Von Maren Schönfeld
An einem Tag im Mai passierte, was Bärbel M. (63) ihrer sterbenskranken und alten Mutter um jeden Preis ersparen wollte. Nach dem fünften Schlaganfall, Selma B. (90) hatte aufgehört zu atmen, wurde die alte Dame wiederbelebt. Gegen ihren Willen und gegen ihre ausdrückliche schriftliche Verfügung.
2009 erklärte die Bundesregierung die Patientenverfügung für verbindlich. Wer sie missachtet, macht sich der Körperverletzung strafbar. Weil Bärbel M. und ihre Mutter das wussten, beschritten sie anderthalb Jahre zuvor einen Weg, der Menschen empfohlen wird, die sich um ihre letzte Lebensphase Gedanken machen. Selma B. unterzeichnete eine Patientenverfügung, in der sie bestimmte, dass man ihr keine Magensonde legen dürfe. Das Papier enthielt auch die Anweisung, ohne Aussicht auf Genesung nicht zur Lebensverlängerung an Apparate angeschlossen zu werden. Wenn sie nicht mehr allein atmen konnte, wollte sie sterben. Sie bestimmte ihre Tochter Bärbel M. zur Vorsorgebevollmächtigten; diese sollte dafür sorgen, dass die Verfügung im Ernstfall beachtet wird. Nach Gegenzeichnung durch den Hausarzt ließ Bärbel M. die Dokumente bei der Bundesnotarkammer hinterlegen und informierte das Pflegeheim, wo Selma B. seit ihrem ersten Schlaganfall lebte. Sie reichte Kopien zur Akte, mit dem guten Gefühl, nun alles geregelt zu haben. Doch es sollte sich zeigen, dass die Theorie von der Realität weit entfernt ist.
Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen sind im Trend, 2013 haben mehr Menschen sie unterschrieben und der Bundesnotarkammer in Verwahrung gegeben als je zuvor. Sie verlassen sich darauf, dass ihre Vertrauensperson im Ernstfall die besprochenenen Entscheidungen treffen und durchsetzen wird. Aber was, wenn niemand diese Vertrauensperson fragt?
Vorgesehen ist, dass ein Mediziner erst Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht einsieht und dann entscheidet, welche Maßnahmen zu treffen sind. Vorgesehen ist auch, dass der Mediziner mit der bevollmächtigten Person Kontakt aufnimmt und die Maßnahmen abspricht. Bärbel M. aber wurde erst hinzugezogen, als ihre Mutter bereits in der Uniklinik lag. Da war schon alles vorbei. Als Selma B. beim Frühstück zusammenbrach, rief die Pflegerin den Rettungsdienst, der kam und tat, wozu er verpflichtet ist: Er rettete der Patientin das Leben. Denn die Pflegerin hatte dem Arzt die Patientenverfügung nicht gezeigt. Der Rettungswagen brachte die Seniorin in die Klinik, wo auch niemand von den Dokumenten wusste. Als Bärbel M. im Krankenhaus ankam, sagte der Chefarzt: „Wir mussten Ihrer Mutter ein Gegenmittel verabreichen wegen der Medikamente, die sie zurückgeholt haben. Wenn sie entgiftet hat, werden wir sehen, ob sie allein atmet.“ Er fragte auch nach der Patientenverfügung, die Bärbel M. schließlich selbst ins Krankenhaus brachte, weil das Pflegeheim sie nicht finden konnte. Ob es Zufall, Kopflosigkeit oder gar gezieltes Verschweigen der Verfügung aus Gründen der lukrativen Bettenbelegung war, weiß Bärbel M. bis heute nicht.
Selma B. sorgte vor wie über zwei Millionen Menschen in Deutschland. Sie haben alles richtig gemacht und doch läuft so viel schief. Das beginnt schon bei den Formulierungen: Je allgemeiner sie gefasst sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie berücksichtigt werden können. Denn was bedeutet die oft gewählte Ablehnung von „lebensverlängernden Maßnahmen“ im Fall eines Verkehrsunfalls, wenn der Patient vorübergehend künstlich ernährt werden muss? Der behandelnde Arzt muss in so einem Fall davon ausgehen, dass die Ernährung selbstverständlich gewollt ist – und die Verfügung missachten. Auf der anderen Seite häufen sich die Anzeigen wegen Körperverletzung gegen Ärzte, die Verfügungen zuwiderhandeln. Immer wieder verlangen die Anweisungen beispielsweise, dass die künstliche Ernährung im Falle des Komas einzustellen ist. In der Praxis bedeutet das womöglich, den Patienten verhungern zu lassen. Das zeigt nicht nur Grenzen auf, an die Mediziner durch die Verfügungen kommen, sondern auch die Begrenzung der Möglichkeit für Laien, überhaupt einen Ernstfall annehmen und im Vorwege für diesen entscheiden zu können.
Selma B. entgiftete und atmete selbstständig. Damit begann ein sechsmonatiger Leidensweg, der ziemlich genau ihrem größten Albtraum entsprach. Die alte Frau konnte weder gehen noch sprechen, nicht lesen, kaum noch hören, nicht allein essen. Sie war verwirrt und bettlägerig und jeder, der in ihr Zimmer kam, wünschte ihr nur, sie möge bald sterben können. Vor allem ihre Tochter wünschte es, die Vorsorgebevollmächtigte, die keine Gelegenheit bekommen hatte, zu entscheiden.
Wir glauben, dass sich alles regeln lässt, wenn wir nur ein Formular erfinden und bei einer Behörde hinterlegen. Die Praxis zeigt, wie trügerisch diese Sicherheit ist. Natürlich ist es sinnvoll, vorzusorgen. Es ist angebracht, Skepsis zu haben. Aber es ist genauso angebracht, Vertrauen zu haben. Bärbel M. hat in der Uniklinik Ärzte erlebt, die ganz ohne irgendwelche Verfügungen verantwortungsvoll und nach gesundem Menschenverstand mit ihrer Mutter umgingen. Und sie hat im Heim empathische Pflegekräfte erlebt, die ihre Mutter hingebungsvoll pflegten und doch im entscheidenden Moment versagten. Die Dokumente lagen in irgendwelchen Akten, als Selma M. nach vier Minuten Atemstillstand zurückgeholt wurde in ein Leben, das sie auf dem Papier ausgeschlossen hatte.