Gertrude Stein aus der Sicht von Alice B. Toklas aus der Sicht von Gertrude Stein
Rund 90 Jahre ist es her, dass Gertrude Stein unzählige Künstler und Denker in Paris versammelte. Picasso und Dalí gehörten dazu, Juan Gris, Georges Braque und Tristan Tzara, Mitbegründer des Dadaismus. Die Surrealisten – Surrealismus sei die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, so Walter Benjamin im Jahr 1929 (1) – hatten sich der Kommunistischen Partei zugewandt; das heute noch existierende Verlagshaus Gallimard veröffentlichte die Zeitschrift „La Révolution Surréaliste“ von 1924 bis 1929. Nachdem André Breton dem Motiv der Begegnung eine ganz neue Dimension eingehaucht hatte, sollte Jacques Lacan, der Salvador Dalí in den 1930ern traf, das Trauma als verpasste Begegnung konzipieren – ein unerhörter Ansatz.
Zu jener Zeit waren viele Autoren, unter ihnen Hemingway, Proust, T.S. Eliot, Djuna Barnes oder John Dos Passos, nach Paris gekommen, nicht zuletzt um in den Salons von Gertrude Stein und Alice B. Toklas zu verweilen und der Entgrenzung der Moderne nachzuspüren. Auch Nathanael West, der nur kurz in Paris war, ließ sich inspirieren. Zu jener Zeit schrieb Wilhelm Reich über dialektischen Materialismus und Psychoanalyse, Freud veröffentlichte ´Die Zukunft einer Illusion´, der junge Sartre dachte, las und schrieb, und William Faulkner arbeitete an ´The Sound and the Fury´, um hernach seine frühe Phase mit drei weiteren dicht gedrängten Romanen – ´As I Lay Dying´ (1930), ´Sanctuary´ (1931), ´Light in August´ (1932) – hinter sich zu lassen.
Ein beachtliches Presse- und Verlagswesen nicht nur in Deutschland (2) trug dazu bei, dass neue Publikationsmöglichkeiten entstanden und verschiedenste Genres ausgelotet werden konnten. Asphaltliteratur wurde zum Begriff urbaner Öffentlichkeit. Zu jener Zeit trug sich ein Großteil dessen zu, was Gertrude Stein im wohl zugänglichsten ihrer Werke, der ´Autobiographie von Alice B. Toklas´ festhalten sollte – ihr Kunstgriff des autobiographischen Perspektivenwechsels gewiss ein Glanzstück, wenn auch nicht frei von Eitelkeit. Daher waren die Kritiken gemischt bis ungnädig. Das Werk jedoch vermittelt viel Gefühl für die Zeit und die Akteure, von denen die meisten Franzosen, Amerikaner und Briten waren, während die deutsche Avantgarde vor allem in Wien und Berlin verkehrte.
Auch die Gegenkultur der 1960er Jahre weist viele Bezüge zu den 1920ern auf; so borgt Richard Farinas Kult-Roman ´Been Down…´ (3) schon seinen Titel aus jener Zeit, und mit ihm gewiss das Avantgardebewusstsein der modernistischen Bewegung (4). Automatisches Schreiben, Bewusstseinsstrom und spontane Prosa liegen eng beieinander. Aufbruchsstimmung vereint die Epochen, wie auch die Tatsache, dass die Dominanz andauernder Berieselung durch Bildschirme noch nicht bestand. Waren in den 1920ern jede Menge Kriegsversehrte auf der Straße, die gemeines Elend zu ertragen hatten, geht es den Medienkriegsversehrten heutiger Tage, zumindest im Westen, unvergleichlich besser. In jenem kulturellen Klima ging es den Massen schlecht, doch das Geistes- und Kulturleben blühte. Heute geht es den Massen (noch) sehr gut, während das Geistes- und Kulturleben nahezu vollständig zum Erliegen gekommen ist. Die Devise ist heute nur allzu oft: Kunst stehlen oder Kunst sein, aber bitte nicht Kunst machen (5). Ein Klimawandel ganz anderer Art.
Nathanael West, dessen viel zu wenig bekannte Parodie auf den Mythos von Erfolg und den damit verbundenen Daueroptimismus (6) erst spät rezipiert wurde (7), hat gesellschaftskritischen Autoren späterer Epochen nicht wenige Anstöße gegeben. West wusste um die Absurdität neuzeitlicher Existenz noch bevor die Moderne ausbuchstabiert war. Entgegen Stein war er aber viel mehr erzählerischen Traditionen verhaftet, während Stein sehr früh formal-sprachliche Konventionen aufgebrochen hatte, was ihr mancherorts das Urteil der Unlesbarkeit eingebracht hatte. Nachdem Steins Verleger Alfred Harcourt und Donald Brace ironischerweise Wests myth-of-success-Satire abgelehnt hatten, sprang der rumänische Immigrant Pascal Covici ein, der mit Donald Friede in New York gerade ein kleines Verlagshaus aufbaute und zur gleichen Zeit den noch unbekannten John Steinbeck unter Vertrag nahm.
Gertrude Stein, deren sprichwörtliches Diktum von der verlorenen Generation mit der Grausamkeit des Vaters aller Weltkriege einhergeht‚ mag ein weiblicher Joyce gewesen sein. Die ´Autobiographie von Alice B. Toklas´ jedoch lässt das fast nicht vermuten. Denn die Salons der Damen präsentieren sich oft amüsant, unterhaltsam und leichtgewichtig. In jedem Fall sind sie anregend und geistesgeschichtlich hochbedeutsam, denn Steins Meta-Autobiographie bietet in der Tat eine Momentaufnahme der Intelligenz im Herzen Europas. Aus dem Jahr 1933, absolut lesbar, auch auf deutsch (8).
Literaturhinweise:
(1) Behrens, Roger (2003). Der Surrealismus im letzten Jahrhundert – Kunst, Politik und Erotik einer bürgerlichen Revolte. In: Utopie Kreativ 147, S. 63-66.
(2) Egloff, Helmut (1927). Arbeits- und Berufsorganisation im deutschen Zeitungsgewerbe. Vahlen, Berlin.
(3) Farina, Richard (1966). Been Down So Long It Looks Like Up to Me. Random House, New York.
(4) Kiesel, Helmuth (2004). Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. C.H. Beck, München.
(5) Schimmelbusch, Alexander (2015). Bret Easton Ellis: Böser twittern gegen die nette Generation Y. In: Die Welt, 18.2.2015.
(6) West, Nathanael (1934). A Cool Million. Covici Friede, New York.
(7) Schulz, Dieter (1986). Nathanael West´s ´A Cool Million´ and the Myth of Success. In: Maria Diedrich; Christoph Schöneich (Hg.). Studien zur englischen und amerikanischen Prosa nach dem ersten Weltkrieg. Wiss. Buchges., Darmstadt, . 164-175.
(8) Stein, Gertrude (1933). Die Autobiographie von Alice B. Toklas. dt. Arche, Zürich, 1990.