Kaffeeklatsch à la carte

Foto: Antje von Hein

Es gibt Träume, aus denen man gar nicht mehr erwachen möchte. Um es mit Goethen zu sagen: „Verweile doch, du bist so schön.“ Am Muttertag hatte ich Blumen auf das Familiengrab gestellt und eine stille Zwiesprache mit meinem geliebten, bereits vor über fünfzehn Jahren verschiedenen Mütterchen gehalten. Müde geworden, ließ ich mich auf der Bank neben dem Grab nieder und fiel alsbald in einen süßen Traum. Ich saß bei hellem Sonnenschein auf der Terrasse eines Cafés am Strand der Ostsee, einen dampfenden Capuccino und ein großes Stück Nusstorte vor mir. Als ich gerade lustvoll die Kuchengabel zum Munde führen wollte, wurde ich durch einen erregten Wortwechsel brutal aus meinem Traum gerissen. Eine alte Frau in Seemannskluft, den Südwester keck auf dem schlohweißen Haarschopf, unterhielt sich lautstark am Handy mit einem unsichtbaren Partner, der sich partout nicht ihrer Meinung über Grabschmuck und Blumenerde anschließen wollte. Obgleich einige Friedhofsbesucher der Frau Handzeichen machten, ihre Stimme um einige Dezibel zu senken, fuhr diese unbeirrt in ihren Tiraden fort. Als ich sie später an der Bushaltestelle wieder traf, schenkte sie mir ein breites Lächeln und sagte: „Tut mir echt leid, dass ich ein bisschen laut war. Aber mein Mann ist fast taub. Und ich habe den größten Teil meines Lebens auf einem Markt gearbeitet. Und wer da Erfolg haben will, muss schon mal die Stimme heben.“ Das erklärte natürlich alles. Ich stellte mir die Frau im Geiste auf dem Fischmarkt vor, wo sie mit Stentorstimme Aale oder Bananen unter das Volk brachte. „Na dann man tschüüüs,“ rief sie mir zu, sprang behände aus dem Bus und zündete sich eine Zigarette an, deren Rauch sie genüsslich inhalierte. „Ich geh’ jetzt zu meinem Ede, der hat schon den Tisch gedeckt und Kaffee gekocht,“ ergänzte sie ihren Monolog, „und holen Sie sich man auch irgendwo nen Becher. Tut doch echt gut nach all den ollen Gräbern.“

„Tempora mutantur et nos mutamur in illis”, sagt der Lateiner. In der Tat, die Zeiten haben sich geändert, und wir haben uns ihnen wohl oder übel anpassen müssen. Statt eines gepflegten „Konditerns“ an Marmortischen, wie meine Eltern weiland Besuche in Cafés nannten, stehen wir heute auf der Straße, den Plastikbecher mit dem heißen Kaffee in der rechten und einem Stück Gebäck in der linken Hand. „Da musst du schon ganz schön balancieren, damit du dir das Gesöff nicht über den Pelz kippst“, scherzte unlängst eine Freundin und verbrannte sich prompt die Hand. Dabei fällt mir der verballhornte Text eines Schlagers aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein, den meine Mutter mit ihren Freundinnen in fröhlicher Runde zu singen pflegte: „In einer kleinen Konditorei, da saßen wir zwei und fraßen für drei.“ Tja, mit Sitzen ist es ja zurzeit auch nichts. Stehen auch nur unter Vorbehalt. Stand ich mit zwei Freundinnen doch unlängst in der äußersten Ecke des Europa Centers. Kein Mensch weit und breit. Nichts Böses ahnend nippten wir an unserem Kaffee, als zwei sich martialisch gebärdende Männer in Uniform mit großen Schritten auf uns zukamen und uns aufforderten, sofort das Center zu verlassen. Unser Argument, es sei doch niemand hier außer uns wurde mit einem schroffen „Vorschrift ist Vorschrift“ abgeblockt. Wir fanden uns also bei strömendem Regen auf der Straße wieder. Aber Not macht bekanntlich erfinderisch. Hatte nicht Birgit ihren schicken BMW in einer Nebenstraße ganz in der Nähe geparkt. Eilig schritten wir zur Tat und genossen einen außerordentlich unterhaltsamen Kaffeeklatsch in wohliger Wärme bei dezenter Musik im Auto. In bester Laune machten wir uns später auf den Heimweg. „Es geht auch anders, doch so geht es auch“, heißt es in Bert Brechts Dreigroschenoper. So ist es. Die Erfahrung während der Coronakrise hat uns gelehrt, die gewohnten Pfade zu verlassen und andere Wege zu beschreiten. Zugegeben, unser Kaffeeklatsch im Auto war lustig und originell. Dennoch wiegt er in keiner Weise den Besuch eines Cafés auf. Denn da sitzen wir entspannt an einem Tisch, lassen uns bedienen und kommunizieren mit anderen Menschen. Dies ist die Freiheit, nach der wir uns sehnen und die wir so schnell wie möglich zurück haben wollen. Amen.

Die Frau, die König Ludwig I. die Krone kostete

Joseph Karl Stieler_-Lola Montez (gemeinfrei)

Vor 200 Jahren kam die „bayerische Pompadour“ zur Welt, die nicht aus Spanien kam, sondern aus Irland und eigentlich Elizabeth Rosanna Gilbert hieß

Lola Montez wird als „bayerische Pompadour“ bezeichnet. Dabei hat die Tänzerin auch gewisse Ähnlichkeit mit Mata Hari. Bei beiden war die Herkunft nicht so exotisch, wie sie behaupteten, sondern eher verwirrend. Bei beiden war der Tanz eher erotisch als künstlerisch. Beide hatten in ihren besten Jahren den Körper und die Ausstrahlung, die Männer um den Finger zu wickeln. Und beiden war ein Altern in Würde missgönnt.

Lola Montez kam ebenso wenig aus Spanien wie Mata Hari aus Indonesien. Vielmehr kam auch sie aus der nördlichen Hälfte Europas. Wie „Mata Hari“ war auch „Lola Montez“ ein Künstlername. Als Elizabeth Rosanna Gilbert kam die Tochter eines schottischen Offiziers und einer irischen Landadeligen vor 200 Jahren, am 17. Februar 1821, im nordwestirischen Grange zur Welt. Früh wurde sie Halbwaise. Nachdem die Familie 1822 nach Kalkutta umgezogen war, starb ihr Vater an der Cholera. Unterschiedliche Ersatzväter taten sich schwer mit ihr und schließlich landete sie in einem Internat. Nach der Schulausbildung sollte sie mit 16 Jahren eine Vernunftehe mit einem Richter eingehen. Um dem zu entgehen, brannte sie mit dem englischen Offizier Thomas James nach Irland durch. Dort heirateten die beiden und gingen dann nach Indien. Nach drei Jahren trennte sich das Paar allerdings wieder. Montez kehrte nach Europa zurück und nahm in London Schauspiel- und Tanzunterricht.

Nun gab sich die gebürtige Irin ihr spanisches Image. Sie ließ sich von einem spanischen Tanzlehrer unterrichten, lernte die spanische Sprache und spanische Tänze und beendete ihre Ausbildung mit einem Spanienaufenthalt. 1843 kam sie als die vorgebliche spanische Tänzerin aus Sevilla Maria de los Dolores Porrys y Montez oder kurz Lola Montez nach London zurück. Dabei kam ihr schließlich das Spanienfai­ble entgegen, das die 1847 erschienene Novelle „Carmen“ des französischen Schriftstellers Prosper Mérimée auslöste.

Das Debüt in London verlief zwar erfolgreich, aber ihre wahre Identität wurde entdeckt und sie sah sich gezwungen zu fliehen. Es begann eine Flucht durch Europa voller Skandale. In Thüringen hatte sie eine Affäre mit dem Fürsten Reuß zu Lobenstein und Ebersdorf. In Berlin tanzte sie vor dem preußischen König und dem russischen Zaren. In Warschau löste sie Tumulte aus, indem sie sich mit den polnischen Separatisten solidarisierte. Franz Liszt begleitete sie nach Paris. Auch in der Seine-Metropole erregte sie Aufsehen. Dort kostete sie den Redakteur der dortigen Zeitung „Le Press“ Alexandre Dujarier das Leben, der in einem Duell erschossen wurde, das er um ihretwillen gefordert hatte.

Umtriebige Tänzerin

Nach dieser Affäre verließ Lola Montez 1845 Paris und landete schließlich 1846 in München. Da der Intendant der dortigen Hofbühne sie hatte abblitzen lassen, versuchte sie es am 7. Oktober direkt beim König. Angesichts ihres prallen Mieders soll dieser gefragt haben: „Natur oder Kunst?“ Statt zu antworten, soll sie mit einem Brieföffner ihr Mieder aufgeschnitten und damit dem dreieinhalb Jahrzehnte Älteren die Möglichkeit geboten haben, sich selbst ein Bild zu machen.

Das mag ein Gerücht sein. Fakt ist, dass Ludwig I. auf Lola Montez ähnlich begeistert reagierte wie sein Enkel und späterer Nachfolger Ludwig II. auf Richard Wagner, nur etwas weniger platonisch. Er ließ sie nicht nur in München auftreten, sondern beschenkte sie großzügig. Dazu gehörte ein Palais in München ebenso wie 158.084 Gulden. Das war mehr Geld als der Bau der Feldherrenhalle kostete.

Doch nicht nur mit materiellen Gütern, auch mit einem erblichen Adelstitel wollte Ludwig seine Geliebte versehen. Dafür bemühte er sich um die bayerische Staatsangehörigkeit für sie, das sogenannte Indigenat. Obwohl sie durch das von ihm erhaltene Palais Grundeigentümerin in München geworden war, verweigerte die Gemeinde jedoch die Gewährung des Heimatrechtes. Nun wollte Ludwig Lola Montez dieses Recht per Dekret verleihen. Dafür brauchte er aber die Zustimmung des Staatsrates, die dieser verweigerte. Das Ergebnis war eine Regierungskrise. An die Stelle des Ministeriums des ultramontanen, sprich erzkatholischen Staatsministers Karl von Abel, den Ludwig in besseren Tagen seinen „ersten Staatsmann“ genannt hatte, trat ein liberales sogenanntes Kabinett der Morgenröte, das sich weder der Einbürgerung noch der Erhebung von Lola Montez zur Gräfin von Landsfeld am 25. August 1847 in den Weg stellte.

Sicherlich spielten bei der Ablehnung Lola Montez’ Neid und Standesdünkel eine Rolle. Allerdings wusste sie auch zu provozieren. Bewusst verstieß sie gegen Konventionen. In Hosen zog sie Zigarren rauchend mit einer Reitpeitsche bewaffnet in Begleitung einer Dogge und einer Leibgarde durch die Haupt- und Residenzstadt. Die Leibgarde stellten Studenten des Corps Alemannia. Dabei handelte es sich um eine Abspaltung des Corps Palatia München. Die Spaltung der Münchner Studentenschaft zwischen den sogenannten Lolamannen vom Corps Alemannia und den anderen Corps führte schließlich zu Handgreiflichkeiten. Ludwig reagierte darauf, indem er am 9. Februar 1848 die Universität schloss und die Studenten Münchens verwies. Das Ergebnis waren bereits am folgenden Tag Proteste der Studenten, denen sich andere anschlossen, und Unruhen in der Stadt. Ludwig hatte den Bogen überspannt – und gab nun nach. Er öffnete die Universität wieder und ließ Lola Montez fallen – zumindest offiziell.

Per Kutsche trat Lola Montez am 11. Februar 1848 die Flucht Richtung Schweiz an. Sie blieb jedoch in Verbindung mit Ludwig. Im Folgemonat kam sie heimlich mit seinem Wissen nach München zurück. Das wurde jedoch publik, und unter dem Druck von Unruhen sah sich der König gezwungen, seine Liebe durch die Polizei verfolgen zu lassen. „Da war’s mir unausstehlich, länger auf dem Thron zu sein“, erklärte Ludwig am 20. März 1848 und dankte zugunsten seines Ältesten ab.

München blieb eine Episode

Nach ihrer rund eineinhalbjährigen Episode in München setzte Lola Montez ihre Wanderschaft als Tänzerin fort. Anfänglich konnte sie sich weiterhin der finanziellen Unterstützung Ludwigs erfreuen. Das änderte sich allerdings, als das Verhältnis abkühlte, weil Ludwig von Lola Montez’ Verhältnis mit dem Hochstapler Auguste Papon erfuhr. Gänzlich brach ihr bayerischer Gönner die Beziehung zu ihr ab, nachdem er davon erfahren hatte, dass sie nach ihrer Rückkehr nach London im Jahre 1849 den jungen britischen Offizier George Trafford Heald geheiratet hatte. Die Ehe kostete sie nicht nur die noch verbliebene Unterstützung Ludwigs, sondern brachte ihr auch den Vorwurf der Bigamie ein, da Thomas James noch lebte. Sie begab sich auf die Flucht. George Trafford Heald nahm sie mit.

Nach dem Scheitern ihrer Beziehung mit George Trafford Heald wechselte Lola Montez 1852 den Kontinent. In den USA spielte sie sich selbst in der Theaterrevue „Lola Montez in Bavaria“. Bis zum Frühjahr 1853 tourte sie an der Ostküste einschließlich Auftritten am Broadway. Im Mai des Jahres wechselte sie an die Westküste nach San Francisco. Im Juli 1853 heiratete sie den irischstämmigen amerikanischen Journalisten Patrick Hull, der allerdings noch im selben Jahr verstarb. Im August ließ sie sich in der kalifornischen Goldgräberstadt Grass Valley nieder.

1855/56 tourte sie durch Australien. In Victoria trat sie ebenso auf wie in der Goldgräberstadt Castlemaine, wo sie mit einer Vorstellung das Theatre Royal eröffnete. 1856 machte sie eine wenig beachtete Europatournee, von der sie im Folgejahr nach New York zurückkehrte. Das Tanzen fiel ihr zunehmend schwerer, und so verlegte sie sich auf das Vortragen und Verfassen von Texten. Ihre Bücher „The Arts of Beauty“ und „Anecdotes of Love“ entstanden.

Unter dem Einfluss des protestantischen Journalisten Charles Chauncey Burr entwickelte sich Lola Montez zur bekennenden Methodistin und engagierte sich für sogenannte gefallene Mädchen. Das entbehrt nicht einer gewissen Komik, hatte Ludwig sie doch zur Gräfin gemacht „wegen der vielen, den Armen Bayerns erzeigten Wohltaten“.

