Schwimmen zum rettenden Ufer
Von Dr. László Kova
Aktualisierende Bemerkungen: Diese schriftliche Aufzeichnung der Balatonüberquerung erfolgte im Jahre 2003. Dennoch ist sie aktuell, weil sie einen Prozess, einen persönlich besonders hochwertigen Vorgang der Selbstüberwindung beschreibt, in der man eine Zielsetzung durch kraftraubenden Einsatz realisiert. Jeder ähnliche Versuch bringt eine neue Selbsterfahrung und ein Erlebnis mit sich, das in jeder Zeit und in jedem Alter von äußerst wichtiger Bedeutung ist. Im persönlichen „Kampf“, in dem man das Unerreichbare zu erreichen versucht, liegt die permanente Hoffnung eines Menschen, die einem das Selbstvertrauen und das psychische, physische und mentale Potenzial stärkt, was man für immer und ewig zu pflegen benötigt. Irgendwo las ich in meinen jüngeren Jahren einen Satz, den ich nie vergaß und den mir meine Eltern – wahrscheinlich nicht bewusst – lebenslang vorlebten: Nur dann passierten große Ereignisse, wenn die Waghalsigen richtig mutig waren. Vielleicht wurde ich auch von diesen Prämissen getrieben, als ich meine Schwimmzeit 2004 im Vergleich zum Vorjahr verbessern konnte.
Als ich stolz erzählte, dass ich den Balaton/Plattensee dieses Jahr wieder überquert hatte, lachten mich meine Freunde aus. Sie schmunzelten und fügten sofort hinzu, „ja, zu Fuß“. „Nein, ich bin nicht Jesus“, protestierte ich, um meine Leistung zu verteidigen. Sie lachten weiter und sagten, „er ist so flach, dass man das andere Ufer zu Fuß erreichen kann“.
Um die schlummernden Schulkenntnisse aufzufrischen, wiederhole ich hier ein paar geografische Daten: Der Plattensee, die Ungarn nennen ihn stolz „das ungarische Meer“, ist der größte Binnensee in West- und Mitteleuropa. Seine Oberfläche beträgt 600 km2, seine Länge ist 77 km, seine maximale Breite 16, die schmalste Stelle ist bei Tihany 1,1 km. Die normale Tiefe ist 3-3,5 m, vor Tihany beträgt die Tiefe 11-12 m. Die Wasserzufuhr erfolgt durch das Flüsschen Zala und am Norden durch kleinere Bäche, das Wasserniveau wird auf der Ostseite durch den Kanal Sió technisch reguliert.
Durch die große Oberfläche verliert der See im heißen Sommer durch Verdunstung schnell an Tiefe und ebenso, wenn die Regenzeiten ausfallen. Dieses Jahr war es in ganz Europa sehr warm und trocken, was das Wasserniveau beeinträchtig hat: Die Durchschnittstiefe betrug nur 2,5-2,8 m. Da dieser See relativ flach ist, ändert sich auch die Wassertemperatur stark. Im Sommer ist er angenehm warm. Bei Nordwind können gefährliche Wellen entstehen.
Am Nordufer wird der See schnell tief, die Südseite ist flacher, hat sandigen Boden und ist zum Baden besser geeignet. Die Badestellen sind überall am Balaton gut markiert und werden aus Sicherheitsgründen von Rettungsschwimmern überwacht.
Den Balaton schwimmend zu überqueren gehörte und gehört immer noch zu den „Heldentaten“. Die Ungarn als Binnenländler, im Westen sagt man Pußtabewohner, standen und stehen am Ufer sehr beeindruckt vor ihrem blau-grünfarbigen See. In meiner Kindheit sah ich dort sogar Touristen vor Rührung weinen. Das Nordufer kann man von Budapest schneller erreichen, darum wurde es eher ausgebaut. Die Weine aus der umliegenden Weinbergen sind europaweit bekannt. Auf der Südseite, in kleineren Dörfern, wohnten damals Fischer.
Da irgendwo, in der dunstverdeckten Entfernung von 5,2 km, starten die „Waghalsigen“.
