für Sagen, Mythen und Sandhexen. Wie es zu den Sandmassen kam? Nun, es ist das Ergebnis einer ökologischen Untat. Rigoroses Roden des Waldbestandes legte Sand frei, der durch sandschwangere Winde immer höhere Sandberge auftürmte.
Am eindrucksvollsten ist die Hohe Düne bei Nidden mit ihrer großen Kuhle, dem Tal des Schweigens. Wer sie mal mit hängender Zunge bestiegen hat, betritt eine fremde Wirklichkeit, eine maßlose Verlassenheit.
Raues Leben am Haff
Und nun zum Haff. Eingebettet zwischen Nehrung und Festland, ist es eine fischreiche Süßwasserlagune, in die der Bodensee dreimal hineinpasst. Einst warfen dort Fischer auf klobig-hölzernen Keitelkähnen ihre Netze aus. Heute tuckern blechgraue Motorboote, nach ihrem Fang, von schreienden Möwen umschwärmt, den Anlegestegen zu. Das Haff ist das eigentliche Arbeitsfeld der Fischer.
Gefangen werden Hecht und Zander.
Dazu Thomas Mann: „Ihr Leben ist rau und oft sehr schwer. Das Haff erscheint harmlos, kann aber außerordentlich bösartig sein, besonders im Herbst. Im Sommer sind Blitzschläge gefährlich. Ich habe erlebt, wie man einen Fischer, der vom Blitzschlag gelähmt wurde, aus einem Boot hob.“
Was in den Souvenirläden Niddens als „baltisches Gold“ angeboten wird, schwemmt die Brandung an: Bernstein, das ist fünfzig Millionen Jahre altes versteinertes Baumharz.
Abends geht über der See die Sonne unter. Nicht selten ein spektakuläres Ereignis. Familie Mann verfolgte das Schauspiel häufig von einer Düne aus in stummer Ergriffenheit.
Die Künstlerkolonie
Zurück im Ort: Das Fischer- und Ferien-, das Wald- und Dünenstädtchen, die Künstlerkolonie Nida oder Nidden, verkörpert lauschige Gemütlichkeit. Erstmals 1437 in Chroniken erwähnt, hatte es um 1930 neunhundert Einwohner, heute sind es um eintausendfünfhundert. Nach dem Krieg galt Nidden als „das schönste Dorf der Sowjetunion“.
Alte Fischerhäuser, blaue, gelbe, rote, weiße Gebäude aus Holz, Back- oder Naturstein mit verzierten Giebeln und den typischen kurisch-blauen Windbrettern, schmücken das Bild des Ortes. Versteckt hinter Obstbäumen, Cosmeenbüschen, Dahlien und Malven gelegen, umsäumt von Dünen und Wald.
Um 1890 bis nach 1900 zogen zahlreiche Maler aus Königsberg, Berlin und Dresden nach Nidden und bildeten eine Künstlerkolonie – das Worpswede des Ostens. Unter ihnen waren Max Pechstein, Karl Schmidt-Rodluff, Oskar Moll, Ernst Mollenhauer, um nur einige Namen zu nennen.
Kunsthistorisch wird die Niddener Künstlerkolonie als Einfallstor des Expressionismus in Ostpreußen gewertet.
Thomas Mann kannte Ostpreußen bis 1929 so gut wie gar nicht. Nach Visiten von Königsberg und Rauschen, schlug ihm Bernhard Koch, der österreichische Konsul in Königsberg und Leiter des Verlags Gräfe und Unzer, einen Ausflug nach Nidden vor.
Liebe auf der ersten Blick
An einem Freitag des 24. August 1929 trafen Manns im Ort ein und stiegen im Hotel-Gasthof Herrmann Blode ab. Bereits vier Tage später war in der Königsberger Allgemeinen zu lesen, dass Thomas Mann beabsichtige sich in Nidden ein Sommerdomizil einzurichten.
Der Schriftsteller, so hieß es, sei von der Eigenart und Schönheit dieser Natur, der Welt der Wanderdünen, dem von Elchen bewohnten Wald zwischen Haff und Ostsee so ergriffen, dass er beschloss, an diese so entlegene Stelle einen festen Wohnsitz zu schaffen, an dem fortan die Sommerferien mit den schulpflichtigen Kindern zu genießen seien.
Liebe auf den ersten Blick? – So konnte die rasche Entscheidung genannt werden!
Alles ging jetzt ganz schnell. Das Haus entstand auf einem Hügel mit herrlichem Blick auf Haff und Dorf. Gebaut wurde es vom Architekten Herbert Reissmann, der von Ernst Mollenhauer, dem einheimischen Freund der Manns, beraten wurde.