1860 erlitt sie einen Schlaganfall. Möglicherweise kam Syphilis hinzu. Nach einem Leben auf der Überholspur war die einst betörende Blüte früh gewelkt. Mit nicht einmal 40 Jahren starb Lola Montez am 17. Januar 1861 in New York an einer Lungenentzündung.

 

Dieser Artikel erschien bereits in der Preußischen Allgemeinen Zeitung.

Nostalgisch – Paternoster in der Hansestadt

In Hamburg gibt es noch zwölf Paternoster, die öffentlich zugänglich sind. Fotomontage: L. Hoffmann

„Zu zweit dürfen Sie den aber nicht benutzen“, sagt der zuständige Wachmann, als ein Paar in den Paternoster einsteigt. „Ich bin mit den Dingern aufgewachsen“, ruft ihm der Mann zu und schwebt mit seiner Begleitung nach oben.
`Benutzung nur für Eingewiesene´ steht auf dem Schild neben dem Paternoster im Hamburger Bezirksamt Eimsbüttel. Und dies ist durchaus ernst gemeint. Eine offizielle Anordnung von ganz oben, die es unter der Rubrik „Der reale Irrsinn“ sogar in die Fernsehsendung Extra3 schaffte.
Der erste Umlaufaufzug der Welt wurde 1876 in England entwickelt und im General Post Office in London zum Transport von Paketen eingesetzt. Später diente er auch der Personenbeförderung.
In Hamburg wurde der erste Paternoster 1886 im neu errichteten Dovenhof eingeweiht. Er blieb nicht der einzige. In den hafennahen Gebieten der Hansestadt entstanden in den Jahren darauf zahlreiche Geschäfts- und Kontorhäuser, die mit Umlaufaufzügen ausgestattet wurden.
Von den rund 30 noch erhaltenen Paternosteraufzügen in Hamburg sind heute nur zwölf öffentlich zugänglich. Zu finden sind diese unter anderem im Paulsenhaus am Neuen Wall, in der Finanzbehörde am Gänsemarkt und – wie bereits erwähnt – im Bezirksamt Eimsbüttel.
Mit dem historischen Umlaufaufzug können Sie endlos rauf und runter fahren. Aber denken Sie daran: Niemals zu zweit in eine Kabine steigen und Ihr Fahrrad bitte vor der Tür stehen lassen. Und wenn dann ein Wachmann auf Sie zukommt, seien Sie freundlich: Er möchte Sie lediglich vor der waghalsigen Fahrt mit dem Paternoster ordnungsgemäß einweisen. Ganz so, wie es der Vorschrift entspricht.

 

Immer schön cool bleiben

„O tempora, o mores”, ruft die Lehrerin in gespieltem Entsetzen aus, während ihre Klasse sich trotz ihrer Bitte um Ruhe und Ordnung schreiend und schubsend in den S-Bahn Waggon ergießt. Im Nu liegen Ranzen und Rucksäcke wild verstreut am Boden und ein zäher Kampf entbrennt um die Fensterplätze. Als zwei halbwüchsige Rowdys mit den Fäusten aufeinander losgehen, greift die Lehrkraft entschlossen ein: „Also, Daniel, Jörg, immer schön cool bleiben“, mahnt sie mit beschwörender Stimme und erinnert dabei lebhaft an eine Dompteurin im Raubtierkäfig.

Auf der Rolltreppe begegne ich den beiden Kampfhähnen wieder. Ihre Streitigkeiten haben sie inzwischen beigelegt. Dafür belästigen sie jetzt voller Inbrunst andere Leute, indem sie sich mit verschränkten Armen vor ihnen aufbauen und sie am Verlassen der Treppe hindern. Eine elegante ältere Dame, die offenbar den Anschlusszug noch erreichen will, versucht sich mit aller Macht an ihnen vorbei zu winden.
„Hey, du alte Gruftspinne, mal’n bisschen mehr Benehmen“, sagt der eine der beiden Flegel. Da entfleucht der Frau, die vor Wut putterot angelaufen ist, ein Wort, das zivilisierte Menschen üblicherweise mit „Armleuchter“ zu umschreiben pflegen. Wie von einem Zauberstab berührt, treten die Jungen zur Seite und sehen der eben noch Geschmähten mit unverhohlener Ehrfurcht nach. „Echt geil“, sagt der eine, „was die Mutter für Ausdrücke drauf hat.“

Nachwort: Das oben Geschilderte widerfuhr mir wenige Wochen vor dem ersten Lockdown, als unser Dasein in geregelten Bahnen verlief und wir alle noch unmaskiert die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen durften. Da tobte das pralle Leben, wozu auch gelegentliche verbale Entgleisungen von frechen Buben wie Daniel und Jörg gehörten. Ich gestehe, dass diese mir jetzt viel weniger ausmachen würden als die gegenwärtige depressive Stimmung, die wie Blei auf uns allen lastet.

 

Von Kindern lernen

Es ist ein alter Hut. Viele Bürger halten sich nur ungern an die einfachsten Verkehrsregeln. Wie oft muss ich erleben, dass ein Auto noch über die Kreuzung vor meinem Haus „nagelt“, wenn die Ampel schon längst auf Rot umgesprungen ist. Auch vor Zebrastreifen drosseln manche Fahrer nur ungern das Tempo. Häufig muss man beherzt ausschreiten, um sie noch rechtzeitig zum Halten zu bewegen.

Und wie steht es mit den Fußgängern, die nicht selten geduldig vor Ampeln ausharren müssen, bis sie endlich die Straße überqueren dürfen, auch wenn weit und breit kein Fahrzeug in Sicht ist? Ich gestehe, dass ich in so einem Fall nicht immer auf grünes Licht warte, solange keine Kinder in der Nähe sind. Dem Nachwuchs gegenüber zeige ich mich stets als vorbildliche Verkehrsteilnehmerin.

Zumindest bis gestern Mittag. Die Sonne blendete mich, als ich in der Nähe des Harburger Bahnhofs bei Rot schnell über eine Straße lief. „Rotgänger, Todgänger, Grüngänger leben länger“, erschallte ein mehrstimmiger Kinderchor hinter mir. Wie vom Schlag gerührt drehte ich mich um. Da standen vier etwa zehnjährige Schulmädchen am Straßenrand und drohten mir mit dem Finger. Mein Gott, die lieben Kleinen hatte ich ganz übersehen! „Entschuldigt“, stammelte ich verlegen. „Aber da habe ich wohl geschlafen. Kommt ja mal vor.“

„Sollte es aber nicht“, entgegnete das Größte von den Mädchen streng. „Erwachsene erzählen uns doch immer, wo es langgeht. Dann müssen sie aber auch Vorbilder sein.“ Wo Kinder recht haben, haben sie recht. Also schwor ich hoch und heilig, nie wieder bei Rot über die Straße zu gehen. Das versöhnte die jungen Damen offenbar, die sich mit einem freundlichen „Tschüs, und noch einen schönen Tag“, von mir verabschiedeten. Ich habe mir übrigens gelobt, dieses Versprechen niemals zu brechen. Großes Indianerehrenwort!

Diese Glosse erschien bereits im Hamburger Abendblatt
Foto: Michael_Luenen, Pixabay

Kultur und Psyche

Buchcover

Goetz Egloff. Culture and Psyche: Lecture Notes for the Liberal Arts. Lambert Publ., Beau Bassin, 2020

Buchvorstellung

Der englischsprachige Band umfasst gedankliche Aufbereitungen sowohl zur neueren amerikanischen Literaturgeschichte als auch zu kulturellen und klinischen Phänomenen, die der informierten Öffentlichkeit wohlbekannt sind. Deren Zusammenhänge werden Schritt für Schritt erschlossen. Beginnend mit Werken von Maria Cummins und William Faulkner, über J.D. Salinger und John Updike, hin zu John Barth und Don DeLillo, zeigt sich eine Entwicklung, die zuläuft auf die postmoderne Konfiguration der westlichen Welt zur Jahrtausendwende. Deren klinische Aspekte werden augenfällig in Bereichen von Beziehung und Sexualität oder finden im bulimischen Syndrom postmoderner Unverdaulichkeit ihren Ausdruck.

Subjektivitätsbildung in den gegebenen Gesellschaftsstrukturen weist zum Epochenwechsel von Moderne zu Postmoderne, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzt, hin auf eine Herauslösung des Ichs aus dem kulturellen Gefüge, „from a culture-based toward a psyche-based view of man“. Nur scheinbar gegenläufig verbleibt das auf einen Sockel gestellte Ich umso mehr unter dem Einfluss von Ökonomie und Verlust von Repräsentation, was zu neuen Formen existentiellen Unbehagens führt. Paradigmatisch wird diese Konstellation in DonDeLillos Roman White Noise, in dem die Referenzsysteme menschlichen Gelingens nahezu zusammenbrechen.

Weitere Themenbereiche des Bandes umfassen die Psychosomatik von Haut und Hormonen, des Beschneidungszeitpunkts im männlichen Entwicklungsverlauf, der vorgeburtlichen und der nachgeburtlichen kindlichen Entwicklung sowie der gesellschaftlichen Strukturen; dies  jeweils in Verbindung mit Aspekten von Ritual, Gedächtnis und Zeit. Der Band versteht sich als Hintergrundfolie zur Kulturhistorie von Körper, Psyche und Gesellschaft im  jüdisch-christlich-muslimischen Kulturraum, auf der zukünftige Konzeptionen entworfen werden können. Ein Anhang mit Auszügen aus Interviews in der spanisch- und deutschsprachigen yellow press zu Schwangerschaft, Geburt und kindlicher Entwicklung ergänzt den Band.

Goetz Egloff. Culture and Psyche: Lecture Notes for the Liberal Arts. Lambert Publ., Beau Bassin, 2020, 308 S., 53,90 Euro

„Snake in the Grass“ by Alan Ayckbourn. The New Play at the English Theatre of Hamburg

„Listen girls, I want 100.000 pounds – cash down.“

The good news of the day: The English Theatre is back after a long absence due to the corona pandemic. Rejoice dear aficionados of the TET! What’s more, we are presenting a new play by the most prolific of all living British play writers Alan Ayckbourn. This time the author has concocted a thriller spiced with loads of black humour and a number of shocking scenes that make your blood freeze in the veins.

“Snake in the Grass” is a very “twisty” play. Whenever you think you know who of the three women on the stage could be the scheming person, so to speak the snake lingering in the grass, you find out that you are entirely wrong. Ayckbourn is a master of twists. In this play one twist is followed by another one. By the way, do not be afraid of a real snake, an aggressive cobra or viper hiding in the lawn and trying to attack the ladies on the stage. Joke! It is merely an expression which describes “a treacherous deceitful person.” Just have a look into the Oxford English Dictionary.

The setting is idyllic. A run-down cottage, most probably in the outskirts of London, surrounded by a lush though neglected garden. There is an overgrown tennis court and an old well in front of the house. The sun is shining, the sky of the deepest blue imaginable. The home of the Chester family looks deserted. All of a sudden a woman appears on the scene. Anabel, Mr. Chester’s elder daughter, has just arrived from Australia, her home for the last thirty-five years. Being the heir of all the riches Mr. Chester has left, including cottage and garden, she has been called back to England. In spite of her heritage, the successful business woman from one of the big cities on the Fifth Continent looks quite unhappy. When Miriam, her younger sister, turns up and moans over her lost youth in her father’s “care” an old family conflict erupts. While Anabel still resents her father’s forcing her into an exhausting tennis training day after day over a couple of years, Miriam accuses the old man of abusing her during her childhood. Once she broke out and went to a disco he dragged her back home. The first impression of a perfect world proves entirely wrong. The play turns out to be a trip on a ghost train. But this is no means the end of the horror. The next intruder is on her way.

„Don’t be afraid, Anabel, it’s only a bird in the trees.“

Alice Moody, the former nurse of the deceased Mr. Chester, shocks the two sisters with her message that Miriam deliberately killed the old man by administering a deadly dose of his medicine to him. Her silence is worth the gigantic sum of 100.000 pounds. Is she trying to take revenge for having recently been sacked by Miriam? Alice makes it very clear: “If you do not pay me the 100.000 pounds, I’ll have to report to the police right away.” She even produces a letter by her former employer in which Mr. Chester claims that Miriam intended to kill him. Anabel and Miriam are under shock. They do not have that much money to silence Alice. Really, the best way to get rid of that greedy woman is to “neutralise” her. In both sisters’ opinion, this would be the most elegant way to solve the problem. Since it is not our intention to spoil your appetite for the rest of this thrilling play, we are stopping here and leave it to you to find out who in the end turns out to be the snake in the grass. Or are there several reptiles in the garden? Knowing the author and his tricks you can never be sure…

What a play! No wonder that the press reviews are full of praise. While The Sunday Times writes: “A creepily, scarily, eerily enjoyable evening”, “Plays International” comment: “Alan Ayckbourn feels the urge to make people jump.” We fully agree.

„Sorry, Miriam. You really had a bad time with father.“

“Snake in Grass” is Alan Ayckbourn’s masterpiece combining thrilling and humorous elements in a remarkably balanced way. There are mysterious things going on in the backyard, the twitter of a bird hidden in the leaves of a big tree calling a name, and a chair on the porch rocking to and fro. There is also “gaslighting” in the air. What’s more: Alice the nurse is back from the dead, dirty from head to toe, but alive and in high spirits. What the hell is going on in Mr. Chester’s garden? The last act is shocking and will paralyse you with sheer horror. Don’t ask us why. Our lips are sealed. Just buy a ticket and enjoy the thrill while sitting comfortably in the theatre.

Thumbs up for three superb actrices: Debbie Radcliffe as ladylike Anabel, Jan Hirst playing a self conscious Miriam and Joanne Hidon in the role of scheming Alice Moody who is speaking a Yorkshire accent so thick that you could cut it with a knife. Hilarious!
Many thanks to Robert Rumpf who directed the play.

Last but not least a few words about Alan Ayckbourn. He was born in London in 1939 and has been writing and directing for the theatre for over 60 years. Being an extremely prolific author he has written a good many comedies which have become box office successes all over the world. Just think of comedies such as “Relatively Speaking,” Season’s Greetings” and “Communicating Doors,” to mention only three of Ackbourn’s highly amusing plays.

Final performance of “Snake in the Grass” on October 31, 2020

Tickets under phone number 040 – 227 70 89, or online under www.englishtheatre.de

Next premiere: “Shirley Valentine” by Willy Russell on November 12, 2020

Attention: Due to the corona pandemic, you are requested to wear a mask covering your mouth and nose during your stay in the theatre.

