Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 2/11 des Magazins „Sehnsucht Deutschland“
Von Uta Buhr
Wer heute von Stuttgart spricht, versteht nur noch Bahnhof! Stuttgart 21 ist in aller Munde. Der Bauzaun rund um den Bahnhof gleicht einer Klagemauer. Eine kunterbunte Sammlung von lässig angepinnten Zetteln, teilweise sehr drastischen Inhalts, künden vom Unmut der Bürger, den Schienenverkehr unter die Erde zu verlegen und dafür unter anderem Teile eines großen Parks zu opfern.
„Das ist nur die Kurzform. Es gibt noch viele andere Gründe für die Volkserhebung“, erklärt mein Taxichauffeur in unverkennbarem Schwäbisch, als er mich durch die Stadt kutschiert. Seine Empfehlung an mich lautet allerdings, die Baustelle einfach links liegen zu lassen und das wirklich sehenswerte „Stuagaa“ auf mich wirken zu lassen. Stolz klingt mit, als er erzählt, die Stadt habe es vom einstigen Weinort zu Deutschlands Autostadt Nummer eins gebracht. Vor einhundertfünfzig Jahren lebte nämlich noch jeder zweite Einwohner vom Weinanbau. „Und das wissen bestimmt nicht viele Menschen bei Ihnen im Norden“, schließt der Mann und liefert mich vor den Toren des Weingutes Stuttgart am Kurpark ab. Was gibt es Besseres als eine Stadtbesichtigung mit einem guten Tropfen zu beginnen. Wohl gemerkt, aus eigenem Anbau. Denn rund um das in einem Kessel gelegene Stuttgart erheben sich grüne Weinberge. In dem milden Klima des Neckartals gedeiht eine Reihe edler Gewächse, darunter Trollinger, Lemberger, Riesling, Weiß- und Grauburgunder. Die Stadt verfügt über eine Rebfläche von –höre und staune – 423 Hektar. „Das sind mehr als 2% der gesamten Stadtfläche“, erläutert Weinexperte Bernhard Nanz, während er mir einen spritzigen Riesling einschenkt, dem er einen samtigen Saint Laurent folgen lässt. Meinen ersten Tag in Stuttgart lasse ich in dem behaglichen Ambiente des angesagten Arcotel Camino ausklingen.
Die Schwaben sind bescheidene Leute. Und das gilt ganz besonders für die Stuttgarter. Gern machen sie den Fremden mit den kleinen Anfängen ihrer „Groß- und Genussstadt zwischen Wald und Reben“ vertraut. Um 950 nach unserer Zeitrechnung soll Herzog Liudolf von Schwaben hier ein Gestüt – den Stuotgarten – gegründet haben. Aha, daher also der heutige Name. Aber vor den schwäbischen Adligen waren schon die Römer hier, denen das milde Klima des Neckartals sicher sehr gelegen kam. Neben dem Rebensaft gab es Thermalwasser. Und Bäder gehörten nun einmal zum römischen „way of life.“ Auch heute aalt man sich noch gern in den warmen Quellen, die hier üppig aus dem Boden sprudeln. Sehr zu empfehlen ist daher eine Verschnaufpause im MineralBad Cannstatt. Der Badetempel unter einem eleganten Glasdach hat inzwischen Kultstatus erlangt. Zum Kreis der „Bergianer“ gehört, wer regelmäßig das nostalgische Mineral-Bad Berg ganz in der Nähe besucht, das sich trotz aller Modernisierungen seinen unwiderstehlichen Charme bewahrt hat. „Das Allerbeschte bei uns isch“, sagt meine Nachbarin im Schwimmbecken, „ dass wir durch die hohe Schüttungsmenge unserer Quellen unser Wasser nicht aufbereiten müssen. Und auch Chlor isch völlig überflüssig.“
Während des Zweiten Weltkrieges ereilte Stuttgart das gleiche Schicksal wie viele andere deutsche Städte. Weite Teile der Altstadt wurden total zerbombt. Alteingesessene Stuttgarter erinnern sich noch mit Grauen an den Feuersturm vom 12. September 1944, „als die Welt unterging“, wie eine freundliche weißhaarige Dame mir erzählt. Der Wiederaufbau nach Kriegsende folgte – wie anderswo auch – eher praktischen als ästhetischen Kriterien. Wer durch die Stadt bummelt, wird dennoch eine Harmonie zwischen alter und moderner Bauweise feststellen. Eine wahre Augenweide ist der monumentale Schlossplatz im Zentrum der Stadt. Er zählt zu den schönsten Barockgärten Europas. Einst herzoglicher Lustgarten, diente er ab Mitte des 18. Jahrhunderts als Exerzier- und Paradeplatz. Die barocke Gartenanlage entstand erst um 1850 und durfte von den Stuttgarter Bürgern als Flaniermeile genutzt werden.
