Von Hans-Peter Kurr
Karin Henkel, derzeit – gewiss zu Recht – bestbeschäftigte Regisseurin am Deutschen Schauspielhaus, hat wieder ein großes Stück dramatischer Literatur, sozusagen aus dem internationalen Archiv bedeutender Theaterautoren, entliehen und dem Stoff den Stempel ihrer sehr persönlichen Sicht auf die vertrackte Menschenwelt aufgedrückt.
Das ist eo ipso am deutschen Sprechtheater keine neue Methode, ihre Wirkgeschichte begann (weil in der davor liegenden Zeit der NS-Terrorherrschaft andere „Gesetzmässigkeiten“ herrschten ) in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und ist bis heute verbunden mit Regienamen wie Kortner, Noelte, Lietzau, Paryla, Bauer oder, in der darauffolgenden Generation, Palitzsch, Zadek, Reible und vielen anderen. Aber: Bei Karin Henkel, die noch so jung ist, dass sie die erstgenannten Namen vermutlich nur aus dem theatergeschichtlichen Unterricht ihrer Ausbildungsstätten als Germanistikstudentin in Hamburg oder Assistentenzeit bei Peymann am Wiener Burgtheater kennt, ist etwas Charakteristisches anders: Ihre Verwandlungs- und Verdeutlichungsansprüche gehen in der Regel auf. Von den knapp 40 Inszenierungen der Henkel seien stellvertretend nur diejenigen genannt, die an der Kirchenallee zu sehen waren: Grillparzers „Medea“, Dostojewskijs Meisterwerke „Schuld“ und „Der Idiot“, Ibsens „John Gabriel Borkman“ und nun aktuell Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“. In allen Fällen war die hohe Kunst zu erkennen, dramaturgische Schein-Oberfläche der Handlung dergestalt zu handhaben, dass a l l e s Sprache und Tiefe bekommt. Diesmal, bei der Premiere der „Ratten“ also, dagegen Verwirrung statt Klarheit, undeutlich gezeichnet das Ineinander von Aufstieg und Abbau, die nachgerade Komplizenschaft von Gut und Böse, gewiss auch nur für Stückkenner einigermaßen erkennbar der Handlungsfaden des Hautpmann’schen Meisterwerks.
Der geneigte Leser verzeihe dem Chronisten einen kurzen Rückblick auf das Jahr 1960, als er in einer Inszenierung von Professor Willi Schmidt im Rahmen der Ruhrfestspiele dieses Stück entdecken durfte, mit dem innerlich brennenden unvergessenen Klaus Kammer als Spitta. Die beiden, neben Darstellern wie Gisela von Collande, präsentierten die Polychromie, in der Hauptmann Theorie und Illustration ineinander verwoben hat. Schmidt hatte schon damals, um das Werk und seine Verstehbarkeit etwas aufzulichten (was ja auch die Henkel mit anderen Mitteln heute versucht!), das Leiden der Figuren, die durch das Drama ihres Lebens rasen, zu entschleunigen versucht, indem er auf jegliches Moralisieren verzichtete, da ihre leibliche Flucht bis hin zum Selbstmord der Frau John, sich ohnehin – im kafkaesken Sinn – als völlig sinnlos erweist.
Bei Henkel gibt es zahlreiche, zusätzlich verwirrende Doppelbesetzungen (das kann am Schauspielhaus keine Sparsamkeitsgründe haben!), das Sprechtempo ihrer Darsteller ist zuweilen derart überhöht, dass selbst bei einem so wundervoll begabten Ensemble die Verstehbarkeit – im Gegensatz zu den von Theaterdirektor Hassenreuter geäußerten Thesen – leidet.
Aber Karin Henkel wäre nicht Karin Henkel, wenn ihr nicht wieder ein Zauber gelänge: Das Stück – wie bereits bei „Schuld“ im Malersaal – als eine Theaterinszenierung auf dem Theater emporzustemmen, hat großen Reiz, trotz aller Befremdlichkeiten, wie zum Beispiel englischsprachiger Songs. Entgegen den hier geäußerten leichten Bedenken bleibt als wertvolles Fazit: Der Abend dient einer menschlichen Existenzenthüllung, die kraft ihrer dringenden Binnenzeichnung niemals veraltet.