Von Uta Buhr
Die ganze Welt ist ein Theater! Wer Celle besucht, kann leicht zu dieser Einsicht gelangen. Die alte Residenzstadt in der Südheide mit ihrem Renaissanceschloss und einer Fülle prächtiger Fachwerkhäuser – es sollen an die fünfhundert sein – ist eine ideale Kulisse für bühnenreife Auftritte schauspielerisch begabter Cellenser. Übrigens … der Name Cellenser gebührt nur Personen, die in den Mauern der Stadt geboren wurden. Die Zugereisten heißen schlicht Celler.
Die Dame im Reifrock und den bunten Schleifchen im blonden Haar stellt sich mit einem graziösen Hofknicks vor: „Gestatten, mein Name ist Madame Lucie. Bitte sprechen Sie ihn französisch aus. Das ist Brauch am herzöglichen Hof. Folgen Sie mir möglichst leise durch unser Schloss. Ich habe Ihnen eine Menge zu erzählen.“ Und dann schwebt sie ihren Gästen voran, fordert alle auf, die Filzpantoffeln am Portal anzuziehen und mit ihr die Prunkräume zu durchstreifen. Madame Lucie – mit bürgerlichem Namen Heike Bloom – gehört zu einer Gruppe von Laiendarstellern, die in historische Rollen schlüpfen und Touristen spielerisch mit der Geschichte der Stadt Celle vertraut machen. Der Streifzug führt durch die bewegte Vergangenheit der ehemaligen Residenz der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg, die schon von außen wie ein Märchenschloss anmutet. Die Grundsteinlegung geht zwar auf Anno 1292 zurück, doch der Bau wurde im 16. und 17. Jahrhundert im Stil der jeweiligen Epoche erweitert. Eine kokette grüne Kuppel erhöht noch den Charme der hell getünchten Renaissance-Fassade. Wir schlurfen über spiegelglattes Parkett, vorbei an Porträts würdevoll dreinblickender Fürsten und Prinzessinnen und lauschen den Worten der „Hofdame“ Lucie, deren Vorliebe neben Affären und Intrigen die hygienischen Verhältnisse bei Hofe zu sein scheinen. „Baden gehört nicht eben zum Plaisir der Schlossbewohner“, sagt Lucie. „Ihnen ist das Wasser suspekt. Aber wofür gibt es denn Schminke und Parfüms?“ Manche Utensilien sind in den Sälen ausgestellt, darunter auch weiß gepuderte Perücken mit Korkenzieherlocken. Ein wahrer Augenschmaus ist das Schlosstheater, Deutschlands älteste barocke Bühne, die auch heute noch regelmäßig von einem festen Ensemble bespielt wird. Die Landpartie der „Stinkfeinen Gesellschaft“ – eine weitere Cellenser Spezialität – passt gut in diesen Rahmen. Mit einem knappen Dutzend barocker Akteure in Spitzenjabots und Allongeperücken werden Gäste in das höfische Leben jener fernen Tage eingeführt.
„Historie ist schön, aber es gibt auch ein modernes Celle“, erklärt Stadtführerin Ingrid Hintz und verweist auf eine Anzahl eleganter Gebäude an der „Architekturzeile“, die sich an einem romantischen Wasserlauf entlang zieht. Hier zeigt sich, wie perfekt Altes und Neues miteinander harmoniert. Der Kontrast zwischen dem in einem blühenden Bauerngarten gelegenen Backsteinhaus und einem postmodernen Gebäude schräg gegenüber ist besonders reizvoll. Auch die Kaserne mit den gotischen Spitzbögen über den Fenstern, ein monumentales Gebäude, das König Ernst August von Hannover Mitte des 19. Jahrhunderts als eine der ersten befestigten Militäreinrichtungen in Deutschland erbauen ließ, gehört zu den architektonischen Glanzlichtern der Stadt. „Und dann kam ein gewisser Wilhelm Bomann, ein reicher Celler Fabrikant, auf die Idee, ein Haus bauen zu lassen, das alle Stile der Stadt vereinigen sollte“, schmunzelt Ingrid Hintz. Der Heidedichter Hermann Löns nannte den mit Erkern, Turm und Türmchen überzuckerten Bau vis-à-vis vom Schloss spöttisch einen „veritablen Architekturpudding.“ Vielleicht hätte Löns die Nutzung des ehemaligen herzöglichen Marstalls besser gefallen. Das Gebäude wurde total entkernt und unter Beibehaltung alter Bausubstanz in ein ultra-schickes Herrenmodengeschäft umfunktioniert. Wie Lilo Wanders, die gesprächige „Dame“ aus dem St. Pauli-Theater, darüber denkt, wissen wir nicht. Sie zieht es vor, als sprechende Laterne mit drei weiteren, leicht windschiefen „Latüchten“ unterschiedlicher Größe über andere Gegebenheiten ihrer Geburtsstadt Celle zu schwadronieren. Hin und wieder hält sie sich am Fenster des berühmten Hoppener Hauses in der Runden Straße auf und mischt sich munter in die Gespräche der Passanten ein.