Beim Entwurf des Neuen Schlosses stand wie bei vielen deutschen Potentaten das Château de Versailles Pate. Carl Eugen von Württemberg gab den Bau zwar bereits 1764 in Auftrag. Doch die Vollendung des Schlosses ließ noch lange auf sich warten. Heute ist es Sitz einiger Ministerien der Landesregierung. Die Bebauung rund um den Platz nimmt sich aus wie ein Architekturwettbewerb. Die eleganten, im klassizistischen Stil erbauten Königsbau-Passagen, die barocke Fassade des Schlosses sowie der prächtige Brunnen und der orientalisch anmutende gusseiserne Musikpavillon verschmelzen zu einer einzigartigen Synthese. Es gehörte schon einiger Mut dazu, dieses prächtige Ensemble durch das 2005 erbaute Kunstmuseum auf dem Kleinen Schlossplatz gleich nebenan zu erweitern. Der von zahlreichen Stuttgartern ungeliebte gläserne Kubus bildet jedoch einen reizvollen Kontrapunkt zu dem traditionellen Konzept.
Die schönen Künste und genüssliches Flanieren liegen in der Neckar-Metropole nur einen Atemzug voneinander entfernt. Ein Schlenker, und wir befinden uns auf der Königsstraße. In dieser 1,2 Kilometer langen Fußgängerzone schlägt das mondäne Herz der Stadt. Hier reiht sich eine schicke Boutique an die nächste, lädt ein Café, eine betörend nach süßen Leckereien duftende Konditorei zum Verweilen ein. Ein Tipp für Schleckermäulchen: Biegen Sie vom Schillerplatz kommend in die Dorotheenstraße ein und delektieren Sie sich nicht nur an den Auslagen der Confiserie Selbach. Hier wird die hohe Kunst der „Chocolaterie“ zelebriert. Vergessen Sie Ihren Diätplan und lassen Sie sich verwöhnen. Überflüssige Pfunde werden Sie lässig während der Begehung verschiedener Stadtteile wieder los, die bergauf, bergab und treppauf, treppab zu mancherlei Sehenswürdigkeiten führt. Nächste Station auf unserem Rundgang ist die im Jugendstil erbaute Markthalle. Unter der gläsernen Kuppel dieses eleganten Bauwerks aus Stahlbeton wähnt man sich in südliche Breiten versetzt. Mediterran ist auch das Angebot an Obst und Gemüse. Dazwischen blitzblanke Stände mit typisch schwäbischen Spezialitäten wie hausgemachten Spätzle, Maultaschen und natürlich Wein aus den umliegenden Reblagen. Auch hier droht wieder Gefahr für die Linie. Denn wer lässt sich nicht von einer charmanten Marktfrau zum „Koschten“ dieses oder jenes „Sößle“ verführen!
In das Bohnenviertel, einen von im klassizistischen und historistischen Stil erbauten Häusern geprägten Stadtteil, verliebt sich jeder Tourist auf Anhieb. Hier leben in erster Linie junge Familien und Studenten. Hinter Torbögen verbergen sich Innenhöfe mit Cafés und originellen Läden. Eine Fundgrube für jene, die stets auf der Suche nach dem Besonderen sind. Den Namen verdankt das Viertel übrigens den Handwerkern und Winzern, die sich im 15. Jahrhundert hier ansiedelten und ihren kleinen Vorgärten Bohnen anpflanzten. Ein reizvoller Gegenentwurf zum nostalgischen Bohnenviertel bildet die Weißenhofsiedlung hoch über den Dächern Stuttgarts. Dieses Paradebeispiel des „Bauhauses“ wurde 1927 von führenden Mitgliedern des Neuen Bauens unter der Leitung des weltberühmten Architekten Ludwig Mies van der Rohe errichtet. In nur einundzwanzig Wochen entstanden einundzwanzig Häuser mit insgesamt dreiundsechzig Wohnungen. Ein Leckerbissen für alle, die an moderner humaner Architektur ihre Freude haben. Die Palette reicht von einem Doppelhaus des Schweizers Le Corbusier über ein schlichtes Reihenhaus bis hin zu mehrgeschossigen Bauten mit breiten Fenstern mitten im Grünen. Es war das Anliegen dieser genialen Baumeister, die Städter vom Mief stickiger Unterkünfte zu befreien und sie in gesunden, Licht durchfluteten Räumen unterzubringen. Natürlich fanden die Nationalsozialisten wenig Gefallen an dieser modernen, zukunftweisenden Architektur. Ein Glück für die Nachwelt, dass das Kriegsende den Abriss der Siedlung verhinderte.
Nun aber auf zum Fernsehturm, dem Wahrzeichen Stuttgarts! Bereits 1956 erbaut, gilt er als die Mutter aller Fernsehtürme in Deutschland. Aus der Vogelperspektive des 217 Meter hohen Turmes genießt man den schönsten Blick auf Stuttgart. Unter uns breiten sich die grünen Rebflächen aus, schrumpfen Kirchtürme zu kurzen Stümpfen, glitzert in weiter Ferne das silberne Band des Neckars. Umwerfend!
