Von Hans-Peter Kurr
Premiere im Ohnsorg Theater Hamburg
Das ist tollkühn: Eugene O’Neills Psychodrama „Ein Mond für die Beladenen“ op platt im Ohnsorg zu zeigen, dieses monströs sperrige Stück, das wir Deutsche, wie viele andere Werke aus der amerikanischen Dramaturgie der Neuzeit, bis 1948 nicht kannten, weil die Naziherrscher den Blick in die internationale Schriftstellerszene so konsequent unterbunden hatten. So wie wir bis dahin ja auch keinen Thornton Wilder, keinen Anouilh, keinen Beckett, keinen Tennessee Williams, keinen Arthur Miller, Ionesco oder Arrabal kennenlernen durften.
O’Neill aber ist ein besonderer Fall: Er erspart einem nichts, er tritt das schriftstellerische Erbe von Ibsen und Strindberg an, ein trübes, von Lebenskenntnis, Resignation und Ressentiments unerbittlich gezeichnetes, bitteres Grau in Grau lastet hart auf der Szene. Und dies über Stunden ausschließlich dialoggeprägter Szenen, deren längste wohl die inzwischen weltberühmte Liebesszene des dritten Aktes zwischen Josie Hogan und James Tyrone ist, in der die zwei „geworfenen“ (wie Sartre sagen würde) Menschenkinder einen Hauch von Agape, der gottgewollten Liebe verspüren dürfen, bevor sie wieder in die Agonie ihres individuellen Alltags zurückfallen. Für Inszenatoren und Schauspieler ein gleichermaßen schweres Unterfangen. Im Ohnsorg ging’s, dank der klugen Regie des Walisers Michael Bogdanov und der schier unfasslichen Konzentration und hohen Qualität der drei Hauptdarsteller – an der Spitze der inzwischen fast achtzigjährige Uwe Friedrichsen – genialisch-bewundernswert auf.
Die Menschen heißen hier anders, auf der Bühne in Hamburgs Bahnhofsviertel. Das Dorf irgendwo in der Welt, das dem Autor vorschwebte, liegt diesmal irgendwo in der Nähe, von der Reeperbahn ist die Rede. Sandra Kecks ungemein dichte Verkörperung heißt hier Johanna, Oskar Ketelhuts James wird zu Jacob, Friedrichsens knorrige, versoffene Vaterfigur nennt sich Philipp Hohmann.
Sie spielen die Geschichte des Verfalls, über deren schicksalhaft beladenen Menschen der Septembermond täuschen milde leuchtet, bis der neue Tag anbricht, an dem das Leben bleibt, was es zuvor bereits war: ein trübes Gemisch aus Lüge, Verschlagenheit, Schmutz, Arbeit, Sehnsucht und Angst, ein naturalistisches (in einem solchen Bühnenbild Katrin Reimers’!) Melodram, das O’Neill in aller psychologischen Ausführlichkeit konsequent zu Ende führt: Der Säufer wird nach einer scheinbaren Liebesnacht im Mondenlicht wieder in den Suff versinken, die Farmerstochter fällt zurück in die Welt, die sie abzustreifen hoffte, der Vater und Farmer, ein dumpf dahin vegetierendes Stück Menschenfleisch, verlogen dazu, bleibt, der er war. Auch die Welt ist am Ende des dreistündigen Horrors wieder wie sie war – wenn nicht sogar ärmer als zuvor.
An sich ist dies ein Dreipersonen-Stück. Dennoch sollen die zwei Episodenrollen, die die Handlung am Anfang verstehbarer machen, nicht unerwähnt bleiben: Ein jüngerer Bruder, porträtiert durch Jan Frederik Seeler, und der reitende Antiheld Harder, den Erkki Hopf spielt.
Regisseur Bogdanov zeigt eine ehrfürchtige, werkgetreue und taktvolle Arbeit, Sandra Kecks verdorbene Madonna ist von kraftvoller Herbheit, Oskar Ketelhut hält seine torkelnde, immer wieder delirierende und psychisch stark gefährdete Figur ohne Peinlichkeit in der Waage. O’Neill zeigt so viel geniale Nervosität und Bogdanov enthüllt so sehr offenkundige Widersprüche zu Realität, dass das Stück – platt hin, platt her – niemals vom Seil rutscht.
Foto: Jutta Schwöbel