Ungarische Puszta: Romantik und Wahrheit
Von Dr. László Kova
Von Debrecen kommend steigen die Touristen unter der Leitung der deutschsprachigen Reiseleiterin auf einen Hochsitz. Vor ihnen erstreckt sich die endlose und diesmal grüne Puszta bis zum fernen Horizont, über ihnen ruht der blaue Himmel wie eine Glocke aus feinem Glas. Man spricht nicht, man bewundert den Anblick. In der Ferne bewegt sich etwas. Mit Feldstechern entdeckt man eine Ménes (Pferdeherde), dann eine Gulya (Rinderherde), eine Juhnyáj (Schafherde) und noch weiter eine Konda (Schweineherde). Die herrlichen Tiere grasen ruhig auf den satten Wiesen. Es ist eine Szene wie in einem Film oder wie es vor gut tausend Jahren nach der Landnahme Pannoniens (Ungarn) hätte sein können. Es herrscht eine unfassbare Stille, nur die Vögel zwitschern, die mal in Scharen, mal einzeln über die Fremden hinwegziehen. Ihr Gesang klingt wie eine sorgfältig komponierte Musik, Musik der einzigartigen Natur im Naturschutzgebiet Hortobágy. Die Zeit ist hier fast stehen geblieben, bzw. tickt wesentlich langsamer als in den Städten. Gott sei Dank. Die Naturschutzorganisationen kümmern sich darum, dass diese Naturschönheit in möglichst unberührter Form für die nächsten Generationen erhalten bleibt. Es gibt viel zu tun. Philosophisch drückt es ein Aufruf aus, wonach man handeln soll: „Dieses Land haben wir nicht von den Vorfahren geerbt, sondern von unseren Enkeln ausgeliehen bekommen.“ Und das verpflichtet.
Wenn die Csikós (Tschikosch) ihre riesige Pferdeherde galoppieren lassen, dröhnt die Puszta wie ein Vulkan vor dem Ausbruch.
Fotoapparate und Kameras halten alles fest, damit der bunte Anblick nicht in Vergessenheit gerät. Schweben die Gefühle der Betrachter in der Puszta im Rausch der Romantik? Die Landnehmer ließen sich Ende des 9. Jhs. in der Tiefebene in Auenlandschaft nieder: Sumpfige Wassergebiete wechselten mit der Lößheide; Waldflecken mit undurchdringlichen Schilfdickichten. Das Leben soll damals hart, keines Falls romantisch gewesen sein. Die Mongolen unter der Führung von Batu Khan zerstörten 1241 die Siedlungen: Die schilfbedeckten Häuser zündeten sie an und töteten die Flüchtenden. 1526 kamen die Osmanen, die das selbe taten. Vor gut hundert Jahren folgte die Trockenlegung der Sumpfgebiete und die Regulierung der Flüsse, die den alten Rhythmus der Natur aus dem Lot brachte. Aber die abgehärteten Pusztabewohner fingen immer wieder an, die Landwirtschaft und die Viehzucht unter den neuen Gegebenheiten zu beleben.
Die Mangalica ist eine uralte ungarische Schweinerasse, liefert fettes Fleisch. Daraus wird die berühmte ungarische Pick Salami hergestellt. Das Fett besteht aus blutdrucksinkendem gesundem Cholesterin.
Die Schönheit der Puszta ist eigentlich das „große Nichts“. Dieses „große Nichts“ ist eben die faszinierende Schönheit. Das sind die grünen Wiesen, die ausgetrockneten Niederungen und Sümpfe, die weißen Flecken des alkalischen Bodens, die Stille, die Vielfalt der Vogelwelt, die Einzelgehöfte mit weiß gekalkten Häusern und die Puszta-Art des Lebens, in dem die aus der Natur mühsam gewonnenen Erfahrungen an die nächste Generation weitergegeben werden. Das ist vielleicht die Romantik in den Augen der Städter, darum strömen sie hierher. Oder ist es vielleicht doch keine pure Romantik, sondern eine Achtung vor der Wahrheit? Ähnliche Salzsteppen gibt es in Europa nirgendwo, abgesehen von den
geographisch weit entfernt liegenden südrussischen Steppen. Das ungewohnte Landschaftsbild, die einzigartige Flora und Fauna gelten für das europäische Auge als Kuriosum. Die Puszta beheimatet Vogelarten, die nur hier vorzufinden sind. Die Puszta ist darüber hinaus Sammel- und Futterplatz auf der eurasischen Route der Zugvögel von Norden nach Süden und von Süden nach Norden. In den Zeiten der Vogelwanderungen (u.a. Störche, Kraniche und Gänse) wimmelt es hier von Ornithologen, die ihre wissenschaftlichen Beobachtungen durchführen. Ein neu gegründetes Tierkrankenhaus hat eine umfangreiche tiermedizinische Aufgabe für die Pflege und Erhaltung der seltenen Fauna: Z.B. die erkrankten oder verletzten Tiere werden sorgfältig geheilt, operiert, ihnen werden Gelenkprothesen eingesetzt und sie werden durch aufwändige Trainingsmaßnahmen in die freie Natur zurückgeführt.