(Photos: Stefan Kock)

„Snake in the Grass“ von Alan Ayckbourn – das neue Stück am English Theatre of Hamburg

„Hört gut zu, Mädels. Ich will 100.000 Pfund. Sofort!“

Die gute Botschaft vorab: Das English Theatre hat gerade wieder seine Pforten geöffnet, und dies mit einem Stück, das so recht nach dem Herzen all jener sein dürfte, die das Theater regelmäßig besuchen. Mit „Snake in the Grass“ – Die Schlange im Gras – setzt der berühmte britische Autor Alan Ayckbourn seine erfolgreiche Serie von Theaterstücken fort, die seit langem auf vielen Bühnen der Welt vor einem begeisterten Publikum gespielt werden. Neu ist, dass sich der Schreiber tiefgründiger Komödien diesmal an einem anderen Genre versucht, dem Thriller, der reichlich mit dem für Ayckbourn typischen schwarzen Humor gewürzt ist. Aber in medias res. Vorhang auf für „Snake in the Grass.“

Über dem üppig blühenden Garten vor dem Haus der Familie Chester wölbt sich ein azurblauer Himmel. Eine Postkartenidylle. Dennoch liegt etwas Unheimliches, fast Bedrohliches in der Luft. Als nacheinander drei Frauen die Bühne betreten, verstärkt sich der Eindruck, dass hier etwas „im Busch“ ist. Anabel und Miriam, die beiden Töchter des erst kürzlich verstorbenen Mr. Chester, geraten im Handumdrehen in eine heftige Auseinandersetzung mit Alice Moody, einer Krankenschwester, die den alten Herrn lange gepflegt hatte und nach eigenen Worten grundlos von Miriam entlassen wurde. Der Streit eskaliert, als Alice behauptet, Miriam habe ihren Vater heimtückisch mit einer Überdosis seiner Medizin ermordet. Es gibt sogar einen Brief des alten Mannes an die Pflegerin, aus dem die Tötungsabsicht seiner jüngeren Tochter hervorgeht. Ist Miriam eine skrupellose Mörderin oder lügt Alice? Will sie sich für die aus ihrer Sicht unberechtigte Kündigung rächen? Der scheinbar friedliche Garten verwandelt sich unter den Augen des Zuschauers im Handumdrehen in eine Schlangengrube, in der drei Vipern in Menschengestalt ihr Unwesen treiben. Doch gemach, es ist ja nur von einer Schlange die Rede, die sich im Gras versteckt. Welche von den Dreien mag das wohl sein, lautet die Frage. Ist es die verhuschte Miriam, ihre ältere gestrenge Schwester Anabel oder gar die ungebildete Alice, die dreist ein Schweigegeld von – man höre und staune – 100.000 Pfund erpressen will? Bei Nichtzahlung droht sie, Miriam wegen Mordes an ihrem Vater bei der Polizei anzuzeigen. Woher soviel Geld nehmen und nicht stehlen! Das Beste wird sein, sich dieser unangenehmen Person zu entledigen. Aber wie? Um dem Publikum nicht die Spannung an diesem wendungsreichen Stück zu nehmen, überspringen wir diesen Punkt und wenden uns dem corpus delicti des Plots zu, dem toten Mr. Chester.

„Keine Angst, Anabel, es ist nur ein Vogel in den Bäumen.“

Es stellt sich heraus, dass dieser Mann seinen Töchtern kein guter Vater war. Nach dem Tode der Mutter der beiden führte er ein unerbittliches Regime und quälte beide Mädchen bis aufs Blut. Anabel wurde mit täglichen Tennisstunden auf dem kleinen Parcours hinter dem Haus drangsaliert, während ihre Schwester Demütigungen und ständige Bevormundungen ertragen musste. In uns keimt ein böser Gedanke auf: Hatte dieser Widerling nicht den Tod mehr als verdient? Aber zurück zur Handlung. Während Anabel erklärt, warum sie vor nunmehr 35 Jahren nach Australien auswanderte, klagt Miriam, dass sie ganz allein mit diesem Unhold von Vater in England zurückbleiben musste. Jetzt, da der Alte tot ist, könnte Anabel, die Erbin des väterlichen Vermögens, das Haus verkaufen und mit Miriam dorthin ziehen, wo beide an ihre schreckliche Kindheit nicht mehr erinnert werden. Der Plan scheint aufzugehen, denn die Erpresserin Alice ist wie vom Erdboden verschluckt und nirgendwo auffindbar. Alles scheint paletti, und die beiden Schwestern Chester können sich zufrieden zurücklehnen. Wer das denkt, kennt Alan Ayckbourn, den Meister der Tricks, Irrungen und Wirrungen schlecht. Denn ab jetzt dreht sich das Karussell der Ereignisse immer schneller. Aus dem Dunkel des Gartens dringen unheimliche Laute. Wurde da nicht ein Name geflüstert. „Keine Angst, Anabel“, beruhigt Miriam ihre Schwester, „das war nur ein Nachtvogel in einem der großen Bäume.“ Mag sein. Aber wer bedient jene Kanone, die den Platz mit Dutzenden gelber Tennisbälle flutet? Diese und ähnliche mysteriöse Vorfälle sind zuviel für Anabels schwaches Herz. Die bricht auf einer der Gartenbänke zusammen. Ist sie tot oder simuliert sie nur? Wie Kai aus der Kiste springt die tot geglaubte Alice quicklebendig mitten hinein ins Geschehen. Zwar mit rußgeschwärztem Gesicht, aber einem spöttischen Lächeln auf den Lippen. Sie scheint sich sicher zu sein, dass das Haus der Chesters nun ihr gehört und reißt die Haustür mit einem Schwung auf… Miriam lächelt indes versonnen in sich hinein und öffnet ihren Mantel, unter dem ein Glitzerkleid hervorlugt. Es hat den Anschein, als wolle sie den von ihrem Vater streng verbotenen Discobesuch nun endlich nachholen. Doch das Lächeln gefriert auf ihrem Gesicht, als sie sieht, dass Mr. Chesters Schaukelstuhl vor dem Haus sich auf einmal rhythmisch hin und her bewegt. Ist der Alte von den Toten wieder auferstanden, ist er gar nicht tot oder treibt er jetzt als böser Geist sein Unwesen? Wir verabschieden uns mit einem leicht abgewandelten Zitat von Bertold Brecht: „Und damit ziehen wir betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen…“

„Es tut mir leid, Miriam, die Zeit mit Vater muss schlimm gewesen sein.“

So endet der von Alan Ayckbourn raffiniert in Szene gesetzte Thriller. Ja, wer ist denn nun die Schlange, welche den Autor zu seinem Titel inspirierte? Wir, die das Privileg besaßen, zur Premiere geladen zu werden, verraten natürlich nichts. Unsere Lippen bleiben versiegelt. Lieber Fan des English Theatre, beeile Dich mit dem Kauf eines Tickets, damit Du die Auflösung dieses diabolischen Rätsels selbst erleben kannst. Zurzeit können coronabedingt nicht alle Plätze des Theaters besetzt werden. Dennoch ist der Genuss am Stück mindestens ebenso groß wie in einem voll besetzten Haus.

Die Rezensentin hat diesen Krimi über die Maßen genossen, zumal die spannende Handlung mit vielen humorvollen Ingredienzien gewürzt ist. Wohl dosiert und dadurch besonders effektvoll. Als ehemalige Florettfechterin hat sie die eingebauten Finten des Autors goutiert: Wenn du denkst, der Gegner sticht frontal zu, trifft er dich in der Flanke. Wer da nicht aufpasst, verliert im Kampfsport nur Punkte. In früheren Zeiten konnte eine Sekunde Unaufmerksamkeit den Fechter allerdings das Leben kosten.

Last but not least: Alle Daumen hoch für das fantastische Trio auf den Brettern des English Theatre.: Debbie Radcliffe als damenhafte Anabel, Jan Hirst in der Rolle der verhuschten Miriam und Joanne Hildon als Alice, das hinreißende „blonde Gift“ mit Yorkshire Zungenschlag. Regie: Altmeister Robert Rumpf.

Ganz zum Schluss noch ein paar Takte über Alan Ayckbourn, den vielleicht „fruchtbarsten“ lebenden britischen Stückeschreiber. 1939 in London geboren, blickt er auf über sechzig Jahre Theaterpraxis zurück, als Autor und Spielleiter gleichermaßen. Also eine echte „Rampensau“, wie man dermaßen verdiente Künstler im etwas hemdsärmeligen Theaterjargon zu nennen pflegt. Eigentlich gilt dies nur für die Akteure auf der Bühne. Doch Alan Ayckbourn verleihen wir diesen Titel aufgrund seiner Verdienste um die Bretter, die die Welt bedeuten. Erinnern wir uns doch an die größten Erfolge des Mannes mit dem verschmitzten Lächeln: „Relatively Speaking“, „A Small Family Business“, „Communicating Doors“ und „Season’s Greetings“ zählen zu seinen erfolgreichsten Stücken, die es auf viele Bühnen der Welt geschafft haben. Auch auf deutsche. Hoffen wir, dass uns der Autor noch recht lange erhalten bleibt, um uns mit weiteren witzig-ironischen Stücken zum Lachen und Nachdenken zu bringen.

 

„Snake in the Grass“ läuft bis einschließlich 31. Oktober 2020

Tickets unter der Telefonnummer 040-227 70 89 oder online unter www.englishtheatre.de

Nächste Premiere: „Shirley Valentine“ von Willy Russell am 12. November 2020

Hinweis: Leider müssen sich die Besucher des TET auf Weisung der Regierung während ihres Aufenthaltes im Theater maskieren. Dem Kunstgenuss tut diese Einschränkung keinerlei Abbruch.

(Fotos: Stefan Kock)

Psyche in Zeiten von Corona

Kommentar zu Robert Bering & Christiane Eichenberg (Hg.). Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise. Klett-Cotta, Stuttgart, 2020 

Die Herausgeber Bering und Eichenberg legen mit dem vorliegenden Band, auch wenn dieser einige sinnvolle Kapitel enthält, einen Schnellschuss vor, der sich (die Hände in Unschuld) gründlich gewaschen hat und sich liest, als habe er jahrelang bereit gelegen, um nun rasch Corona ins Betreff zu setzen. Merkwürdig, dass die akademische Psychologie so still war zum 11. September 2001, zur Einführung von Hartz IV, zur Finanzkrise 2008. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass hier wie dort willfährige Vollstrecker am Werke sind, die psychisch relevante Themen wie etwa die Ein- und Ausflüsse sogenannter globaler Eliten (vgl. Neckel et al. 2018) und „think thanks“ (Bertelsmann vor Corona: 30% der Krankenhausbetten bitte abbauen!) konsequent meinen aussparen zu können.

Wissen

Ein etwaiger Vorwurf des (Kultur-)Pessimismus der hier formulierten Einwände gegen eine Über-Therapeutisierung des Alltäglichen mag unvermeidbar sein, doch, wie der Heidelberger Psychoanalytiker Werner Balzer ganz zutreffend bemerkt, „als Bannfluch verdankt sich dieser Vorwurf selbst einem Ressentiment, einer affirmativen Fortschrittsmelodie, die für sich genommen noch keinerlei starke Argumente enthält“ (Balzer 2020, 11). Also gemach: wir wollen Coronaviren nicht in Frage stellen – das wäre töricht. Es ist hingegen sehr wahrscheinlich, dass die zurzeit in Rede stehende Variante nicht nur existiert, sondern auch gefährlich sein kann – nur wissen wir, die Öffentlichkeit, es eben nicht. Es kann von uns gar nicht gewusst werden. Doch auf die Idee, dass wir viel weniger wissen als wir zu wissen meinen, kommt auch der vorliegende Band nicht. Woher beziehen wir denn unser Wissen? Über die Bilderflut der Medien, die das Bild zwar vom Wort begleiten, es aber, wie nie zuvor, wirken lassen, unverhohlen behauptend: die Kamera lügt nicht. Doch ist es, so er existiert, immer der sprachliche Kontext, der entscheidend ist für irgendein Verstehen. Gleiche Bilder mit ganz unterschiedlichen Texten führen zu komplett konträren Interpretationen. Interessant ist ohnehin eher, welche Bilder nicht gesendet werden. Und so mutet es seltsam an, wenn Kapitel des in Rede stehenden Bandes mit Begriffen wie „Psychoinformation“ und „Wissen“ als resilientem, ja emanzipatorischem Ansatz aufwarten, ohne geklärt zu haben, um welches Wissen es sich überhaupt handelt (vgl. Egloff & Djordjevic 2020), diese vor allem aber kaum imstande sind zu halten, was sie zu versprechen antreten. So bleiben fast alle bearbeiteten Themen des Bandes unterkomplex, weil jene Zusammenhänge nicht ausreichend beleuchtet werden, in denen Mediales einerseits Wirklichkeit widerspiegelt, andererseits ebenso rasch ein Eigenleben gewinnt (Janus et al. 2020). Im ersten Teil wagt lediglich das Kapitel von Beck mit der Nennung von Günther Anders einen Schritt in die richtige Richtung. Doch haben wir es längst mit Verhältnissen zu tun, die Anders kaum erahnen konnte; so bewegen wir uns mittlerweile global im medialen Raum von Hyperrealität: ,„Hyperreality is a consequence of the expansion of technological communication systems that enable us to be globally connected” (Finkelstein 2007). Diese muss in jedem gesellschaftlichen Ereigniszusammenhang mitgelesen werden.

Medien

Ein Kapitel des Bandes rät gar zu Information mittels vorzugsweise öffentlich-rechtlicher Medien, jenen Medien, die seit Monaten rund um die Uhr ängstigende Infektionszahlen zu senden imstande sind, ohne irgendeine Inbezugsetzung zur täglichen Anzahl von Todesfällen in Vergleichsjahren vorzunehmen. Dass nicht nur diese Thematik hochgradig einseitig gehandhabt wird, ist mittlerweile bekannt, hierzu gäbe es dutzende Belege. Wo alle einer Meinung sind, wird wenig gedacht, soll Georg Christoph Lichtenberg festgestellt haben.