Vor gut 23 Jahren ging es mit der Idee los, den Balaton per Schwimmen als Volksport zu bezwingen. Zu Beginn waren diese Mutigen bei strengsten organisatorischen Maßnahmen nur Schwimmer und Wasserballer, die von Booten begleitet wurden. Heute liegen etwa alle 50 m Rettungsboote vor Anker zwischen Révfülöp (Nordufer) und Balatonboglár (Südufer) auf einer Wasserstrecke von 5,2 km.
Wo ist er unter den 10.733 Teilnehmern?
Nach dem Start vom Nordufer schwimmen die Teilnehmer an den Rettungsbooten vorbei, bezwingen die Wellen und ignorieren die pralle Sonne. Kaum jemand denkt daran, sich zu blamieren, bei Balatonboglár nicht anzukommen, also aufzugeben. Jung und alt, Weiblein und Männlein, ehemalige und noch aktive Sportler bereiten sich ein ganzes Jahr lang vor, an diesem Spaß teilnehmen zu können. Es ist für Jedermann, dennoch kommen auch Profis und Schwimmvereine hierher, um ihre Stärke und ihr Können auf die Probe zu stellen.
Die Ersten sind schon da!
Man schwimmt von den Bergen zum flachen Ufer. Auf der Hälfte der Strecke ist immer noch kaum etwas vom Ziel zu sehen. Man orientiert sich an den Rettungsbooten und konzentriert sich auf sich, auf seine monotone Bewegung: auf Armbewegung, auf Beinarbeit und Atmung. Wenn die Wellen ihren Unsinn treiben, schluckt man Wasser. Dann spuckt man es aus, hustet, versucht das Tempo zu halten. Auf die Seite schaut man nicht, das wäre unsinnig, immer nur nach vorne in Richtung des in der Ferne liegenden, vermutlichen Zieles.
Die Wassertemperatur wurde mit 25 °C angegeben, aber nach 2 km fangen meine Beine an leicht zu frieren. Vielleicht müsste ich schneller schwimmen, sage ich mir, oder besser doch nicht, die Kraft muss ich einteilen, mehr als 3 km habe ich noch vor mir. Vor dem Start beschmierte meine Frau Witka meinen ganzen Körper mit Nivea gegen Abkühlung. Ich denke nur ans Ziel, wechsele die Schwimmart und kraule weiter.
Das Wasser ist sauber, ich trinke ein paar Schluck und achte darauf, dass ich mit den Beinen kräftiger arbeite. Ich kämpfe mich voran, schaue auf die Boote, die ca. 100 m von mir rechts liegen, ja hier ist es gut, niemand stört mich in meinem Bewegungsablauf, die anderen schwimmen dicht an den Rettungsbooten vorbei.
Ab und zu mache ich mir Vorwürfe, dass ich im Winter nicht fleißig genug war, erst im Frühjahr fing ich an konsequent zu trainieren: Lauftraining, Fahrradfahren, Kajakfahren und später Schwimmen. Hätte ich meine Bauchmuskulatur besser trainiert, wäre meine Beinarbeit effektiver, denke ich, aber was soll es, mach weiter.
Dann erblicke ich die dritte Boje, also beträgt der Rest noch über 2000 m. Die Wellen glätten sich, aber das rettende Ufer ist immer noch sehr weit. Von den hohen Bäumen am Ufer sehe ich noch nichts. Ich fühle mich allein, vielleicht einsam, es gibt für mich hier keine Hilfe, nur mich und meine Kraft. Als stünde ich vor einer Schalttafel mit Lämpchen, meine Gedanken schweifen auf meine Arme, kontrollieren ihren Zustand, dann den Rücken und letztlich die Beine, signalisieren mir keine Krämpfe. Mein Selbstvertrauen wächst, ich spüre in mir noch viel Power.