Es sollte ein schönes, aber nicht protziges Heim werden. Eines, das dem Stil der Fischerhäuser nahe kommt. Katia Mann gab Instruktionen, was für Räume sie brauchten und wie viele. Natürlich fließend kaltes und warmes Wasser, elektrisches Licht, Zentralheizung … ein bisschen komfortabel sollte es schon sein.
Als das zweigeschossige, reetgedeckte Heim mit Kaminzimmer, mehreren Schlafgemächern, Veranda und Terrasse fertig und bezogen wurde, fanden die Einheimischen schnell einen Namen für das Anwesen: „Onkel Tom’s Hütte“.
Onkel Thomas lächelte darüber und zog sich in sein Arbeitszimmer im ersten Stock zurück, um große Literatur zu schreiben, die die Welt interessiert verschlang.
Aber warum ausgerechnet Nidden? mag man sich fragen. Ein Ort wie am Ende der Welt gelegen, unpraktisch zu erreichen, Tagesreisen von westlicher Zivilisation entfernt. Doch es gab Argumente, die für Thomas Manns Entscheidung sprachen: Die Kurische Nehrung war ein alter Teil des Deutschen Reiches. Damit war sie ein Stück der deutsch-romantischen Seele und für den Schriftsteller auch Seelenlandschaft. Zumal es ja ein künstlerisch nicht unbedeutender Platz war.
Die Standortwahl sollte zudem einen politischen Akzent setzen: Schaut her, der äußerste Winkel des Landes ist wichtig. Im Sinne von: Ich bin hier und ich schreibe hier!
Nobelpreis
Thomas Mann erhielt im November 1929 den Nobelpreis für Literatur. Die Würdigung rückten Nidden und natürlich auch das Domizil ins Blickfeld.
Von jeher hatte der Dichter Mann „Zwischenlagen“ gesucht, wie jene zwischen Haff und Meer, oder, das Sowohl-als-auch. Orte an doppelten Ufern. Und hier überkam ihn obendrein tiefe Freude an Landschaft und Natur, bei gottvoller Ruhe, die Dichter und Denker so nötig brauchen.
„Der Sommerfrieden sei ihm unentbehrlich“, war im Das Neue Wiener Journal, am 9. August 1930 zu lesen.
Gerhart Hauptmann residierte auf Hiddensee. Und Nidden, mit dem Kurischen Haff sollte Thomas Manns Revier werden. Zu guter Letzt gab es noch einen finanziellen Aspekt: Im fernen Ostpreußen war Bauland und das Bauen erschwinglich. Die Investition konnte aus Teilen des Nobelpreises und dem Vorschuss seines Verlegers Samuel Fischer für eine neue Volksausgabe der „Buddenbrooks“ bezahlt werden.
Mein Trip nach Nidden war alles andere als eine Lustreise. Ich hatte ein strammes Programm zu absolvieren: Besichtigung der Kulturstätten. Das Bernstein- und Fischermuseum, ein Denkmal, das den deutschen Weltrekord-Segelflieger Ferdinand Schulz würdigt.
Der ehemalige Gasthof Blode, einst Malertreffpunkt der Künstlerkolonie, ist das Herrmann Blode-Museum geworden. Auch das musste besucht werden. Und natürlich das Thomas Mann Sommerhaus, auf dem „Schwiegermutterberg“, wo der Hausherr von 1930 bis 1932 mit Familie die Ferien verbrachte, Aufsätze, Briefe und am „Joseph“-Roman schrieb.
Die Hausbesichtigung war mit allerlei Vorträgen des Repräsentanten des Thomas-Mann-Kulturzentrums angereichert.
Kamingespräche
Nach reichlich geistiger Nahrung, traf man sich im Kaminzimmer des Thomas Mann-Hauses und diskutierte in gemütlicher Runde bis in den frühen Morgen.
Ich konnte mir gut vorstellen, wie der Dichterfürst so am Kamin stand, lässig die Faust in die Hüfte gestemmt, den linken Ellenbogen auf den Kaminsims gestützt, zwischen den Fingern die obligate Zigarette.
Er zeigte sich gern mit hellen Schuhen, weißer Hose im dunkelblauen Zweireiher-Sacco dazu Einstecktuch. Immer äußerst korrekt: weißes Hemd mit Krawatte. Haare wohl frisiert, den Oberlippenbart fein gestutzt. Sein Blick durch die runde Brille stets etwas von oben herab.
Ein deutscher Gentleman alter Schule eben, der gerade seiner Familie oder Gästen die Welt erklärt. Eine Welt, deren Verlauf ihm große Sorgen bereitete. Doch so weit bin ich noch nicht.