„Nein, bei uns in Celle werden abends die Bürgersteige nicht hochgeklappt“, sagt Volker Holzberg, Leiter der Tourismus Region Celle. „ Unsere Restaurant- und Kneipenszene ist sehr lebendig.“ Wer durch die alten Gassen schlendert, hat die Qual der Wahl. Da ist beispielsweise das „Rathscafé“ in der Zöllnerstraße, das Stammhaus des berühmt-berüchtigten Ratzeputz. Dieser 58-Prozenter sollte mit Vorsicht genossen werden. Doch er eignet sich hervorragend als Absacker nach einem Cellenser Mahl aus Roher Roulade, Heidschnuckenbraten oder Celler Kräuterbündel. Als Nachtisch ist ein Stück Buchweizentorte zu empfehlen – eine unwiderstehliche sahnige Kalorienbombe! Ein weiterer Tipp: Der „Postmeister von Hinüber“ lädt zu einer Verschnaufpause an blank gescheuerten Tischen unter seinem historischen Backsteingewölbe ein.
Bevor es jedoch zum Genuss dieser Köstlichkeiten kommt, steht eine Führung mit dem Nachtwächter auf dem Programm. „An mir kommt keiner vorbei“, sagt Paul Weber, schwenkt seine Laterne, in der eine dicke Kerze flackert, und singt mit sonorer Stimme: „Hört, ihr lieben Herren und lasst euch sagen, vom Turm die Glock’ hat acht geschlagen! Nur acht Seelen sprach Gott los. Als die Sintflut sich ergoss.“ Wie auf Kommando beginnt es leise zu nieseln, und Paul Weber zieht den schwarzen Filzhut tiefer in die Stirn. Seine ihn begleitenden „Nachtschwärmer“ spannen ihre Schirme auf. Paul macht auf viele Details des Celler Fachwerkbaus aufmerksam und spickt seine Erklärungen mit kernigen
Anekdoten. Wer gedacht hatte, die Balken an den Häusern hätte das Alter verzogen, wird eines Besseren belehrt. Schnurgerade Balken waren einst für die meisten Bürger zu teuer. Deshalb blieb ihnen nur der Erwerb weniger edler Hölzer übrig, die jedoch mit schönen Sprüchen in bunten Buchstaben bemalt wurden. Während viele Häuser sehr schlicht gehalten sind, brillieren andere mit überbordenden vergoldeten Ornamenten und verschnörkelten Erkern. Spaß macht es den Cellensern, ihre Gäste mit dem größten Schandfleck der Stadt und ihren drei schönsten Gebäuden zu konfrontieren. Direkt gegenüber dem potthässlichen Kaufhaus Karstadt aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts erheben sich die drei prächtigsten Fachwerkhäuser. Eines davon ist sogar mit dem Bildnis seines Erbauers in nobler Renaissancerobe dekoriert. Das ansehnliche Gebäude daneben trägt unter der Jahreszahl 1649 die Inschrift: „Dies Haus ward nicht aus Lust erbaut.“ Ein Vater mehrerer Kinder errichtete es kurz nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges. „A propos Dreißigjähriger Krieg“, sagt Paul Weber, „Celle hat diese grausame Zeit dank des diplomatischen Geschicks der seinerzeitigen Herrscher besser überstanden als viele andere Städte.