Zwischendurch friere ich nicht mehr, vielleicht doch, aber es stört mich nicht. Die Augen sind durch die ständige
Wasserspülung strapaziert, dennoch erblicke ich die vierte Boje, dann die Empfangstribüne am Ufer, die von hier aus ganz klein zu sein scheint. Das spornt mich an, ich versuche meine Reserven einzusetzen. Gedanklich sehe ich eine Uhr vor mir, sie tickt ganz schnell, ganz schnell. Ja, sie ist mein Gegner, ich schwimme gegen sie.
Wie tief kann es hier sein? Eigentlich ist es egal, ich bin kein U-Boot, tröste ich mich. Tief oder weniger tief, das Schwimmen ist meine Aufgabe. Eine Weile mache ich Brustschwimmen, dann kraule ich wieder. Alles ist monoton, man wird dabei von ganz blöden Gedanken überrascht, die man aus dem Kopf nicht verjagen kann.
Plötzlich ekele ich mich, meinen ganzen Körper überläuft eine Gänsehaut, da ich jetzt daran denke, dass mich hier eine Wasserschlange berühren könnte. Fürchterlich, du Idiot, beschimpfe ich mich, versuche als Ablenkung auf meine Atmung zu achten. Richtig ausatmen, richtig ausatmen! Nur dann bekomme ich ausreichend Sauerstoff, wenn ich richtig ausatme.
Gleichmäßig schwimme ich weiter, kontrolliere alles: die Bewegung und die Atmung. Mit den Armen ziehe ich kräftiger, passe dazu das Atmen an. Eine Zeitlang geht es gut. Aber in meinem rechten Arm wird langsam die Muskulatur härter, danach spüre ich Schmerzen in der Schulter. In den jüngeren Jahren war sie beim Handball zweimal ausgekugelt und jetzt meldet sich bei Anstrengung die Vergangenheit. Um dies auszuschalten wechsele ich wieder die Schwimmart, ich kraule. Ja, es ist so etwas besser. Ich bin sicher, dass ich es bis zum Ufer schaffe.
Das Erblicken der fünften Boje erheitert mein gequältes Gemüt, ich setze die letzte Kraft ein und entschließe mich so weit zu schwimmen, wie es überhaupt möglich ist, das heißt, bis meine Arme den Boden berühren. Schwimmen ist nämlich schneller als das Gehen im Wasser, es geht um die Zeit. Und so mache ich es. Als meine Arme mich nicht mehr voranbringen können, stehe ich auf und laufe auf die Empfangstribüne zu. Und dort die Treppe hoch. Ich bin außer Atem. Eine Frau fasst meinen Arm an, hält ihr Zeitlesegerät an mein Codeband und sagt: Gratuliere Ihnen, ihre Zeit ist 2 Stunden 37 Minuten und 39 Sekunden. Lächeln Sie bitte in die Camera, sagt sie zu mir. Ich versuche es, aber spüre, dass es mir nicht gelingt, ich zeige eine Visage wie eine angeschossene Hyäne.
An einem Zelt bekomme ich mein T-shirt als eine Urkunde. Ich lege es auf meinen Kopf, setze mich auf den Rasen und schaue mich um. Schöne, sportliche Gestalten gehen an mir vorbei, wortlos, müde, in sich versunken nach 5,2 km Schwimmen, aber irgendwie stolz.
Vom Service bekomme ich warmen Tee, Kekse und Schokolade. Langsam verzehre ich alles und höre Musik dabei. Schließlich verlasse ich das Gelände und denke daran, dass ich vielleicht gar nicht so müde bin.
Zwei Wochen später erfahre ich aus dem Internet, dass meine Zeit um 14 Minuten besser ist als der Durchschnitt von 10.733 Schwimmern. Es ist doch o.k. 62jährig – nicht wahr? Probier es wieder im nächsten Jahr, du alter Ochs´! – sage ich schmunzelnd zu mir, dann wird es das dritte Mal sein.
Schlussbemerkung: Die 25. Balatonüberquerung im Jahre 2005 ist wegen des sehr windigen und kühlen Wetters ausgefallen und wurde um ein Jahr verschoben. Über die Jubiläumsveranstaltung informiert die Home page www.balaton-atuszas.hu