In beschleunigten Zeiten eine Ewigkeit ist es her, dass die Einführung des Privatfernsehens diskutiert wurde und die nordrhein-westfälische SPD seinerzeit verdienstvollerweise auf Kulturfenster bei den Privatsendern bestand. Diese Sender haben so oder so frischen Wind ins Fernsehen gebracht, teils mit geradezu subversiven Sendungsformaten, bis nach und nach das Niveau in sehr tiefe Täler abgesenkt wurde, was die Öffentlich-Rechtlichen auf ihren Hauptsendern in nicht unerheblichem Ausmaß und ohne jeden Finanzdruck meinten mitgehen zu müssen. Wir wurden Zeugen derer Einverleibung durch die Systemlogik, sodass über kurz oder lang entscheidende neue Impulse aus alternativen Medien kommen mussten. Wenn überhaupt, dann also bitte Öffentlich-Rechtliche zusammen mit privaten und alternativen Medien als Informationsquelle konsumieren! Man war auch früher schon gut beraten, Ost- und Westfernsehen zu mischen. Ob die Payback-Gesellschaft dies zu reflektieren imstande ist, ist fraglich – Payback bedeutet eben Revanche, und nicht etwa gütliche Rückzahlung.

Psychismus und empirische Wirklichkeit

Keine Frage, ältere und vulnerable Bevölkerungsgruppen zu schützen ist eine gute Idee, insofern konnte man einen „Lockdown“ ein Stückweit schon rechtfertigen. Etikettierungen gegenläufiger Einschätzungen als Verschwörungstheorie bleiben aber allzu oft undifferenziert, und aus dem akademischen Umfeld sollte allemal mehr zu erwarten sein (vgl. Agamben 2020). Unser „alter ego“ steht zumal ohnehin immer bereit, das Gegenteil des scheinbar Vernünftigen zu vollziehen (vgl. deMause 2000). Also: ganz grundsätzlich sollte man bei Etikettierungen als Verschwörungstheorie Vorsicht walten lassen –  wer hätte Befürchtungen um Leib und Leben deutschen Juden in der Weimarer Republik Verschwörungstheorie heißen wollen? Empirische Wirklichkeit würde sonst nur noch zu einem Psychismus, der mittels der richtigen Sprache zu korrigieren ist und in dem nicht einmal mehr der Versuch unternommen wird Realität zu ergründen, sondern jede Epistemologie komplett aufgegeben wird.

Und so werden im Band nicht selten Psychisches und empirische Wirklichkeit durcheinander gebracht. Auch Opfer sein wird da mal eben zu einem solchen Psychismus, mittels dessen empirische Wirklichkeit gegen Opfer gewendet und verwendet wird. Schon mal dran gedacht, möchte man fragen, wie gesellschaftliche Verwerfungen mit dem Aufstieg einer neuen Traumatologie zusammenhängen könnten? So wie Kindersymptomatiken oft durch die Behandlung der Eltern verschwinden, schaffen wir einen eben nicht kleinen Teil psychischer Problematiken selbst: Ein zunächst gut gemeinter und teilweise notwendiger äußerer Strukturverlust in den westlichen Gesellschaften ist mittlerweile zu einem inneren geworden, in dem nahezu jeder weitere äußere als normal erscheint (vgl. Egloff 2020). So war es bspw. für einen deutschen Spitzenmanager in den 80er Jahren schlicht nicht möglich, mehr Einkommen als Springer-Vorstand Peter Tamm zu erzielen. Was früher Neurose hieß, ist zur strukturellen Störung geworden, in der statt der neurotischen nun die perverse Lösung bevorzugt wird (vgl. Oberlehner 2011) bzw. die Lösung von Symbolischem und Realem und damit Imaginärem und Realem erfolgt (Rouse & Arribas 2011), eine bedenkliche Entwicklung, die auch aus ganz anderer Perspektive bestätigt wird (vgl. Sarraf et al. 2019). Nicht so in diesem Band: fast alles wird „manageable“. Virtualität ist nach dieser Lesart psychisch gar kein Problem, so smart vernetzt sind wir… Dagegen spricht sehr Vieles (vgl. Fuchs 2014).

Zum Schluss

Die ganz große Müllflut durch Kaffeebecher-to-go entstand bei uns erst, als die Alt-Damen-Cafés schließen mussten – weil Hipster sie nicht mehr hip finden wollten. Ciao Porzellan – willkommen, lieber Pappbecher! Die Inhalte des Bandes sind somit nicht etwa falsch, eher unterkomplex, rekurrieren vor allem aber nicht auf die eigenen Bedingtheiten. Oberflächenphänomene in Zusammenhängen zu denken und in historischem Kontext auszuwerten, da gibt es noch eine ganze Menge zu tun (vgl. Lentricchia & McAuliffe 2003); auf wenigen Textseiten ist dies bspw. vorbildlich für die Fernsehserie „Game of Thrones“ vollzogen worden (Janus 2020).

Doch letztlich ist der vorliegende Band in guter Gesellschaft. Auch kluge Köpfe wie Martin Dornes sind schon in die postmodernen Fallen des Positivismus getappt (Egloff 2015), und auch das „electronic tribe“ greift allzu gern zum alten Hut, der so gut sitzt (vgl. Lentricchia 1991). Daher gilt: Wer von Hyperrealität nicht sprechen will, sollte von Gesellschaftsphänomenen schweigen. Anzumerken bleibt, dass für manche sozial-helfenden Berufe der Band gewiss hilfreiche Anregungen bietet, die sich im dritten Teil finden; der zweite Teil zu therapeutischen Adaptationen bleibt dünn und wenig tragfähig.

Die gelungenen Strecken des Bandes, wenn es bspw. um vulnerable Gruppen geht, und um Arbeitslosigkeit, sind durchaus nützlich, und es gibt gute Kapitel wie das von Vlasak und Barth; andere braucht fast niemand. Bei forscherischem Interesse und für gesellschaftliche Hintergründe besser lesen: „Das Sensorische und die Gewalt“ von Werner Balzer, oder auch „White Noise“ von Don DeLillo.

 

Literaturhinweise:

Agamben G (2020). Das Denken muss sich befreien, und die Feier des Kultes muss ein Ende haben.      Neue Zürcher Zeitung, 14.5.2020.

Balzer W (2020). Das Sensorische und die Gewalt. Zum Seelenleben im digitalen Zeitalter. psychosozial, Gießen.

deMause L (2000). Was ist Psychohistorie? psychosozial, Gießen.

Egloff G (2015). La bête noire. In: Psyche – Zschr Psychoanalyse 69, 8, 756-765.

Egloff G (2020). Don DeLillo, White Noise (1984). In: Egloff G. Culture and Psyche. Lambert, Beau Bassin, 111-124.

Egloff G, Djordjevic D (2020). Preface. In: Egloff G, Djordjevic D (eds.). Pre- and Postnatal Psychology and Medicine. Nova Science, New York, VII-XVII.

Finkelstein J (2007). The Art of Self-Invention. I.B. Tauris, London/New York, 157.

Fuchs Th (2014). The Virtual Other: Empathy in the Age of Virtuality. In: J Consciousness Studies 21, 5-6, 152-173.

Janus L (2020). Nutzung der Pränatalen Psychologie zu einem vertieften Verständnis der Serien „Game of Thrones“ und „The Walking Dead“. In: Janus L. Texte zur pränatalen Dimension in der Psychotherapie. Mattes, Heidelberg, 172-190.

Janus L, Linderkamp O, Djordjevic D, Egloff G (2020). Einflüsse des Pränatalen in Psychosomatik und Gesellschaft. In: gyn – Prakt Gynäkol 25,1, 53-55.

Lentricchia F (1991). Tales of the Electronic Tribe. In: Lentricchia F (ed.). New Essays on White Noise. Cambridge UP, Cambridge/New York, 87-113.

Lentricchia F, McAuliffe J (2003). Crimes of Art and Terror. Chicago UP, Chicago.

Neckel S, Hofstätter L, Hohmann M (2018). Die globale Finanzklasse. Campus, Frankfurt.

Oberlehner F (2011). Von der Normalneurose zur Normalperversion. In: Langendorf U, Kurth W, Reiss H, Egloff G (Hg.). Wurzeln und Barrieren von Bezogenheit. Mattes, Heidelberg, 275-291.

Rouse H, Arribas S (2011). Egocracy. Marx, Freud and Lacan. diaphanes, Zürich.

Sarraf MA, Woodley of Menie MA, Feltham C (2019). Modernity and Cultural Decline. A Biobehavioral Perspective. Palgrave Macmillan, Cham.

 

 

Dreizehn Kilometer Poesie

Foto: Martin Lowsky

Eine Wanderung auf dem Klaus-Groth-Weg
Spätestens seit dem Gottesdienst zur Beerdigung von Helmut Schmidt ist nicht nur Hamburgern der Name Klaus Groth geläufig. Hatte doch Schmidt selbst verfügt, man möge die Vertonung von Groths plattdeutschem Gedicht „Min Jehann“ im Michel singen.

Groths bekanntestes Gedicht ist jedoch wohl die kurze Ballade von „Lütt Matten de Has“, in der der böse Fuchs den gutgläubigen Hasen verspeist. Weitgehend unbekannt jedoch ist Groths Prosawerk „Min Jungsparadies“, in dem er Kindheits- und Jugenderinnerungen aus dem kleinen Dithmarscher Ort Tellingstedt beschreibt. Nach wie vor berühren diese Aufzeichnungen vom Glück und Leid des Erwachsenwerdens den Leser und lassen ihn an eigene Erfahrungen zurückdenken.

Groth ist in jungen Jahren häufig vom Elternhaus in Heide zu Fuß nach Tellingstedt gewandert, um dort Onkel und Tante zu besuchen und jugendliche Freiheit zu genießen.

Tellingsted weer wit nog, dat man nich jüs mit sin Botterbrot inne Hand sik hineten kunn doch weert ok nich so wit, dat nich en Jung mit sin egen Been un Handstock, as de Tellingsteder sän, dar hin harrn much, wenn´t ok en Reis weer vun enige Stunn.

Diesen mittlerweile gut ausgeschilderten Klaus-Groth-Wanderweg kann man nun selbst nachgehen, auf den Spuren des großen Dithmarscher Dichters. An einigen Tagen im Jahr wird eine geführte Wanderung angeboten. So auch am 28. Juli 2020. Einheimische, Touristen, drei zugereiste Hamburger und ein Hund fanden sich am Startpunkt in Süderholm ein. Es herrschte allerbestes Wanderwetter, Sonne und Wind, weißblauer Himmel (wie bei uns zuhause, merkte ein bayrisches Ehepaar an).

Nach einer kurzen Einführung in die Biografie Groths und der beruhigenden Auskunft, dass es nicht darum gehe, möglichst schnell möglichst viel Strecke zu machen, sondern den Zweiklang von Landschaft und Poesie zu genießen, ging es los.

Der Weg führt durch Wald, Moore und Wiesen und bietet immer wieder weite Ausblicke in die unaufgeregte Dithmarscher Landschaft. Gerade für großstadtgeplagte Hamburger eine Erholung für die Seele. Der ortskundige Führer machte während der gut dreistündigen Wanderung immer wieder auf landschaftliche und historische Besonderheiten aufmerksam und rezitierte Texte von Groth. So bekamen die Teilnehmer das Gefühl, ganz dicht auf den Spuren eines Dichters zu wandeln.

Am Endpunkt, in Tellingstedt, wurde eingekehrt. Döner, Pizza und Eis brachten die müden Wanderer, zwei ausgezeichnete Würstchen den Hund wieder in Form. Und an allen Tischen fiel der Satz: Nächstes Jahr bin ich wieder mit dabei.

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Eine hochdeutsche Übersetzung vom „Jungsparadies“ erscheint demnächst  im elbaol verlag hamburg.

Auskunft über die nächste geführte Wanderung im September erteilt die Touristinformation Heide

Am Anfang stand ein Football-Spiel

Foto: JeppeSmedNielsen auf Pixabay

Bei einem Football-Spiel im Herbst des Jahres 1891 lernten sich der vor 150 Jahren, am 23. Januar 1870, in Lockport, New York, geborene William G. Morgan und der gut acht Jahre ältere James Naismith kennen.

Naismith, damals Assistenztrainer der Football-Mannschaft der International YMCA Training School, dem heutigen Springfield College, schlug dem großen, starken, sportlichen damals 21-jährigen Sohn eines Bootsbauers vor, von der Mount Hermon School in Northfield an die ebenfalls in Massachusetts beheimatete sportpädagogische Ausbildungsstätte der Young Men’s Christian Association (YMCA), in Deutschland besser bekannt als Christlicher Verein Junger Menschen (CVJM), zu wechseln. Morgan folgte dem Rat 1892 und lernte dort das von Naismith 1891 erfundene Basketball intensiv kennen.

Nach seiner Ausbildung arbeitete Morgan ab 1894 als Physical Director für den YMCA. In Holyoke im Hampden County, Massachusetts, hatte er es mit relativ vielen weniger robusten, unsportlicheren oder schon etwas älteren Menschen zu tun und suchte nach einer sanften Alternative zu Naismiths Basketball für diese Klientel. Er selber formulierte es wie folgt: „Basketball schien für jüngere Männer geeignet, aber es gab das Bedürfnis nach etwas für die älteren, das nicht so rau und anstrengend war. Ich dachte an Tennis, aber da brauchte man Schläger, Bälle, ein Netz und weitere Ausrüstung.“ Morgan mischte Tennis und Basketball mit American Handball, Badminton, Federfußball und Faustball. Heraus kam Volleyball.

Im Gegensatz zum Tennis kommt dieser Sport nicht nur ohne Schläger aus, sondern braucht auch vergleichsweise wenig Fläche pro Spieler. Dieses gilt insbesondere für die Urfassung, in der die Größe der beiden Mannschaften nicht festgelegt war. An die Stelle der Tennisbälle ist der spezifische Volleyball getreten, eine Neuentwicklung, die sich vom Basketball insbesondere durch ihr geringeres Gewicht unterscheidet.

Das 1895 entwickelte Spiel wurde im Folgejahr der Öffentlichkeit vorgestellt. Auf einer Versammlung der sportlichen Leiter der YMCA in Springfield konnte Morgan seine Erfindung Multiplikatoren am 7. Juli 1896 präsentieren. Die Zeitschrift „Physical Education“ informierte ihrer Leser über das neue Spiel in ihrer entsprechenden Monatsausgabe.

Es begann ein Siegeszug dieses schönen Spiels um die Welt, den Morgan nur noch teilweise erlebte. Er starb am 27. Dezember 1942 in seinem Geburtsort.

Die Wirrnisse des Alltags

Lilo Hoffmanns neuer Roman spielt in Eimsbüttel, Lokstedt und St. Pauli.