Die Mauern der Residenzstadt bergen auch manch traurige Geschichte. Die schöne in Celle geborene Prinzessin Sophie Dorothea wurde wegen ihrer Beziehung zum Grafen von Königsmarck von ihrem Gatten, dem britischen König Georg I. (vormals Kronprinz Georg Ludwig von Braunschweig-Lüneburg) ins nahe Ahlden an der Aller verbannt. Und Caroline Mathilde, auch sie Spross aus königlichem Geblüt und verheiratet mit dem dänischen König Christian VII., musste von Kopenhagen nach Celle fliehen, weil sie sich mit Johann Friedrich Struensee, dem Leibarzt Christians, eingelassen hatte. Hier starb sie bereits im Alter von 25 Jahren. Celle hat ihr ein prächtiges Denkmal in einem lauschigen Park errichtet, an dem dänische Touristen regelmäßig Blumen niederlegen.
Jeden Tag steigt der Turmbläser die 235 Stufen zur Spitze des Stadtkirchturms hinauf und grüßt die Stadt mit Trompetenschall. In luftiger Höhe genießt man einen atemberaubenden Blick über Stadt und Land. Hier finden „Führungen aus der Vogelperspektive“ statt. Der Lauf der Aller mit seinen Booten, die wie Spielzeugschiffe anmuten, schlängelt sich silbern zu unseren Füßen. Wer Lust hat, kann ein paar Kilometer den Fluss hinunter schippern und mitten im Grünen picknicken. Auch eine Fahrt im Planwagen durch die Heide oder ein Besuch des Klosters Wienhausen, das für seine gotischen Bildteppiche berühmt ist, bietet sich an. „Davon haben die meisten schon gehört“, sagt Volker Holzberg. „Aber wer weiß schon, dass wir ein „Klein Texas“ mit Erdölmuseum in Wietze besitzen.“ Im Jahre 1868 wurde bei einer der ersten Bohrungen weltweit nach dem schwarzen Gold nur einen Katzensprung von Celle Erdöl gefunden. Allerdings stellte man diese 1963 wieder ein, weil die Vorkommen die hohen Förderkosten nicht rechtfertigten. Dennoch – Gelände und Museum lohnen allemal den Weg. Der immer knapper werdende Rohstoff und seine Förderung interessieren viele Zeitgenossen. Hier kann man im August sogar an einer Bergbau-Börse mit begleitenden Vortragsreihen und Schaubohrungen teilnehmen. „Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute doch so nah liegt“, resümiert Volker Holzberg, „ganz nebenbei ist die Heide auch billiger als Texas.“
Anreise: Mit dem Auto: Über die A7 Richtung Süden. Bei der Ausfahrt Soltau-Süd auf die B3 wechseln in Richtung Celle
Mit der Bahn: Der IC fährt direkt nach Celle
Unterkunft: Hotel Caroline Mathilde****, Alter Bremer Weg 37, 29223 Celle, Telefon: 05141/98 07 80, E-Mail: info@caroline-mathilde.de – www.caroline-mathilde.de
EZ inkl. Frühstücksbuffet Euro 90,–/DZ inkl. Frühstücksbüffet Euro 130,–
Ringhotel Celler Tor**** Superior, Scheuener Straße 2, 29229 Celle-Groß Hehlen, Telefon: 05141/590-0, E-Mail: info@celler-tor.de , www.celler-tor.de
EZ inkl. Frühstücksbüffet ab Euro 115,–, DZ inkl. Frühstücksbüffet ab Euro 165,–
Veranstaltungen: 12. – 13. Juni: Jazz-Streetparade in der Celler Altstadt, 26. Juni: Musical-Highlights im Französischen Garten, 27. Juni: Pferdesport-Festival im Französischen Garten, 3. – 5. Juli: Motorrad- und Reisen-Festival in der Celler Altstadt und vor dem Schloss, 29. Juli – 2. August: Weinmarkt auf dem Großen Plan in der Celler Altstadt, 7.- 8. August: Celler Altstadtfest
Auskunft: Tourismus Region Celle GmbH Celle, E-Mail: info@region-celle.de – www.region-celle.de