In der Kaminrunde wurde auch sein Alltag in Nidden geschildert: Eigentliche Ferien waren Manns Aufenthalte hier nicht. Sein diszipliniert, ganz auf die Arbeit ausgerichteter Tagesablauf ging weiter. Die Familie hatte darauf Rücksicht zu nehmen. Der Hausherr durfte beim Schreiben nicht gestört werden. Ebenso wenig beim Nachmittagsschlaf.
Vor dem Frühstück pflegte er einen Waldspaziergang zu unternehmen. Hernach schrieb er einige Stunden oben in seiner Mansarde, hauptsächlich an den „Josephs“-Geschichten. Um die Mittagszeit folgte er der Familie an den Ostseestrand, wo er in einem Strandkorb weiterarbeitete. Nachmittags widmete er sich der Lektüre oder der Korrespondenz, in dem er gern Postkarten mit seinem Sommerhaus an Freunde verschickte.
Zu dieser Tageszeit erschienen auch Journalisten und Fotografen aus nah und fern, die für die Presse Neuigkeiten über Manns erfahren wollten. Der Abend gehörte der Musik. Ein Grammophon und Wagner-Schallplatten befanden sich griffbereit auf einer Kommode.
Unheil naht
Manns hielten sich im Sommer 1932 in ihrem Domizil auf. Thomas bekam ein Paket geschickt. Als er es öffnete, stieß er auf schwarze Asche und verkohltes Papier. Der Inhalt bestand aus einem verbrannten, gerade noch erkennbaren Exemplar seines Romans „Buddenbrooks“.
Ein Vorspiel zur Bücherverbrennung des Nazi-Regimes vom 10. Mai 1933. Bücher freiheitlich gesinnter Schriftsteller landeten auf Scheiterhaufen. Welch ein Kulturfrevel!
Dieser und andere Vorfälle führten bei Familie Mann zur Entfremdung von Nidden. Am 4. September 1932 bestieg er zum letzten Mal das Dampfschiff nach Cranz. Danach sah ihn das Kurische Haff nie wieder.
Ein erster Schritt der Manns in die Immigration!
Das Anwesen verwaiste. 1939 wurde es beschlagnahmt und gelangte als „Jagdhaus Elchwald“ in den Besitz des Reichsjägermeisters Hermann Göring. Bewohnt hatte er es jedoch nie. Dagegen hielt sich Hitlers Architekt Alfred Speer wiederholt dort auf.
Die Kultur- und Begegnungsstätte
1955 keimte der Plan, im Mannschen Haus eine Gedenkstätte zu errichten. Im Juli 1967 wurde das inzwischen restaurierte Gebäude für Besucher geöffnet und zwar als Filiale der Stadtbibliothek von Klaipeda.
Seit 1987 fanden sich vereinzelt auch westliche Besucher ein. Und es wurde ein erstes Thomas-Mann-Seminar abgehalten. Dem weitere folgten, als 1990 die Litauische Thomas-Mann-Gesellschaft gegründet wurde.
Die Kurische Nehrung war nun West-Touristen geöffnet und sorgte für breites Interesse an Nidden mit seinem berühmten Haus. Und seit Mai 1996 beherbergt das Anwesen zwei Institutionen: das Thomas-Mann-Museum und das Thomas-Mann-Kulturzentrum. Support leisten die Thomas-Mann-Gesellschaft mit diversen Stiftungen. Eine davon ist die Robert-Bosch-Stiftung.
Besinnung
Am letzten Tag meines Aufenthaltes verweilte ich noch einmal in den lichtdurchfluteten Räumen mit künstlerischen Exponaten, klassischer Musik und den vielen Bildern, Fotografien und Erinnerungsstücken der ehemaligen Eigentümer.
Noch ein letzter Blick auf „Onkel Tom’s Hütte“, das farbenfrohe, reetgedeckte Walmdach-Holzhaus mit den blauen Fensterrahmen, den verzierten Fensterläden, im First die gekreuzten Pferdeköpfe als Dachreiter.
Symbolisiert das nicht Weltoffenheit eines unabhängigen Litauen? Die Stätte soll nicht nur Kulturmuseum und Gedenkort sein. Nein, vielmehr ein Brückenkopf nach Westen. Ein Begegnungsort für das Verständnis europäischen Denkens, Sehens und Fühlens. Ich verlasse die Stätte großer Literatur mit den Worten Golo Manns:
„In unseren Zeiten kann man nicht zurück. Man wird, was man ehedem geliebt hat, nicht wiederfinden – weswegen man immer Neues suchen muss.“ – Sprach damit der Sohn dem Vater nicht aus Seele?