Erst vergisst sie ein Kind aus ihrer Gruppe auf dem Spielplatz und dann fährt ihr auch noch so ein Modepüppchen ins Auto – die Woche fängt ja gut an!
Als Leserin bin ich sofort in der Geschichte, die so temporeich beginnt. An der Seite der Erzieherin Iris geht es, zeitweilig mit einem Eierlikör gestärkt, weiter durch deren turbulente Tage, eben wie im echten Leben. Vor der Lokalkulisse Hamburgs erzählt Autorin Lilo Hoffmann die Ereignisse zweier sehr verschiedener Mitbewohner – von denen eine das Modepüppchen werden wird – und die Erlebnisse der Hauptperson Iris. Deren Freund Alex war am Anfang ganz hinreißend und ist nun eher ins Vage abgedriftet, bevor er sie mit einer nicht vorhersehbaren Lebenswendung überraschen wird. Neben Modepüppchen Dana, ihres Zeichens Radiomoderatorin und mit schrägen Typen bekannt, kommt Iris sich manchmal wenig hip vor, bis sie herausfindet, dass da auch nicht alles Gold ist, was glänzt. Die Eierlikör-Tradition ihrer Großmutter bildet eine stabilisierende Konstante für Iris und erfreut die Leserin gleichermaßen. So treibt das Leben Iris in diverse lustige und weniger lustige Situationen, es geht um Abschiede und (neue) Freundschaften, um dumme und schöne Zufälle. Iris gibt sich keine Mühe, die hippe Großstädterin zu geben, sondern schaut mit sympathischer Verwunderung und vielleicht ein wenig heimlicher Verehrung Danas Treiben zu. Sie verbiegt sich nicht, sondern bleibt sich treu und verweigert sich auch mal, wenn es ihr zu bunt wird. Ich habe dieses Buch gern gelesen, mit Iris mitgefiebert und ihr das Beste gewünscht, das sie meiner Meinung nach unbedingt verdient hat. Eine wunderbare Lektüre zur Entspannung, vielleicht mit einer Tasse Kaffee – oder einem Eierlikör.

 

Lilo Hoffmann: Wenn das Chaos perfekt ist
Verlag Tinte & Feder, 2020, 283 Seiten
Taschenbuch und E-Book

A touch of London’sWest End: The English Theatre of Hamburg

The English Theatre of Hamburg is Hamburg’s own little West End stage. Those are words expressed by the acting community in London as well as by guests of the theatre who draw direct comparison to the high quality productions  being presented here and current theatre productions in London’s West End.

British actors flown in from London to perform on a Hamburg stage. A new cast for every production. A wide variety of current and classic plays. Well balanced seasons with comedies, dramas, thrillers and every so often a musical. Yes, we can be very proud of this gem of a theatre situated in central Hamburg.

New: Online Stream

As a response to the lockdown due to the current pandemic The English Theatre of Hamburg responded quickly by offering the option to stream selected productions online. Starting with APOLOGIA in April, since the run of the play was cut short, enabling everyone to see this brilliant production from the comfort of their own home. In May three more productions were streamed – the critically acclaimed off Broadway musical I LOVE YOU, YOU’RE PERFECT, NOW CHANGE. The European premiere of the new thriller by James Cawood  DEATH KNELL. And the show CLASSIC BLUES WOMEN written and performed by JOANNE BELL. In June the theatre presents the farce DON’T LOSE THE PLACE and the wonderful play ORPHANS for which the actor Christopher Buckley received the HAMBURGER THEATERPREIS ROLF MARES 2017 for best actor.

Please support The English Theatre of Hamburg

Even though new ideas are being developed by the theatre’s creative team and staff they are still very dependent on our support and help. So, if you can, make a donation to The English Theatre of Hamburg to help them through these hard times and make sure they are still here for us when the theatres are allowed to open again. We are very much looking forward to many wonderful theatre evenings in the future in our own English Theatre of Hamburg. By the way, what about buying some gift vouchers for your friends who will be happy to enjoy an inspiring performance on our stage. Thank you very much indeed for your help.

Link to the Website of The English Theatre and Streams: https://www.englishtheatre.de/

Contact and information:

Luciano Di Gregorio
Marketing
The English Theatre of Hamburg
Lerchenfeld 14
22081 Hamburg
Phone 040 / 411 685 01
Fax 040 / 229 50 40
marketing@englishtheatre.de

Written by Luciano Di Gregorio and Uta Buhr

Ein Hauch von Londons West End im English Theatre of Hamburg

The English Theatre gilt seit Langem als Hamburgs kleine „West End-Bühne.“ So wird das Theater sowohl von der Londoner Schauspielszene als auch von den zahlreichen internationalen Zuschauern wahrgenommen. Diese sind begeistert von der hohen Qualität der Produktionen auf der Hamburger Bühne.

Das Theater engagiert für jede neue Produktion gestandene Schauspieler, die stets in London gecastet werden, bevor sie ihr Gastspiel in Hamburg antreten. Eine Vielzahl unterschiedlichster Genres wie Thriller, Komödien, Dramen, Klassiker und gelegentlich auch Musicals gestalten jede Theatersaison. Hamburg kann stolz auf diese Perle sein, die das kulturelle Leben der Stadt bereichert.

Neu: Online-Stream

Die durch die Corona-Pandemie erzwungene Schließung ist auch für das English Theatre sehr schmerzlich. Aber Krisenzeiten müssen bewältigt werden. Und so hat sich die Intendanz zusammen  mit ihrem engagierten Team dazu entschlossen, ihre Produktionen dem Publikum als Online-Stream anzubieten. Begonnen haben wir mit dem zum Zeitpunkt des Lockdowns laufenden Stückes APOLOGIA. Ebenfalls gestreamt wurden die von der Kritik gefeierten Produktionen I LOVE YOU, YOU’RE PERFECT, NOW CHANGE, die europäische Premiere von James Cadwoods Thriller DEATH KNELL sowie die Show CLASSIC BLUES WOMEN von Joanne Bell. Der Zuschauer kann diese Stücke jetzt gemütlich im eigenen Wohnzimmer genießen. Im Juni fügten wir unserem „Corona“-Programm die Farce DON’T LOSE THE PLACE von Derek Benfield und das hinreißende Stück ORPHANS von Lyle Kessler hinzu. Christopher Buckley wurde für seine Darstellung in diesem Drama mit dem Hamburger Theaterpreis Rolf Mares 2017 als bester Schauspieler geehrt.

Bitte unterstützen Sie das Theater

Das Theater ist zurzeit damit beschäftigt, neue Konzepte zu entwickeln. Diese kosten Geld. Um die Bühne des English Theatre nach Corona erneut bespielen  zu können, sind wir auf die Unterstützung unserer Fans angewiesen. Jede Spende ist willkommen und hilft uns, den Spielbetrieb nach der Wiedereröffnung der Theater wie gewohnt aufzunehmen. Bedenken Sie, wie wichtig es ist, dieses Kleinod in der Hamburger Kulturlandschaft am Leben zu erhalten. Übrigens – wäre es nicht eine gute Idee, dem einen oder anderen Ihrer Freunde mit einem Geschenkgutschein eine Freude zu machen. Auch mit dieser Geste würden Sie uns sehr helfen. Vielen Dank im Voraus!

Hier kommen Sie zur Website des English Theatre und zu den Streams: https://www.englishtheatre.de/

Weitere Informationen und für Rückfragen:

Luciano Di Gregorio
Marketing
The English Theatre of Hamburg
Lerchenfeld 14
22081 Hamburg
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Text: Luciano Di Gregorio und Uta Buhr

Kampfplatz Stadtpark

Hamburg Barmbek und Umgebung in Trümmern (Archiv: Cropp)

Im Juni waren Ritterspiele angesagt: König Artus in Mitten seiner Tafelrunde. Zumindest Prinz Eisenherz wollte jeder sein. Vorher wurde Cowboy und Indianer gespielt. Meist kämpften dann General Custer gegen Sitting Bull. Im April war „Kippel Kappel“ dran, dabei wurden regelmäßig mehrere Fensterscheiben in der Neuen Wöhr und dem Albers-Schönberg-Weg zerschlagen. Eigentlich gingen gar nicht so viele Scheiben drauf, weil die meisten Straßen Barmbeks mit Ruinen umsäumt wurden.

Ruinen waren der spannendste Spielplatz. Ein Spielplatz, den uns Eltern und Lehrer der Schule Fraenkelstraße fast täglich aufs Neue verboten haben. Natürlich hielten wir uns nicht an die Mahnung. Doch zur Not hatten wir immerhin noch den Stadtpark, um uns auszutoben. Wir, das war eine Gang von 15 „Blutsbrüdern“, was den eingeschworenen Haufen nicht hinderte, sich bisweilen auch mal untereinander ordentlich zu zoffen. Die Gang stammte aus meiner Straße, dem Albers-Schönberg-Weg, der Neuen Wöhr und „harten Jungs“ aus den Nissenhütten und Baracken um den Theodor-Rumpel-Weg.

Hamburg Barmbek und Umgebung in Trümmern (Archiv: Cropp)

Wir Jungs aus dem erhaltenen viergeschossigen Block bewunderten die Barackler. Sie waren stärker, hart im Nehmen, schneller, hatten die besten Spielideen. Wären sie nicht in unserer Gang gewesen, wir hätten  die Straßenschlacht neulich gegen die Dennerstraße glatt verloren. Addi und sein kleiner Bruder Rolf kämpften, wie die meisten Barackler, barfuß, mit Pfeil und Bogen, und Katapulten, die besser und weiter schossen als unsere. Sie luden die Schleudern gleich mit Steinen, während wir mit Erbsen schossen. Als Karl, dem Anführer der Dennerstraße, ein Auge ausgeschossen wurde, mischte sich die Polizei ein. Aber wir hatten gewonnen und zogen wie Helden durch die Gassen, respektiert und geachtet. Weder auf dem Schulhof noch auf den abendlich-dunklen Straßen trauten sich gegnerische Jungs uns anzugreifen.

In Barmbek herrschte im Juni 1951 gespenstische Ruhe. Unsere Gang suchte das Abenteuer mal wieder in den Trümmern. Dort machten die Barackler die tiefsten und geheimnisvollsten Verstecke aus … Als Georg, mein rechter Banknachbar in der 5 B, wegblieb und am nächsten Tag Paul, machten uns die Spiele in den Ruinen doch Angst. Georg und Paul waren unter den Trümmern begraben worden. Mein bester Freund Paul, mit dem ich nach der Schule am Stadtparksee Ringkämpfe austrug, weil wir das stärkste Team sein wollten, war jetzt tot! 

Ein toller Spielplatz!
Stadtpark in der Rhododendronblüte (Foto: Cropp)

Addi bestimmte, die Ritterspiele zu verlegen. Und zwar in den Stadtpark. Dorthin, wo die Rhododendren am dichtesten standen. Ich war, zwar in Hamburg geboren, erst vor einem Jahr mit meinen Eltern aus Wenzendorf vom Land in die Stadt gezogen. In unserem Dorf gab ich bei den Jungs den Ton an, und es gefiel mir ganz und gar nicht, dass Addi uns herumkommandierte, auch wenn er der Boss war. Alle folgten ihm. Missmutig trottete ich mit. Bewaffnet mit Schildern aus Türblättern oder breiten Dachlatten und Schwertern, spitz und scharf geschnitzte Besenstiele, im Hosenbund Holzdolche, so zogen wir die Alte Wöhr hinunter, am S-Bahnhof  Stadtpark vorbei, zum Park. Erwachsene schüttelten entgeistert die Köpfe. Was heckten die Gassenjungs Barmbeks denn da schon wieder aus?

Blick auf das Planetarium, Stadtpark Hamburg (Foto: Cropp)

An der Saalandstraße begann der Stadtpark. Unweit davon, am Wasserturm (dem heutigen Planetarium), standen die großen, dichten Rhododendren in prächtiger Blüte, weiß und rot. Vor dem Blätterwald machten wir halt, schauten uns verstohlen um. Auf ein Zeichen von Addi schlüpften wir ins Dickicht wie Füchse in den Hühnerstall. Der Rhododendrenwald umschloss uns wie ein mächtiger, schummrig-grüner Dom. Natürlich war es verboten in den Rhododendren herumzutoben. Doch wir wollten nicht toben, wir wollten als König Artus Ritter die Feinde aus Thule verjagen. Jetzt musste ich Addi Recht geben, in den Rhodos des Stadtparks konnte man Thule am besten verteidigen! Erst einmal schwärmten wir aus und erkundeten zwei geeignete Bäume. Einen als Burg Camelot für die Ritter um Artus und Prinz Eisenherz. Einen als Lager für die Feinde. Ein Rhodobaum mit oberschenkeldicken Stämmen, in tief roter Blüte, wurde die Burg König Artus. Addi ließ zwischen die Äste eine Wolldecke spannen und hockte sich auf seinen Helm, einen weißen Nachttopf, den er seinem jüngsten Bruder weggenommen hatte.

„Hoffentlich ist euer Lager bald fertig!“ rief er in meine Richtung. Ärgerlich schaute ich zu ihm rüber, wie er da unter dem Baldachin saß und sich wie ein King aufführte, sich wahrscheinlich irre mächtig fühlte. Addi hatte sich mir nichts dir nichts zu König Artus erklärt, und mich mit sieben Jungs zu den bösen Hunnen. Das brachte mich auf die Palme!

 Auf in den Kampf

„Los, lasst uns diesen Busch als Lager nehmen, dann greifen wir an und schmeißen die Ritter aus der Burg“, machte ich meinen Freunden Mut. Der Rhodostrauch war etwas schüttern, und die mitgebrachte Pappe nur notdürftig als Dach zu befestigen. Als Feldlager der Hunnen, die anzugreifen hatten, reichte es allemal. Addis Ritter, immerhin acht „Recken“, hatten leichtsinnigerweise ihre Waffen abgelegt und sich zur Beratung um Artus geschart, als wir mit wildem Geheul aus dem Gestrüpp brachen und über die Gegner herfielen. Im Kampfgetümmel versuchten wir die Ritter umzuwerfen und mit dem Schwert auf die Brust gedrückt, in Schach zu halten. Bei Vieren gelang das auch. Sie lagen auf dem Rücken, wie umgeworfene Suppenschildkröten und jammerten. Addi hatte jetzt den Pisspott auf dem Kopf, Schwert und Schild am Körper und drosch wie ein Berserker auf zwei meiner Angreifer ein. 

Wenn Rhododendren weinen

Besenstiele krachten gegeneinander und barsten. Derbe Stöße wurden mit den Schildern abgewehrt. Schläge und Stöße prasselten schmerzhaft auf Arme und Oberkörper. Addi wurde der Helm weggeschlagen. Gerade bekam er einen Hieb auf den Kopf. Wir waren mitten im Schlachtengetümmel und es machte einen mords Spaß. Rechs und links flogen Blüten und kleine Äste durch die Luft. Dicke Äste knackten, wenn einer dagegen flog. Zartere Rhodos sahen bald aus wie gerupftes Federvieh. Einige der eben noch kampfunfähig liegenden Ritter hatten sich befreien können, aufgerappelt und warfen sich brüllend und fechtend auf meine kleine Horde wilder „Hunnen“. Besenstiele knallten gegeneinander, und es klang wie das „Singende Schwert“ von Prinz Eisenherz, der drei Gegner gleichzeitig abwehrte. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass die Burg jetzt unbewacht war. Ich rief: „Peter!“ und zeigte nach rechts. Er kapierte sofort. Wir stürmten zur Burg, unter den Baldachin. Damit war die Tafelrunde eingenommen worden. „Gewonnen!“ stießen wir aus. Addi ließ vom Gegner Werner ab, und schlug zerknirscht einige Zweige nieder. Mit unserer so plötzlichen Einnahme hatte er nicht gerechnet. Keinesfalls wollte er sich geschlagen geben. „Revanche!“ keuchte er, „ihr müsst uns noch mal angreifen.“ „Nee, Addi, jetzt sind wir die Ritter. Ihr greift an,“ widersprach ich. „Was willst du? In die Burg? Ich bleibe König Arthus, klar!“ „Du bist und bleibst `n Arschloch!“ brüllte ich zurück. In aller Ruhe legte Addi jetzt Schwert und Schild aus der Hand und kam auf mich zu, cool wie Garry Cooper in High Noon. Den Film hatten wir uns erst gestern im Gloria Palast angesehen. Hernach fühlte sich jeder wie ein als Ritter verkleideter Revolverheld.

 Kräftemessen

Addis Augen waren kleine Schlitze und kalt wie die einer Otter. „Was bin ich?“ zischte er. Er war zwar nur wenig größer als ich, aber ein erprobter Schläger, der nicht lange fackelte. Seine Position in der Gang hatte er sich erkämpfen müssen. Der Knabe kannte n’e Menge Tricks. Klar, er durfte alle Comics lesen, die da so im Umlauf waren. Schundhefte, Tarzan, Tom Prox, Akim und viele mehr, die mir meine Eltern regelmäßig wegnahmen. Sie würden verderben, hieß es. Addi war die Lektüre ein theoretisches Rüstzeug, ein „Schatz“, der mir bitter fehlte. Einen Augenblick lang überlegte ich, ihm mein Schwert gegen die Brust zu stechen und den Schild auf den Kopf zu dreschen. Unfair, aber wirkungsvoll. Doch dann merkte ich: an diesem Nachmittag, im grünen Blätterwald der Rhododendren des Hamburger Stadtparks ging es um mehr, als ums Kräftemessen. Da bot sich eine Chance, an die Spitze zu gelangen. Den Angeber Addi Weiß ins zweite Glied zu klopfen. Und das musste auf faire Weise geschehen. Zumal seine beiden „Leibburschen“ sich sofort auf mich stürzen würden. Ich war allein. Mein Freund Paul in den ewigen Jagdgründen, und die anderen hatten, wenn es um den Boss ging, sowieso die Hosen voll.
„Sag’ das noch mal, Würstchen!“ drohte er jetzt dicht vor mir. „Affenarsch!“
Meine Größe und Statur sind nicht gerade furchteinflößend. Allein schnelles Handeln und rasches Zuschlagen hatten dem anfangs als dämlich eingestuften Dorfjungen einen respektablen Platz im oberen Drittel in der Hierarchie der Barmbeker Straßengang verschafft. Diese Position galt es in jedem Fall zu verteidigen! Ich ballte meine Fäuste, spannte die Muskeln, zielte auf sein Kinn. Da spürte ich seinen rechten Fuß hinter meinen Beinen. Ein kurzer, harter Stoß, ich lag auf dem Boden. Als ich mich aufrappelte, spürte ich einen schmerzhaften Schlag auf der Nase. Blut tropfte auf meinen neuen Pullover. Augen tränten. Ich hangelte mich an einem Rhodostamm nach oben und bekam einen zweiten Schlag aufs rechte Auge. Damit war ich außer Gefecht.

„Die Hunnen greifen wieder an – klar! Der Wolf kann  als Verwunderter im Lager rumliegen!“ höhnte Addi triumphierend. Ich kroch in unser Feldlager und versuchte die blutende Nase zu stillen. Schon tobten zwischen Büschen und Bäumen die Verteidigungs- und Eroberungskämpfe in aller Heftigkeit. Blüten flogen umher wie Daunen aus einer aufgerissenen Bettdecke von Frau Holle.

Ordnungshüter

Plötzlich rief jemand: „Uddels!“
Im Nu war der Kampfplatz verwaist. Ein Polizist rannte Addi hinterher – ergebnislos. Dabei flog ihm der Tschako vom Schädel. Ein anderer baute sich über mir auf. „Na Bürschchen, dich nehmen wir jetzt mal mit auf die Wache!“ Werner krabbelte aus seinem Buschversteck und stellte sich zu mir. Wenigstens einer, der mir beistand.
„Ah, da haben wir ja noch einen Übeltäter!“ Im nächsten Moment wurde Werner am Kragen gepackt und festgehalten. Der Schupo, der Addi nicht fassen konnte, packte nun mich am Schlafittchen und stellte mich auf die Beine. Dass meine Nase heftig blutete, kümmerte den Polizisten nicht, lediglich, dass seine feine, dunkelblaue Uniform durch Blut verfleckt wurde, machte ihn wütend, und so zerrte er mich barsch aus den Rhododendren, die Alte Wöhr hinauf. Werner, ebenfalls im festen Polizeigriff, trabte ergeben vor mir her.

Auf der Wache gab`s n’e  ordentliche Standpauke vom Revierleiter, der schließlich auch unsere Namen und Adressen erfragte, was mir überhaupt nicht gefiel, da ich mir die Reaktion der Eltern verdammt gut ausmalen konnte. Nach einer Stunde hörten wir bekannte Stimmen. Werners und mein Vater waren, wie verabredet, eingetroffen, um uns in Empfang zu nehmen. Als wir aus dem Nebenraum, oder war es schon die Zelle? geführt wurden, lasteten böse Blicke auf uns. „Hier haben Sie Ihre Früchtchen!“ meinte der Revierleiter, „und passen Sie künftig besser auf sie auf. Die Rechnung über die zerstörten Rhododendren bekommen Sie von der Stadtparkverwaltung.“ Vater verabreichte mir eine deftige Ohrfeige. Das gefiel den Uddels, als erste erzieherische Maßnahme. Ob Werner auch eine einfing, weiß ich nicht. Er wurde gleich zum Ausgang gezerrt.

Ob die Eltern wirklich eine Rechnung von der Parkverwaltung bekommen haben und wenn, wie hoch diese ausfiel? Ich habe es auch nie erfahren. War mir auch wurscht. Schlimm war, dass ich 14 Tage Hausarrest bekam. Der einzige Trost daran war, dass mein blaues Auge kaum beachtet, abklingen konnte. Mit dem musste ich mich zwar in der Schule zeigen, Gott sei Dank aber nicht bei meiner Gang. Addi hätte mich damit mächtig aufgezogen.

 

Mit „Kampfplatz Stadtpark“ erinnert sich der Autor an seine spannende, aber bisweilen auch raue Kindheit (zehnjährig) nach dem Krieg in Barmbek, am östlichen Rand des Hamburger Stadtparks.

 

Prä- und postnatale Psychologie und Medizin

Buchcover

Prä- und postnatale Psychologie und Medizin bilden die Schnittstellen psychologischer und medizinischer Diagnostik und Intervention von der Pränatalzeit an bis in die frühe Kindheit. Damit umfassen diese Disziplinen das Ungeborene und den Säugling sowie auch werdende Mütter und Väter in ihrer soziokulturellen Umgebung. Die großen Verbesserungen der letzten Jahrzehnte in Neonatologie und Sozialpädiatrie fußen auch auf den Ergebnissen aus Psychoanalyse und Säuglingsforschung, die jene Disziplinen mitbegründeten.

Der vorliegende Band fasst viele ihrer Ergebnisse nicht nur zusammen, sondern erweitert sie im Hinblick auf zukünftige körpermedizinische und psychosoziale Gestaltungen in ihren klinischen und kulturellen Bezügen.

Das animalische Erbe im Menschen

Im ersten Kapitel nehmen Fellmann, Walsh und Egloff (TU Chemnitz, Universität Münster und Institut für Pränatale Psychologie Heidelberg) eine anthropologische Zusammenschau der Evolution der menschlichen Psyche im Rahmen von Sexualität und Erotik vor. In ihrer Betrachtung emotionaler Intelligenz zeigt sich diese als Überschuss von Paarungsenergie, die in ihrer Abweichung vom reinen Fortpflanzungsziel zu Intimität führt, die selbst als Quelle menschlicher Reflexivität dient. Hieraus ergibt sich ein kohärentes Szenario, in dem Erotik und psychische Entwicklung zusammengehören jenseits von Kognition, also dem, was Menschen gewöhnlich für Denken halten. Stattdessen wirkt das animalische Erbe im Menschen als Movens sowohl für erotische Exploration als auch für emotionale Intelligenz. Die sich hieraus ergebenden konflikthaften Spannungen verweisen auf körperliche Sinnlichkeit in engster Verknüpfung mit psychischem Befinden und legen so eine Grundlage für die Psychosomatik. Fertilität in ihrer psychosomatischen Verfasstheit bildet einen wichtigen Teil hiervon. Wenn es denn um Empfängnisproblematiken geht, werden in erster Linie Lebensstilveränderungen oder Interventionen wie ovarielle Stimulation und Akupunktur ins Feld geführt, um diesen zu begegnen. Während nicht-pharmakologische Ansätze sinnvoll sind, zeigt sich jedoch immer wieder, dass diese zu kurz greifen und in einen psychosomatischen Ansatz integriert werden sollten, der psychische, aber auch übergeordnete Faktoren wie gesellschaftliche Voraussetzungen berücksichtigt, die als „culturally and mentality-based influences“ bezeichnet werden können.

Rupert Linder, Psychosomatiker und Gynäkologe sowie langjähriger Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für prä- und perinatale Psychologie und Medizin Wiesbaden, stellt im zweiten Kapitel seine Erfahrungen in der geburtshilflichen Behandlung und Begleitung schwangerer Frauen vor. Die Integration von Frauenheilkunde, Geburtshilfe und psychotherapeutischer Intervention hat sich nicht nur als für die tägliche Praxis gangbar erwiesen, sondern, wie seiner Praxisstudie zu entnehmen, zu einer Verringerung der Anzahl von Frühgeburten geführt. Daher sollten auch körperliche Probleme werdender Mütter im Gesamtzusammenhang körperlicher und emotionaler Prozesse betrachtet werden, um intervenieren zu können. Die emotionale Geschichte der werdenden Mutter sowie auch den frühen inneren Dialog zwischen ihr und dem ungeboren Kind in den Mittelpunkt zu stellen, bietet potentielle Konfliktlösungen.

Pränatale Dynamik und fötale Existenz

Wie die inneren Welten werdender Mütter aussehen können, illustrieren Olga Gouni und Anastasia Topalidou (Nationale und Kapodistrias- Universität Athen und Universität von Central Lancashire) im dritten Kapitel über pränatale Dynamik und fötale Existenz. Hierbei diskutieren sie den Zusammenhang pränataler Erfahrung mit menschlicher Gesundheit und Entwicklung, ein Forschungsfeld, auf dem in den letzten Jahren ein enormer Wissenszuwachs stattgefunden hat. Mütterliche Erfahrungen zu Zeitpunkten vor, während und nach der Empfängnis sowie jene in der Schwangerschaft können mit pränatalen Prägungen des Kindes in engen Zusammenhang gebracht werden. Die Autorinnen schildern in Fallvignetten zahlreiche, teils drastische Konfliktkonstellationen aus der Praxis. In einem Forschungsüberblick zu Epigenetik und „fetal programming“ weisen sie auf pränatale Prägungen z.B. im Herz-Kreislauf-Bereich hin, die neben den wohlbekannten Einflüssen von Alltagstoxinen wie Tabak und Alkohol tief angelegte Dispositionen darstellen. Es wird deutlich, dass umweltliche Einflüsse auch im engeren Sinne das werdende Kind betreffen. Zu jenen gehört, und das ist die gute Nachricht, auch das „Bonding” als lebenslanger Prozess von Beziehungsbildung.

Auf hirnphysiologischer Ebene beschreibt Otwin Linderkamp, ehemaliger ärztlicher Direktor der Neonatologie der Kinderklinik an der Universität Heidelberg, im vierten Kapitel eindrucksvoll die fötale menschliche Entwicklung im mütterlichen Uterus. Das fötale Gehirn bildet sich innerhalb von ein paar Wochen von einer dünnen Zellschicht hin zu einem komplexen Netzwerk aus, das aus Milliarden Neuronen und Billionen Verbindungen besteht. Deren Anfälligkeit für Umweltfaktoren, zu denen auch „maternal stress“ gehört, ist gut belegt. Bei aller Plastizität und damit auch Reparaturfähigkeit neuronaler Netzwerke lässt sich zeigen, dass gerade allerfrüheste Erfahrungen grundlegend sind.

Im fünften Kapitel widmen sich Egloff und Djordjevic (Institut für Pränatale Psychologie Heidelberg und Universitätsklinik Nis) der prä- und postnatalen Psychosomatik in ihrer sozialen Verfasstheit, eine Perspektive, die nach ihrer letzten Blütezeit in den 1970er und 1980er Jahren erst jetzt langsam wiederentdeckt wird. Der gesellschaftliche Prozess postmoderner Fragmentation und Anomie weist auf die Tendenz zu psychosomatischer Desintegration hin, die sowohl bei Müttern als auch in Familienverbünden als Symptombildung auftritt, mit den entsprechenden gesellschaftlichen Begleiterscheinungen. Nach Slavoj Žižek kann die Lücke, die zwischen Wort und Ding, zwischen Subjekt und Objekt mit Ideologie aufgefüllt wird, dazu dienen, soziale Antagonismen zu überdecken. Daher macht es Sinn, auch die Psychosomatik auf diese Lücke hin zu befragen und subjektivitäts- und objektivitätsbezogene Unterscheidungen in Fragen von Symptombildung zu treffen. Außerdem werden prä- und postnatale Interventionsansätze vorgestellt, die auf Konzepte von Bindung, Beziehung und Erziehung zurückgreifen.

