Hauptstadtflair und »Weiße Nächte«

erschienen in der Preupischen Allgemeinen Zeitung

Von Manuela Rosenthal-Kappi

St. Petersburg profitiert von der Anziehungskraft der Zarenschlösser auf Touristen − Moskau ist eine mondäne Weltstadt

Die ehemalige Zarenstadt von ihrer schönsten Seite, wie Millionen Touristen sie sehen: Fontänenkaskaden von Peterhof

Moskau und St. Petersburg, die beiden Hauptstädte Russlands, könnten gegensätzlicher nicht sein. Seit der „Wende“ haben beide Metropolen ihr Antlitz stark verändert. Ein Blick hinter die Kulissen der Tourismus-Zauberwelt zeigt jedoch, dass das Leben im einstigen Sowjetreich trotz des neu erreichten Wohlstands immer noch eine tägliche Herausforderung ist und Widersprüchliches zutage bringt.

Moskau ist ein großes Dorf und St. Petersburg die eigentliche Hauptstadt Russlands. Diese lange geltende Einschätzung hält einer Betrachtung der heutigen Metropolen nicht mehr stand: Während St. Petersburg mehr denn je von der Pracht der Zarenschlösser und der jahrhundertealten Stadtarchitektur profitiert, hat die Hauptstadt, in der offiziell zwölf Millionen Menschen leben, ein mondänes Erscheinungbild. Die Gegensätze zeigen sich schon nach der Landung: Die achtspurigen Zufahrtsstraßen zu Moskaus modernisierten Flughafen Scheremetjewo befinden sich teilweise noch im Bau. Doch schon kurz nach dem Einbiegen auf die Einfallstraße staut sich der Verkehr in beiden Richtungen. „So ist es jeden Tag“, schimpft Fahrer Igor, „die Leute stehen morgens drei Stunden im Stau und abends wieder. Die Regierung tut nichts dagegen. Zur Sowjetzeit gab es Firmen, die etwas produziert haben, außerhalb des Zentrums und die Menschen kamen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit. Heute wird in Moskau nichts mehr produziert. Es gibt nur noch Dienstleister und die sitzen alle im Zentrum. Die Moskauer haben das Leben satt. Kein Wunder, dass immer mehr auf die Straße gehen.“ Und er erzählt weiter, dass sich viel mehr trauen würden, wenn da nicht der Druck wäre, Putin zu unterstüzten, Auch seiner Frau sei mit Kündigung gedroht worden, wenn sie nicht an der Pro-Putin-Demonstration teilnehme. Die Korruption treibt seltsame Blüten. Ein Krankenwagen mit Sirene zwängt sich durch die Blechlawine. Ein Unfall ist also Ursache für den Stau? Nein, nein, das ist nur eine Methode, den Stau zu umgehen. Beamte mieten sich kurzerhand einen Rettungswagen, an den sie sich anhängen können. Wie zum Beweis folgen während der zweistündigen Autofahrt weitere Krankenwagen, die von einer Kolonne schwarzer Dienstlimousinen verfolgt werden.

Vorbei an riesigen Einkaufstempeln geht es, Metro, Ikea, Media-Markt und andere Großmärkte haben sich hier niedergelassen, überdimensionierte elektronische Tafeln werben für Luxus jeder Art. Im Moskauer Zentrum pulsiert das Leben. Während die Einfallstraßen verstopft sind, entstehen in den Nebenstraßen, dort wo besser gestellte Moskowiter zu Hause sind, gepflegte Ruheoasen. Selbst die Altbauten im Zentrum und deren Hinterhöfe sind im Gegensatz zu denen St. Petersburgs in gepflegtem Zustand. Der Wohlstands-Fassade steht ein hektisches Alltagsleben gegen-über. Acht bis zehn Stunden dauert ein Arbeitstag, dazu die Zeit im Stau, da bleibt kaum noch Raum für das Privatleben oder gar politisches Engagement.

Eine von Selbstironie getragene Gleichgültigkeit ähnlich wie damals in der DDR breitet sich aus. Was sie von Putins Rückkehr hält? Die befragte Nina, die 1991 noch mutig den Panzern des fehlgeschlagenen Militärputsches entgegengetreten war, sagt: „Putin? Unser Imperator? Was soll ich dazu sagen? Es war doch alles schon vorher abgesprochen.“ Iwan, ein ehemaliger Diplomat und Geschäftsmann, und seine Frau Marina haben auf ihr 40 Kilometer außerhalb von Moskau liegendes Landhaus eingeladen. Iwan trägt ein T-Shirt mit Putins Konterfei und der Aufschrift „Wolodja, wir stehen zu dir, wenn alle gegen dich sind.“ Ein treuer Putin-Anhänger? Weit gefehlt. „Beachten Sie das Hemd nicht. Das ist nur Tarnung. Meine Frau und ich haben Prochorow gewählt. Mein Sohn ist Unternehmer in Sotschi, baut dort die Infrastruktur für die olmypischen Spiele. Er ist persönlich mit Putin bekannt.“ Was für ein Mensch ist dieser Wladimir Putin? „Ich würde sagen, ein sehr schlechter. Er ist der Korrupteste von allen und der Reichste dazu“, sagt Iwan. Allerdings habe es ja keine Alternative gegeben und korrupt seien schließlich alle Politiker mehr oder weniger.