Nun heißt es Treppen – pardon – „Stäffele“ steigen. Da kann einem schon mal die Luft ausgehen. Doch auch da ist für Abhilfe gesorgt. Denn eine Zahnradbahn, im Volksmund „Zacketse“, nimmt die Höhenunterschiede mühelos und liefert hungrige Gäste direkt vor der Tür des ersten Kochs von Stuttgart ab. Das mit einem Michelinstern geadelte Restaurant Wielandshöhe des Maître de Cuisine Vincent Klink ist eine Offenbarung für Feinschmecker. Wo haben wir je einen so leckeren Rehrücken genossen, der buchstäblich auf der Zunge zergeht. Der joviale Chef macht stets seine Runde durch das elegant minimalistisch gestylte Restaurant und schenkt jedem Gast seine Aufmerksamkeit. Doch es geht auch eine Nummer kleiner. In Stuttgart gibt es viele Gaststätten und Weinstuben, die schwäbische Hausmannskost vom Feinsten auf die blank gescheuerten Tische bringen. Vergnüglich ist ein Abend in der Weinstube am Schellenturm mitten im historischen Bohnenviertel. Der Schellenturm wurde 1564 als Teil der Stadtmauer erbaut. Hier waren weiland Verbrecher untergebracht. Der Name des Turms geht auf die Fußfesseln zurück, welche die Delinquenten bei ihrer Arbeit im Freien tragen mussten. Die holzgetäfelte Weinstube ist urgemütlich, das Essen vorzüglich und der im Henkelglas kredenzte Wein frisch und spritzig. Als weiteres Highlight gilt der Stuttgarter Schlachthof im Stadtteil Cannstatt. Hierher gelangt man sehr bequem mit den öffentlichen Verkehrsmitteln wie zu allen übrigen Destinationen. Neben einer leckeren rustikalen Küche bietet das Haus den „größten Sauhaufen der Welt“ – in zivilem Deutsch das „Schweinemuseum“ genannt. Hier geht es rund um das Schwein als das dem Menschen ähnlichste Tier in allen Lebenslagen, unterlegt mit gängigen Sprüchen und Wortschöpfungen wie Schweinehund, Sauwetter, Schwein gehabt usw. Durch die Ausstellung führt allwissend bezüglich all der Schweinereien ein charmanter junger Mann namens Holger Siegle.
Stuttgart deine Museen. Sie sind an Vielfalt kaum zu übertreffen: Weinbaumuseum, Bauhaus-Freilichtmuseum in luftiger Höhe, Schweinestall im Museum! Bleiben nur noch die beiden weltweit einzigartigen Kultstätten des Automobils – Porsche und Mercedes-Benz. Dies vorweg: Wer bislang kein Autofan war, wird es hier mit absoluter Sicherheit! Das Porsche Imperium residiert in Stuttgart-Zuffenhausen rund um den Porsche-Platz. Allein der gigantische postmoderne Museumsbau – im Volksmund „die schönste Garage Stuttgarts“ – würde eine Fahrt lohnen. Im Inneren stellt sich die Nobelschmiede mit ihren rund achtzig Modellen vor. Schon die ersten Sportwagen des genialen Autokonstrukteurs Ferdinand Porsche suchen an Eleganz und Schnittigkeit ihresgleichen. Völlig anders, aber nicht minder eindrucksvoll präsentiert sich Mercedes-Benz in Untertürkheim. Auch hier eine imposante Architektur aus Stahl und Glas, die den Besucher schon in die Magie der Marke mit dem berühmten Stern einführt. Am Eingang treffe ich Anselm Vogt-Moykopf, einen sehr gebildeten Stadtführer, der mich auf meinem Rundgang durch die plastisch mit Bildern,
Fotos, Schautafeln und nie zuvor gesehenen Modellen ausgestatteten Hallen begleitet. Hier wird die Geschichte des Automobils lebendig. Der „Kraftwagen“ wurde in dieser Region erfunden. Drei klugen schwäbischen Köpfen – Carl Benz, Gottfried Daimler und Wilhelm Maybach – verdankt die Welt den für uns Heutige unentbehrlichen fahrbaren Untersatz. Diese epochale Erfindung feiert dieses Jahr ihren 125. Geburtstag! Herzlichen Glückwunsch. Auf der riesigen Ausstellungsfläche des Museums tritt der Besucher eine spannende Zeitreise durch die Welt der Mobilität an. Eine große Zahl von Fahrzeugen ist zu bestaunen – vom ersten Automobil weltweit über die berühmten Silberpfeile bis zu den mit modernster Technologie ausgestatteten Produkten von heute. Den krönenden Abschluss bildet eine halsbrecherische Fahrt im Simulator über die berühmtesten Rennstrecken der Welt. Ein tolles Erlebnis – allerdings nur für Menschen mit stabilem Magen.
Das wäre also in aller Kürze die Einführung in eine der interessantesten und freundlichsten Städte Deutschlands. Und wer jetzt bei Stuttgart immer noch Bahnhof versteht, hat selber Schuld. Ja, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen!