Neues vom wilden Analytiker

von Götz Egloff

Rezension zu Michael Giefer, Otto Jägersberg, Walter H. Krause (Hg.):
Wege zum Es. VAS – Verlag für akademische Schriften, Bad Homburg, 2010.

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Dieses Buch, das die Vorträge des Baden-Badener Georg-Groddeck-Symposions 2009 der
deutschen Georg-Groddeck-Gesellschaft anlässlich dessen 75. Todesjahrs versammelt, ist alles andere als eine trockene Vortragssammlung. Selten werden Psychotherapie und Psychosomatik so lebendig vermittelt wie in den Beiträgen dieser internationalen (und wirklich interdisziplinären) Denker und Praktiker (Damen wie Herren). Damit wird man dem Altmeister der „wilden Analyse“, dem Schöpfer des „Buch vom Es“ und all zu oft enfant terrible Geschimpften mehr als gerecht. Zu sperrig, zu kauzig, um im überrationalisierten Wissenschaftsdiskurs heute noch Erwähnung zu finden. Lässt man sich auf ihn ein, öffnen sich Welten. So oder so ähnlich muss Freud empfunden haben, der nur wenige Häretiker um sich ertragen konnte; Ferenczi und Groddeck waren persönlich und inhaltlich einfach zu originell, um sie loswerden zu wollen.
Von Lawrence Durrell in der Nachkriegszeit wiederentdeckt, gedeiht Groddeck weiterhin im Verborgenen; der Groddeck-Gesellschaft hingegen ist die kontinuierliche, wohleditierte Herausgabe seiner Schriften zu verdanken, die auch und gerade heutzutage anzuempfehlen ist.
Hier ein paar Schlaglichter auf einige Beiträge des Bandes: Nach Vorwort und Tagungsbegrüßung durch Michael Giefer und Otto Jägersberg zeigt Walter H. Krause die Verbindungen zwischen Groddeck und dem Leibdenker Nietzsche auf, beleuchtet den Begriff des Es, die Monismus-Frage und verortet Groddeck in Einheit von Theorie und Praxis. Wolfgang Martynkewicz bewegt Groddeck als Künstler, Propheten und Dilettanten, der Wissen für fraglich hält, skeptisch, polemisch und exzentrisch ist und sein will, mit Patienten beherzt doch stets respektvoll umgeht. Das „Werde der du bist“ ist bei Groddeck Ausdruck der Synthese von Kunst und Wissenschaft.
Galina Hristeva referiert über Groddecks denkwürdige Satiren; Marie L. Wünsche gibt Einblick in ihre struktur- und prozessorientierte Lektüre von Groddeck, ein poststrukturalistischer Perspektivenwechsel, der dessen Denkstil und Erzählstil beleuchtet, und auf Poetisierung als Pharmakon verweist. Einen Ausflug zu Karen Horney gönnt einem Helga E. Böhler, die auf wenigen Seiten eine ausgezeichnete Historiographie der Person Horney, von Zeit und von Ort vermittelt. Im klinischen Teil wird der Leser leichtfüßig, doch stets mit genug Tiefgang durch die psychosomatische innere Medizin geführt, sozusagen transversal von der Gynäkologie/Geburtshilfe zur Kardiologie und zur Proktologie (Jürgen Schulz, Jochen Jordan, Helmut Grosch). Überblicke über die groddecksche Psychosomatik in der Praxis und deren Nützlichkeit ein Jahrhundert später runden diesen Teil ab (Laszlo A. Ávila, Giancarlo Stòccoro) und führen dann nochmals zu den historischen Wurzeln.
Zum Verhältnis Ferenczi und Groddeck und deren Behandlungsansätzen folgt ein wiederum knapper, doch exzellenter Beitrag von Mark Poster, der manch folgenreiche Weichenstellung psychosomatischer Psychoanalyse darlegt. Amüsant der vorletzte, berührend der letzte Beitrag: Groddeck und der Struwwelpeter (Helmut Siefert), dann Beate Schuhs Aufzeichnungen zu Groddecks Tod.
Ein wirklich außergewöhnliches Buch, das Fachleuten viel zu geben hat und Laien einen kulturhistorischen Spaziergang sowohl durch das Dickicht als auch über die Lichtungen leibseelischen Denkens und Verstehens ermöglicht. Den deutschen Dichter der psychophysischen Gesundheit, wie Lawrence Durrell ihn nannte, durch diesen Band kennen zu lernen, macht geradezu Spaß.
Noch dazu zeigt dieses Buch vorbildlich, dass es möglich ist auf einem Minimum von Raum (198 Seiten) ein Maximum an Inhalt zu bieten – es kommt eben lediglich darauf an, wer schreibt und wer nicht.