Eine Vorstellung davon, wie schwierig es ist, ein so weites Land wie Rusland zu regieren, bekommt man bei einer Bahnfahrt von Moskau nach St. Petersburg. Der von Siemens gebaute Hochgeschwindigkeitszug „Sapsan“ verbindet die beiden Städte miteinander. Der Service im Zug ist vorbildlich, das Personal zuvorkommend und aufmerksam. Neben Presseerzeugnissen verteilen sie Puschen und Schlafmasken, nach etwa einer halben Stunde Fahrt wird das Drei-Gänge-Menue serviert. Vorbei fliegen weite Sumpflandschaften, malerisch schöne Flussläufe und nur vereinzelte Siedlungen mit den typischen bunt angemalten russischen Holzhäusern. Weit und breit sind keine Industrieanlagen oder Landwirtschaftsflächen zu se-hen. Es ist wie eine Reise in die Vergangenheit.


St. Petersburger Eindrücke während der „Weißen Nächte“, wie sie kein Reiseführer und kein Glanzprospekt der Touristikunternehmen vermittelt: Der laut Werbung „malerische Blick über die Dächer der Stadt“ aus einem Hotelfenster

Die Gegenwart holt einen spätestens auf dem Moskauer Bahnhof in St. Petersburg wieder ein. Schon bei der Einfahrt in den Bahnhof zeigen sich rückwärtige Fassaden, von denen der Putz abbröckelt. Auf dem naheliegenden Newskij Prospekt brodelt das Leben. Die Fassaden der schmucken Stadthäuser wurden restauriert und erstrahlen wieder in vollem Glanz. Vorbei an der barocken Wladimir-Kathedrale über den Sagorodnyj Prospekt zeigt sich bereits ein anderes Bild. Vereinzelt wird an Fassaden gearbeitet, einige wurden repariert, aber von den meisten bröckelt weiterhin der Putz, brechen Ornamentstücke ab. Über ausgetretenen Fußgängerwegen hängen Balkons, aus deren Böden bedrohlich rostige Eisenträger herausragen. Ein Blick in die Hinterhöfe verheißt nichts Gutes: Die über 200 Jahre alten Häuser sind vom Verfall bedroht. Es scheint, als sei hier die Zeit stehengeblieben. Unweigerlich fühlt man sich in die graue Wirklichkeit des Kommunismus zurückversetzt. Hat die für ihre Schönheit gerühmte Stadt St. Petersburg etwa vom allgemeinen Wohlstand nichts abbekommen?

Dass sie dies doch hat, ist am vorbildlichen Zustand der Zarenschlösser, der Kirchen und des berühmten Newskij Prospekts zu sehen. Kurz, alle Orte, die von Touristen frequentiert werden, wurden wieder hergerichtet. Das Stadtbild ist bunter und lebendiger geworden, Straßenmusikanten, Maler, Bootsfahrten auf den Kanälen und Menschen in historischen Kostümen, die sich gegen Bezahlung fotografieren lassen, prägen es mit. Eine bunte Vielfalt, die Leichtigkeit versprüht.

St. Petersburger Eindrücke während der „Weißen Nächte“, wie sie kein Reiseführer und kein Glanzprospekt der Touristikunternehmen vermittelt: Eine heruntergekommene Ladenzeile unweit des legendären „Newskij-Prospekts“ in dem Gebäude des ehemaligen Kolchosmarktes

Der Tourismus ist der Hauptwirtschaftsmotor für St. Petersburg. Die Stadt profitiert von einem Ausbau der Flugverbindungen und vom Wochenendtourismus durch Kreuzfahrten. Auf der Wassilij-Insel wurde neben neuen modernen Wohnhäusern mit Pent-House-Wohnungen und verglasten Dachterrassen mit Blick auf die Ostsee ein Terminal für Kreuzfahrtschiffe gebaut.

Kein Wunder, dass zuerst dort investiert wird, wo sich Geld verdienen lässt. St. Petersburg hat die Anziehungskraft der Zarendynastie der Romanows für sich entdeckt. Auf dem Newskij Prospekt bietet „Lentours“ täglich mehrere Exkursionen für Kurzentschlossene zu den Schlössern außerhalb der Stadt an: Die beliebtesten Ausflugsziele sind der Katharinenpalast in Zarskoje Selo, in dem sich das Bernsteinzimmer befindet, und der direkt an der Ostsee gelegene Palast Peterhof, als russisches „Versailles“ gerühmt.

Im Vergleich zu Moskau hat sich St. Petersburg zwar aufgrund seiner reichhaltigen Architektur und Kulturgeschichte für Reisende zur Nr. 1 entwickelt, in Sachen Weltstadtflair hat jedoch Moskau eindeutig die Nase vorn.

Bilder: Rosenthal-Kappi