Die Szürkemarka (Graurinder) brachten die landnehmenden Ungarn mit sich in die Puszta. Diese großgewachsenen, stolzen, kraftvollen Tiere mit ihren langen, weit auseinanderstehenden Hörnern sind biologische Zeugen der Zeit, die für die Zucht das Ursprüngliche bis heute bewahrt haben. Sie überwintern im Freien.
Aus der flachen Landschaft erheben sich die Ziehbrunnen, die die Pferde, Rinder, Schafe und Schweine bei ganzjähriger Freilandhaltung mit Trinkwasser versorgen. Ob das Wasser gesund oder verschmutzt ist, stellen die Hirten nach einer uralten Erfahrung fest. Wenn im Brunnen Frösche leben, ist das Wasser für Mensch und Tier bedenkenlos gesund. Die Hirten tragen heute ebenso wie in den historischen Zeiten – nicht aus massentouristischen Gründen! – eine bunte Tracht mit hübschen Hüten, die auf die unterschiedlichen Hirtengruppen hinweisen. Übrigens herrscht unter den Hirten eine traditionsgeprägte strenge Rangordnung: Die höchste Achtung genießt der Csikós, der Pferdehirt, dann folgt der Gulyás (Rinderhirt), danach kommt der Juhász (Schäfer) und die schmutzigste Arbeit verrichtet der Kanász, der Sauhirt. Frauen werden in diese Zünfte nicht aufgenommen.
Ein jährliches Großspektakel ist der historische Brückenmarkt an der Neubogenbrücke am dritten Wochenende im August, wo die Pusztabewohner ihre originalen Produkte anbieten. Es gibt dann organisierte Pusztawanderungen mit Kutschen, Tierschauen und spannenden Vorführungen, in denen die Tschikós (Pferdehirte) ihre atemberaubende Reiterkunst zeigen, bei der Mensch und Tier eine unzertrennliche Einheit darstellen.
Diese faszinierende Landschaft, ihre Geschichte und das einzigartige Leben in der Puszta waren und sind Thema der Dichter (Sándor Petőfi), Schriftsteller (Gyula Illyés) und Kunstmaler (Tivadar Kosztka Csontváry). Für Musikforscher ist die Puszta eine authentische Fundgrube von uralten Volksliedern.
Romantisch ist es, nach einer Tageswanderung abends in der Csárda, in der Hirtentagesstätte in Hortobágy an der Neunbogenbrücke, den Zigeunern zu lauschen. Sie sind echte Meister ihrer Instrumente und können die Liederwünsche aller Gäste von Volksliedern über Operetten hinaus bis hin zu „Doktor Schiwago“ ohne Notenblatt auf Anhieb erfüllen. Niemand kann dem duftenden (Aperitif) Pálinka widerstehen. Danach schmeckt bei diesem volkstümlichen Ambiente die Gulaschsuppe, die im Bogrács (im silbernen Kochkessel) aufgetischt wird, unvergesslich gut.
Puszta. Es gibt vielleicht keinen in Europa, der dieses Wort nicht mit dem Land der Magyaren verbindet. Dieses ungarische Wort hat eine gewisse melancholische Melodie, drückt aber auch die Liebe zu dieser Landschaft aus, es ist ein Sinnbild für Kampf, Neubeginn, Überleben und für das ewige Bewahren der nationalhistorischen Werte.
Anreise: Flug von Berlin bis Budapest weiter mit Zug oder Linienbus, Direktflug von Dresden bis Debrecen, weiter in die Puszta mit Linienbus. Unterkunft: in Debrecen Hotel Aranybika, Hotel Lycium, in der Puszta in Hotel Hortobágy Club. Info: Ungarisches Tourismusamt Berlin, Tel. und Fax: 030 24 31 46 13,