Elterlicher Umgang mit ihren Kindern

Das sechste Kapitel konkretisiert die interaktionelle Perspektive im Rahmen elterlichen Umgangs mit ihren Kindern. Die Zusammenhänge von Erziehungsstilen – dem langjährig anerkannten Konzept der „parenting styles“ nach Diana Baumrind – mit emotionaler Intelligenz und Bindungsstilen diskutiert Elena Nanu, Universität Bukarest. In ihrer Studie untersucht sie 138 Elternteile im Alter von 28 bis 48 Jahren und 74 Kinder auf ihre emotionale Intelligenz sowie auf Erziehungsstile von autoritär, permissiv und autoritativ. Im Zusammenhang mit Bindungsmodi diskutiert sie deren Einfluss auf die kindliche emotionale Intelligenzentwicklung.

In Kapitel sieben wird diese Thematik auf Frühgeborene hin untersucht. Das an der Universität Bologna und in Cesena ansässige Team Neri, Spinelli, Biasini, Stella und Monti beleuchtet die Modi elterlicher Sensibilität in ihrer Wirkung auf die kognitive und interaktionelle Entwicklung frühgeborener Kinder. Frühgeburten betreffen nicht nur Mutter und Kind, sondern können die Qualität der frühen Eltern-Kind-Interaktion erheblich beeinflussen; eine problematische kindliche Entwicklung kann körperlich und seelisch die Folge sein. Die Studienergebnisse zeigen mögliche Beeinträchtigungen kognitiver und interaktioneller Entwicklung.

Ludwig Janus, Gründer des Instituts für Pränatale Psychologie und Medizin Heidelberg, stellt im achten Kapitel einige von Sigmund Freuds Konzepten im Hinblick auf pränatale emotionale Erfahrung dar, indem er den Zeitgeist der Jahrhundertwende befragt. Durch Abspaltungen verschiedener Gruppen kam es in der psychoanalytischen Tradition zu sehr heterogenen Entwicklungen in Theoriebildung und Praxis. Diese wurden noch nicht ausreichend zusammengeführt, weshalb Konzeptionen über die menschliche Realität bislang unvollständig bleiben mussten. Der Autor skizziert Vorschläge zu gemeinsamer wissenschaftlicher Verständigung.

Das neunte Kapitel widmet sich Psyche aus einer Perspektive, die an Martin Heideggers Konzept Sein zum Tode anknüpft; es verweist auf Zeit und Zeitlichkeit als unvermeidliche Faktoren des Seins, aber auch als sinnstiftende Instanzen. Die Näherung dieser Thematik erfolgt über Motive aus William Faulkners Werk und die Bergsonsche Unterscheidung von „le temps und „la durée. Letztgenannte trägt zur Bildung von Identität durch gleichzeitige Bewahrung und Überwindung von Ereignissen bei und kann hilfreich sein, um die Problematik von Subjektivitätsbildung zu erhellen. Um das „Normale“ zu verstehen, muss ohnehin das „Unheimliche“ untersucht werden.

Erziehung und Sozialisation

Die Problematik von Erziehung und Sozialisation wird im zehnten Kapitel behandelt. Walter Böhmer präsentiert eine eindrucksvolle Reflektion des Einflusses von Erziehungsmethoden auf menschliche Lebensbedingungen, in der biographische Hindernisse aus destruktiven Erziehungsmethoden hervorgehen und immer wieder neue Hindernisse erzeugen können. Dazu kann auch selbst-destruktives Verhalten gehören. Doch auch hier gibt es eine gute Nachricht: Erziehungsmethoden sind veränderbar.

Im letzten Kapitel weist Janus schließlich ein neues wissenschaftliches Paradigma für zukünftige Psychotherapien aus, das in einer Zusammenführung von frühen prä- und postnatalen Erfahrungen für die menschliche Entwicklung auf multidimensionaler Grundlage besteht. Die Marginalisierung vorsprachlicher Erfahrung hat im Rahmen der abendländischen Sprachbezogenheit zu einer Limitierung des Einblicks in Psychosomatik und menschliche Interaktion geführt. In seiner Darstellung der Psychoevolution in Zusammenhang mit den Erkenntnissen aus psychoanalytischer Theorie und Säuglingsforschung zeigt er, wie die Unzulänglichkeiten mancher Theoriebildung zukünftig überwunden werden können. Die sogenannte infantile Amnesie besagt, dass wir keine Erinnerung an frühe Kindheitserfahrungen haben, zumindest keine verbalisierbare; schon denken wir, jene Zeit unseres Lebens sei bedeutungslos. Doch schon das Körpergedächtnis spricht Bände über unsere frühesten Prägungen, die Erleben und Wahrnehmung, und somit unser psychosomatische Verfasstheit, beeinflussen.

Der englischsprachige Band soll als Kompendium in Klinik und Kultur dienen; er lädt alle anthropologisch Interessierten ebenso zur Reflektion ein.

 

Goetz Egloff & Dragana Djordjevic (eds.). Pre- and Postnatal Psychology and Medicine. Nova Science, New York, 2020, 354 S., 190 $

 

 

Mauer, Marsch und Mauerfall

Berlin, 21. und 22. August 1988
Die Berliner Mauer wurde gestürmt.

Ich war mit dem PKW von Hamburg aus durch die DDR nach Berlin unterwegs. Die Stimmung war düster, wie der regenverhangene Nachmittag an diesem Augusttag. Oder kam es mir nur so vor? Weil mir alles grau in grau erschien? Weil mich muffige Grenzer filzten wie einen ertappten Drogendealer: Spiegel unters Auto schoben, Sitze umklappten, den Kofferraum leerten und wieder beladen ließen. Als eine alte Bild-Zeitung, es handelte sich um Einwickelpapier, entdeckt wurde, kam es zu einem zwanzigminütigen Verhör … dann schließlich, drückte man doch einen Stempel in den Reisepass und ließ, nach Bezahlung der Einreisegebühren, passieren. Das zerknüllte Zeitungspapier wurde konfisziert. 

Vor West-Berlin stoppte mich die Vopo wegen zu schnellen Fahrens … und kassierte DM. Ich war mir keiner Schuld bewusst. In Charlottenburg wollte ich eine Schulfreundin besuchen. Sabine Seeland, die als Journalistin bei RIAS Berlin arbeitete. So ganz ohne verwandtschaftliche noch sonstige Beziehungen zum östlichen Teil Deutschland war ich gespannt, was Sabine mir an der Mauer über die Grenze zu berichten hätte. Ich gebe zu: Informationen, die längst überfällig waren! Ich übernachtete in einem gemütlichen Hotel am Kurfürstendamm. Genoss zuvor noch etwas Nachtleben im Bei Mo.

Bild von Armin Forster auf Pixabay

Pünktlich um 10 Uhr traf ich Sabine an der Holzplattform am Brandenburger Tor. Einst hatte die Westberliner Polizei die Aussichtstürme zur Beobachtung errichten lassen. Seit Jahren nun schon wurden sie von Touristen besucht, die auch mal einen Blick in den verschlossenen Teil der Stadt werfen wollten. Wir stiegen die Treppe empor und schauten über die Betonmauer. „Heute ist der 22. August,“ bemerkte Sabine, „genau vor 27 Jahren sprang eine Frau Ida Siekmann um 6.50 Uhr in den Tod. Sie war das erste Opfer der Berliner Mauer.“ „Und wie kam es dazu?“ fragte ich, der noch nie etwas von Frau Siekmann gehört hatte. Sabine: „Anderthalb Wochen zuvor hatte die DDR mit Zustimmung der Sowjetunion mit dem Bau begonnen. Die Berliner Grenzbefestigung war das letzte, offene Teilstück der 1378 Kilometer langen innerdeutschen Grenze. Die 58-jährige Ida Siekmann wohnte im dritten Stock eines Grenzhauses an der Bernauer Straße. Die alleinstehende Frau erkannte den Ernst der Situation als die Haustüre zum im Westen gelegenen Bürgersteig verbarrikadiert wurde. In aller Eile warf sie ein paar Habseligkeiten aus dem Fenster und sprang hinterher … schlug auf der Straße so schwer auf, dass sie auf der Fahrt ins Krankenhaus starb.“
„Schrecklich! Weiß man wie viele Menschen an der Mauer den Tod fanden?“ „Vom Bau bis jetzt sind an der DDR-Grenze rund 800 Menschen umgekommen. Allein an der Berliner Mauer sollen es 140 sein.“

Auf der Plattform drängten sich mittlerweile die Interessenten. Oder waren es nur Schaulustige? Es entstand Gedränge. Ich reckte den Hals: Sah einen breiten Grünstreifen, einen geharkten Sandanschnitt, zu Böcken aufgestellte Doppel-T-Träger. Schäferhunde kläfften, Wachsoldaten mit geschulterten Gewehren und weiter im Süden musste sich ein Wachturm befinden. 

„Unbegreiflich, wie sich ein Volk unterschiedlicher Gesellschaftssysteme so zu trennen vermag!“ Sabine meinte: „Die Schließung der Sektorengrenze sollte Flüchtlingsströme stoppen. Innerhalb von zwölf Jahren hatten fast drei Millionen Menschen Ostdeutschland verlassen.“ „Was der Eiserne Vorhang verhindern soll.“ „Bis auf Ausnahmen auch verhindert hat. Schau dir das nahezu perfekte System der Trennung an: Die Betonmauer ist vier Meter hoch. Entlang der Oberkante verläuft eine 50 Zentimeter dicke Betonröhre. Die Konstruktion wurde 1965 von Armeesportlern getestet. Keinem gelang die Überwindung. Der breite Kontrollstreifen wird stets sorgfältig geglättet, damit Fußspuren sofort erkennbar sind. Und die doppelreihigen Stahlböcke sind Panzersperren. Es gibt elf unterschiedliche Hinderniszonen. Dazu gehört beispielsweise ein ‚Teppich‘ aus 14 Zentimeter langen Eisenspießen. Im DDR-Jargon ‚Spargelbeet‘, im Westen ‚Stalinrasen‘ genannt.“  

Sabine wies nach Norden und fuhr fort: “Auf dem nächsten Korridor da drüben patrouillieren Soldaten zu Fuß oder im Jeep. An vielen Abschnitten wachen zusätzlich scharf abgerichtete Hunde. Dann wurden in unterschiedlichen Höhen Stolperdrähte gespannt, die bei Berührung Leuchtpatronen auslösen. Über allem wachen schießbereite Wachsoldaten mit Ferngläsern vor den Augen, oben auf den Beobachtungstürmen. – Kann ein Käfig hermetischer abgeriegelt werden?“ 

„Was weißt du über die Fluchttunnel?“ „Davon gibt’s einige. Doch nach und nach wurden sie alle entdeckt und geschlossen. Fast 80 000 Fluchtwillige nahm der Staat bereits bei der Planung oder auf dem Weg zur Flucht fest, was Verhöre, Folter, und um die drei Jahre Zuchthaus zur Folge hat.“ „Was meist du, hat die DDR Bestand?“ fragte ich. Sabine dachte einen Moment nach und antwortete: „Nur so lange Moskau seine schützende Hand über den Vasallenstaat hält.“

Ein letzter Blick über das absurde Stück Berlin, dann stiegen wir von der Plattform. Schweigend gingen wir die Straße des 17. Juni hinunter in Richtung Tiergarten. Mich bewegten die Fragen: Wie lange lassen sich Menschen einsperren, der Freiheit berauben, ein Volk wie  lange trennen? Kann es je eine Wiedervereinigung geben? Wenn ja, wie wird sie sich gestalten? Friedlich, blutig?

Magdeburg, Ende Oktober 1989

Nur etwas über ein Jahr später: Glasnost und Perestroika hingen in der Luft. Michail Gorbatschow ließ verlauten: „Ich glaube, die Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren“. Der Volksmund hatte daraus: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ gemacht.  Ich war gerade mit besonderen Erlebnissen aus Magdeburg zurückgekommen. Hatte mit Kombinats-Generaldirektoren und Parteifunktionären gesprochen. Ahnte man Veränderungen? Vorboten einer Zeitenwende großen Ausmaßes? 

Schon an der Grenze erlebte ich DDR-Grenzer mit menschlich-freundlichen Zügen. Durchsuchungen gab es nicht. Nach dem Einreisestempel wurde „gute Weiterfahrt“ gewünscht. Leuchteten da am Horizont Vorboten eines Wandels?

Mit neugieriger Zurückhaltung hatte mich Dr. Ing. Tensfeldt, Direktor eines VEB Planungsbüros mit der Frage empfangen, wie könne man sich eine Zusammenarbeit vorstellen? Was gäbe es  zu beachten bei einer Ausrichtung hin zum Kapitalismus? Der Parteifunktionär, vielleicht war es auch ein Stasi-Offizier, hatte gerade mal den Raum verlassen.

Ich spürte das aufrichtige Interesse, sah aber auch die ungeheuren Hindernisse für eine Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen. Nach stundenlangen Diskussionen über die Unterschiede zwischen Plan- und Konkurrenzwirtschaft, die nun mal in der Marktwirtschaft des Westens herrscht und vom Sozialismus als unbarmherzige Härte empfunden wird, verabredete ich mich mit dem Hauptbuchhalter Josef Klein am späten Nachmittag im Magdeburger Dom zu einer Kundgebung. Ich spürte Kleins Drang zur Freiheit. Er fühlte sich wie auf einem sinkenden Schiff. Sprach frei über die hoffnungslose Wirtschaftslage der DDR. Die total überalterte Industrie, maroden Verhältnisse wohin man schaute. Klein war Parteimitglied mit besten Verbindungen zur politischen Führung. Kannte er womöglich das Schürer-Gutachten, das Egon Krenz unter strengster Geheimhaltung anfertigen ließ und am 30. Oktober 1989 dem Politbüro vorgelegt hatte? Darin wurde bereits auf die Überschuldung und der faktischen Zahlungsunfähigkeit des Staates hingewiesen.

Bild von Martin Wischeropp auf Pixabay

Im Dom herrschte drangvolle Enge. Immer mehr Menschen quollen ins Kirchenschiff. Alte, Junge, Frauen, Männer, Greise und Kinder. Mütter versuchten Babys in Kinderwagen hineinzuschieben. Am Altar hielt ein Pfarrer eine flammende Rede über die Fackeln der Freiheit, die es galt endlich zu entzünden, um sie als Banner vorweg zu tragen. Endlich sei die Stunde der Selbstbestimmung gekommen.

Rechts und links bauten sich Volkspolizisten auf, die die Massenansammlung kritisch beobachteten. Wieviel Stasiagenten in Zivil mochten sich unter die Menge gemischt haben? Mir wurde verdammt mulmig. Was war da im Entstehen? Wann und wie glitt der friedliche Protest ab in chaotischen Tumult mit Verletzten und Schlimmeres? Hauptbuchhalter Klein an meiner Seite blieb gelassen und meinte: „In Leipzig hatte es schon mehrere Montagsdemonstrationen und -märsche gegeben. Bisher verliefen alle friedlich.“

Draußen war es dunkel geworden. Wie ein Weckruf verhallten die Worte des Geistlichen. Auf irgendeine Veranlassung hin wandte sich die Menge um, strebte aus dem Dom und bildete eine lange, dichte Menschenschlange, die sich gemächlichen Schrittes in die Danzstraße begab, dann in die Otto-von-Guericke-Straße schwenkte. Immer eskortiert von bewaffneten Vopos. Nach und nach wurden Kerzen entzündet, die den Friedensmarsch in ein flimmerndes Lichtermeer tauchte. 

Zu meiner Linken schritt Peter Neufert, Bauhandwerker einer Brigade, und erzählte, dass er als Siebenjähriger erleben musste, wie sein Vater morgens um fünf Uhr von acht Mann der Staatssicherheit aus dem Bett gerissen und verhaftet wurde.
„Vater war Kulturredakteur. Schrieb Kritiken über Theater- und Musikereignisse in Magdeburg und Umgebung. Auf der Suche nach Beweismaterial wurde unsere Zwei-Zimmer-Wohnung total auf den Kopf gestellt. Gefunden wurde nichts. Vier Monate lang wussten Mutter und ich nicht, wo sich Vater befand. Schließlich kam es zum Prozess. Vater wurde zu drei Jahren und neun Monaten Zuchthaus verurteilt. In der Untersuchungshaft war er zuvor misshandelt und gefoltert worden. Mutter bekam schließlich heraus: Ein Kollege der Volksstimme hatte unter Eid geschworen, Vater hätte mit seiner Familie Republikflucht geplant, außerdem parteifeindliche Flugblätter verteilt. Dreiste Lügen! In Wirklichkeit neidete der Journalist Vaters Position bei der Zeitung. Entlassen wurde Vater als gebrochener Mann, der nie mehr Fuß fasste. Dass mitanzusehen zu müssen, war besonders schlimm für mich.“

Im Umzug entstand auf einmal Unruhe. Es hatte sich das Gerücht verbreitet, die Initiatoren des Marsches strebten zum Verlagshaus der Volksstimme und beabsichtigten den Chefredakteur aus dem Fenster zu werfen. Augenblicklich wurde die Polizeieskorte massiver und von Mannschaftswagen verstärkt. Tatsächlich versammelte sich der Zug eine knappe Stunde später vor einem hohen Gebäude, das von unserer Vorhut gestürmt wurde. Aus einem Fenster des dritten Stockwerks flog nicht der Chefredakteur, sondern Aktenbündel. Der Zeitungsmann hatte rechtzeitig Feierabend gemacht.

Unter Zurufen und Klatschen wurden noch ein paar Gegenstände herabgeworfen … es grenzte an ein Wunder, dass die Polizei nicht eingeschritten war. Wie durch eine geheime Absprache löste sich die Versammlung allmählich auf. Sonderbar zufrieden zogen die Bürger Magdeburgs friedlich ihrer Wege.

Berlin, 9. November 1989

Für sehr viele Menschen, wie auch für mich war dieser Donnerstag ein ganz außergewöhnlicher Tag. Der Firmenvorstand hatte die Geschäftsführer der Tochtergesellschaften zu einer mehrtägigen Konferenz ins Hotel Palace in West-Berlin geladen. Zwischen Sitzungsende und dem gemeinsamen Abendessen wurde eine längere Pause eingelegt. Um etwas frische Luft zu schnappen, spazierte ich in Richtung Reichstag. Schon nach den ersten Minuten bot sich mir eine merkwürdige Stimmung.

Ich erlebte Berlin irgendwie anders als sonst. Sehr viel mehr Menschen waren unterwegs. Und es war, als befand ich mich in einem Sog, der in Richtung Osten zog. Alle Fenster waren geöffnet worden, Menschen winkten, manche jubelten. Ich vernahm Lautsprecherdurchsagen, verstand jedoch nichts. Dennoch spürte ich, da musste etwas ganz Unglaubliches geschehen sein. Fahrbahnen, Bürgersteige quollen über von tanzenden Menschenmassen, die mir jetzt auch entgegenströmten. Dann war ich an der Mauer … und sogar auf der Mauer! Wie ich da hinaufgekommen bin – ich weiß es nicht. Wohl über die Rücken einer Personentraube. Oben fielen sich wildfremde Menschen in die Arme klatschten, sangen und jubilierten. Die Euphorie war unbeschreiblich, grenzenlos. Der Mauerfall, ein Großereignis, unfassbar! Politbüro-Sprecher Günther Schabowski hatte um 18.53 Uhr in einer TV-Ansprache gesagt: „ … Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich“. Mit diesen Worten zur neuen DDR-Reiseregelung hatte er unfreiwillig das Ende der deutschen Teilung verkündet.

Irgendwann in den Morgenstunden kehrte ich, immer noch aufgewühlt, in mein Hotel zurück. Die Konferenz wurde abgebrochen und vertagt. Wer wollte, konnte noch einen Tag auf Firmenkosten in Berlin weilen und sich um DDR-Bürger kümmern, die inzwischen scharenweise in den Westen gekommen waren. Mit mehreren Kollegen blieb ich. Wir freuten uns mit den Menschen, teilten ihren Enthusiasmus, luden sie ein ins Kranzler, ins KaDeWe und sonst wohin. Jubel, Freudentaumel, Begeisterung hatten mich nicht nur angesteckt, sondern wundersam beseelt und bleiben im Herzen als ewig schöne Erinnerung.

Bild von roegger auf Pixabay

Wie konnte ich ahnen, dass mich ein Jahr später die Treuhand mit der Frage konfrontierte, ob ich mir zutraue ehemalige Kombinate zu sanieren. Wer kann eine solche Herausforderung ablehnen? So geschah es, dass ich fast drei Jahre in Magdeburg, Halle und Ost-Berlin Firmen auf den rauen Konkurrenzkampf vorbereitete. Eine ungeheuer tiefe Erfahrung, geprägt von Euphorie, Schmerz, Glück, Enttäuschung und Dankbarkeit, die ich nicht missen möchte.

 

 

Leben in Zeiten der Pestilenz

Bild von Sumanley xulx auf Pixabay

Im Augenblick scheint die Zeit still zu stehen. Wo sonst das Leben tobt, herrscht Stille. An manchen Orten gar Friedhofsstille. Das Coronavirus, die Pestilenz des 21. Jahrhundert, hat uns fest im Griff. Es kommt auf leisen Sohlen daher, völlig unsichtbar und geruchlos.

Ganz anders als der Schwarze Tod längst vergangener Jahrhunderte, der die Menschen mit Beulen übersäte, die so bestialisch stanken, dass die Pestärzte ihre Nasen hinter langschnäbeligen Vogelmasken verbargen. Diese Maskierung hat sich bis auf den heutigen Tag im Karneval von Venedig erhalten. Im Mittelalter, als die Pest tobte, flohen jene, die es sich leisten konnten, auf ihre Landsitze, um der Ansteckungsgefahr in den engen Gassen der Städte zu entkommen. Jene, die infiziert zurück blieben, starben in der Regel einen grausamen einsamen Tod, weil jeder, der noch gesund war, sich nicht an die Kranken heran traute. Wie wir heute wissen, wurde die Pest durch Ratten, die seinerzeit eine Art unliebsame Haustiere waren, übertragen. Genau genommen von den Flöhen, die im Pelz der Nagetiere siedelten. Mangelnde Hygiene und das enge Zusammenleben von Mensch und Tier waren der Grund, warum sich die Seuche wie ein Lauffeuer unter der Bevölkerung ausbreitete und Abertausende von Opfern forderte. In seinem Bestseller „Die Pest“ versetzt Albert Camus, französischer Literatur-Nobelpreisträger von 1957, uns in die algerische Stadt Oran, die völlig unerwartet von der Pest heimgesucht wird. Als die Menschen an einem bereits in den Morgenstunden extrem heißen Tag aufwachen, finden sie überall tote Ratten, aus deren Lefzen Blut rinnt. Am Anfang nehmen die Bewohner Orans das Phänomen lediglich mit Verwunderung und Ekel zur Kenntnis, bis die Seuche sich zu einer Pandemie ausweitet. Wenn Covid 19 auch nicht die Pest ist, so sind Parallelen zu unserer heutigen Situation unverkennbar. Ein absolut lesenswertes Buch, von dem der Rowohlt Verlag gerade seine 90. Auflage druckt. Zu empfehlen ist das Original in französischer Sprache, das bei folio erscheint und in jeder guten Buchhandlung zum Preis von 11 Euro bestellt werden kann. Da die meisten von uns zurzeit ohnehin viel Muße zum Lesen haben, bietet „La Peste“ sich an, brachliegende Französischkenntnisse aufzufrischen, zumal Camus sich einer schnörkellosen Sprache bedient, die ohne langatmige Schachtelsätze auskommt und somit relativ leicht zu lesen ist. Sein Stil entspricht dem Ideal französischen Denkens, das treffend mit „clareté cartésienne“ umschrieben ist.

Schlangen, Schildkröten und Gürteltiere

Aber zurück zur Coronakrise, die uns so kalt auf dem falschen Fuß erwischt hat. Der Schuldzuweisungen gibt es viele. Die Chinesen sind mit ihrer Verschleierungspolitik verantwortlich für die Pandemie, heißt es mehrheitlich. Hätte die Regierung rechtzeitig mit offenem Visier gekämpft, wäre China und dem Rest der Welt viel erspart geblieben. So die öffentliche Meinung. Aber woher kommt nun dieses neuartige Virus (lateinisch Gift)? Etwa von den Tiermärkten in China, auf denen sowohl lebende Schlangen als auch Schildkröten, Gürteltiere und andere exotische „Leckerbissen“ angeboten werden. Oder gar von den Fledermäusen, die sich in Höhlen aufhalten, in denen listige Reptilien auf sie lauern, um sie alsbald mit Haut und Haaren zu verschlingen? Wahr ist, dass die chinesische Küche alles verwertet, das da kreucht und fleucht. Schlangen gelten nun einmal als besondere Delikatesse, und das nicht nur bei den Einheimischen. Während meines längeren Aufenthalts in Hongkong lernte ich Franzosen kennen, die regelmäßig bei einem großen Fresstempel in Guangzou (Kanton) nachfragten, ob sie „snake soup“ auf der Speisekarte hätten. Ein Hochgenuss, wie mir versichert wurde, schmeckt wie ganz feines Hühnerfleisch. Ich selbst habe diese dunkle Brühe nie gekostet, weil ich einen Horror vor Schlangen habe. Aber nun sollen diese Kriechtiere schuld an Covid 19 sein, die sich durch den Genuss von Fledermäusen infizierten? Manche behaupten gar, die Chinesen verspeisten Fledermäuse. Bei so vielen Meinungen und noch mehr Gerüchten weiß letztlich keiner mehr, was Sache ist. Dass die Seuche sich besonders in Norditalien ausgebreitet hat, wurde zunächst auf einen Europäer zurückgeführt, der sich vorher in Wuhan aufgehalten hatte, wo Covid 19 ausgebrochen war, bis schließlich die vielen chinesischen Arbeitskräfte in der Textilindustrie Norditaliens als Sündenböcke herhalten mussten.

Normal ist etwas anderes

Gleichwohl, wer es auch immer gewesen sein mag, wir sitzen alle in der Falle. Während viele sich im „Homeoffice“ befinden, also jetzt ihre Arbeit von zu Hause verrichten, oder jene, die zwangsweise pausieren müssen und um ihren Job bangen, „ist die Lage hoffnungslos, aber nicht ernst,“ wie es einst der unübertreffliche Satiriker Karl Kraus formulierte. Genau genommen stimmt diese Aussage sogar. So wird uns von höchster Stelle versichert, dass die Ausgangssperre nach Ostern nach und nach gelockert werden soll. Normal ist immer noch etwas anderes. Doch Frankreich gegenüber sind wir klar im Vorteil. Ich las gerade. dass die Pariser Bevölkerung sich gerade einmal einen Kilometer von ihrer Wohnung entfernt täglich für eine Stunde aufhalten darf zwecks Einkauf oder Spaziergang. Joggen hingegen ist strikt verboten. Warum? Das können auch die Polizisten, die die „Ausflügler“ akribisch kontrollieren, nicht erklären. Alles par ordre de mufti – und da gibt es nun mal nichts zu hinterfragen. Compris? War es nicht ein prominenter Franzose, der weiland predigte – Zitat: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Ein Ausspruch des berühmten französischen Mathematikers Blaise Pascal, eines Zeitgenossen und Bewunderers von René Descartes, der sicherlich stundenlang in seiner Studierstube über mathematischen Formeln brütete und dabei die Zeit vergaß. Suum cuique – jedem das Seine, lieber Monsieur Pascal. Aber wo ständen wir heute, wenn sich keiner unserer Vorfahren vor seine Höhle gewagt hätte und ins Ungewisse getreten wäre? Es gäbe unendlich viel aufzuzählen. Aber lassen wir es dabei, dass wir weder Telefon noch Internet hätten. Vom Computer, an dem viele von uns ihre tägliche Arbeit verrichten, ganz zu schweigen. Auch dieser Artikel, den ich gerade schreibe, käme nicht in das Online-Magazin der Auswärtigen Presse e.V. Wir werden in einer nicht zu fernen Zukunft wieder auf die Straße, ins Theater, in Konzerte und auf Ausstellungen gehen können. Das gleiche gilt für Sportveranstaltungen, Schwimmbäder und Muckibuden. Freuen wir uns also auf die Post-Corona-Zeit! Was pflegte doch meine kluge, im 97. Lebensjahr gestorbene Mutter zu sagen, wenn eine Situation ausweglos erschien: „Kein Zustand dauert ewig.“ Genauso ist es. Mein Lieblingssatiriker Harald Martenstein wies in seiner letzten Glosse darauf hin, dass Mails neuerdings nicht mehr mit dem üblichen Kürzel mfg – mit freundlichen Grüßen – geschlossen würden, sondern mit bsg – bleiben Sie gesund – im Falle von Duzfreundschaften schlicht mit bg – bleib gesund.

Ich meinerseits wünsche Euch allen von ganzem Herzen:
Bleibt’s g’sund. Und auf sehr bald in alter Frische!

Eure
Uta Buhr