Wann ist Draußen Drinnen? Oder: Eine fürsorgliche Belagerung. Neun Haiku von Tomas Tranströmer 1959

In jeder Rezension dieser neun Haiku aus dem Gefängnis (aus: Tomas Tranströmer, „Das große Rätsel“, Carl Hanser Verlag, Münschen, 2005) ist es wichtig, zwei externe Betrachtungsweisen auf ein Leben in einer zweckgemäß verschlossenen Anstalt – in diesem spezifischen Falle im Jugendgefängnis Hällby, Schweden – zu beachten:
erstens, die des Bericht erstattenden personalen Erzählers;
zweitens, die sich entwickelnde Betrachtungsweise der Lesenden, insofern sie sich mit der Anstaltsroutine und den dortigen Vorkommnissen beschäftigen, wobei sie möglicherweise die unausgesprochenen Voraussetzungen von Freiheit in der Gesellschaft und wer diese genießt, infrage zu stellen beginnen.Den Lesenden fällt es vielleicht allmählich auf, in welchem Grad diese Freiheiten in Wirklichkeit von angewöhnter Einwilligung in den Status quo abhängig sind.

Acht der neun Haiku beschreiben Vorkommnisse im Gefängnis und deren Folgen: ein Fußball, über die Gefängnismauer getreten, bereitet „plötzliche Verwirrung“, d.h. wird zu einem unlösbaren Problem für die „Insassen“, die keine Möglichkeit haben, den Fußball zurückzuholen. Etwas, das „draußen“ selbstverständlich wäre. Spiel und Spaß vorbei!

Inwiefern die Lesenden ein Gefühl des Unbehagens beim Lesen verspüren, wird davon abhängen, ob sie sich im Voraus bewusst waren oder mittlerweile gemerkt haben, ob oder in welchem Grad ihr eigener Status und ihr Selbstbewusstsein in Akzeptanz von eben diesem Status quo eingebettet sind.

Eine zweite Befassung mit den Haiku belohnt – oder bestraft – die Lesenden mit Stoff zum Nachdenken über die Definition von habeus corpus. In allen neun Haiku wird die Annahme, dass Freiheit nichts anderes bedeute als Bewegungsfreiheit, durch den Ton des personalen Erzählers als falsch angedeutet. Anfänglich mögen sich die Lesenden wohl im Gegensatz zu den „Insassen“ als frei, unschuldig und daher per se diesen überlegen empfinden. Die Gefängnismauer ist ausschließlich für die „Insassen“ die erste und letzte Barriere gegen körperliche Freiheit.

Beim im zweiten Haiku vorkommenden Aktivismus – „Sie toben …/um die Zeit in rascheren/Trab zu scheuchen“- könnte es sich um den Verlust der Entscheidungsfreiheit der „Insassen“ darüber, wie sie ihre Zeit zwischen Pflicht und Erholung strukturieren, handeln. Doch könnte es nicht auch die Oberflächlichkeit und Leere der Anstrengung, nur Materielles zu erwerben, als Selbstzweck symbolisieren? Im Gegensatz zu Paulus’ Aussage 1 Kor. 13, 1 „ … hätte (ich) aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.“ (Bibelserver EU Einheitsübersetzung 2016)

Was beschwören die „Tätowierungen“ und „Falsch buchstabierte Leben“ des dritten Haiku? Versinnbildlichen sie individuellen Protest gegen die Armseligkeit der Gesellschaft und den oft unverschuldeten sozial unzulänglichen Hintergrund der „Insassen“? Waren Bildung, soziale Korrekturmaßnahmen hier nicht die eigentlichen Versager? Tätowierungen können allerdings zweierlei demonstrieren: entweder Aussteigerprotest, Mitgliedschaft einer (manchmal kriminellen) Gruppe, – oder, wie bei manchen indigenen Völkern, soziales und kulturelles Ansehen. Wie sehen die „Tätowierungen“ der Lesenden aus und wie „buchstabieren“ sie ihr Leben?
Gefängnis ist oft ein künstliches, steriles und manisches Umfeld, sodass „der Ausreißer“ in Haiku vier, unter Zwangsentzug von der Natur leidend, einen zum Scheitern verdammten Ausbruch versucht hat. Sein paranoides Sammeln von „Pfifferlingen“ ist Überkompensation, typisch für Menschen, denen das, was für deren psychisches Gleichgewicht und Wohlergehen unentbehrlich ist, vorenthalten wird.
Vielleicht spiegelt die Zwangslage des „Ausreißers“ den Verlust an moralischem Gleichgewicht in der Gesellschaft, das Ergebnis der Zwangsaneignung von einem unerbittlichen Erwerbs- und Erfolgsdrang wider, der uns der natürlichen und ethischen Instinkte beraubt, uns sogar in die Regeln der Plünderung für die Jagd nach Staus einweiht. Wir können nur auch zu „Ausreißern“ werden, wenn wir unreflektierte, giftige Gier, der so viele Kulturen als Erfolg applaudieren, bewusst ablehnen und es uns klar wird, dass unser „Gefängniswärter“ uns innewohnt. Das heißt Treue zu einem System, das unsere menschliche Natur wiederholt degradiert und zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Wieder spiegelt das sterile Umfeld der „Insassen“ drinnen die menschliche „Freiheit“ draußen.

Haiku fünf, sieben und acht versinnbildlichen den Mechanismus der Internierung: Werkstätten, Wachttürme, Lampen an der Gefängnismauer vereiteln die Natur. Nacht wird für die „Insassen“ künstlich zum Tag gemacht. Jedoch weckt die personale Erzählerperspektive auch vielleicht die Erkenntnis, dass „die Welt da draußen“ oft zu wenig Zeit für ungestörte Ruhe und Reflexion übrig lässt, sondern immer gegenwärtig ist und die Psyche beschäftigt. Aufdringlich selbst im unbewussten Zustand des Schlafs.

In Haiku neun ist Internierung: „eine Mutter aus Stein“, die gegen Unabhängigkeit und die Einwilligung in eine Art „fürsorgliche Belagerung“ (Dank an Heinrich Böll) bietet. Hat das nicht eine Besorgnis erregende Ähnlichkeit mit Tendenzen in modernen Demokratien?
Ein einziges Mal, in Haiku sechs, bedient sich der Erzähler des „Wir“. Die „Insassen“ und andere stehen auf dem „Anstaltshof“ und die Jahreszeit ist neu, doch nicht anders! Den Lesenden ist bis hierhin vielleicht der Gedanke gekommen, dass der Sinn und Zweck eines Gefängnisses auch darin besteht, den „Unschuldigen“ den Zugang zu den „Schuldigen“ zu verwehren. Die meisten „Unschuldigen“ auf der Welt wollen sich nicht von ihrer „Freiheit“ befreien! Sich von der Freiheit befreien? Unkritische Akzeptanz von nicht zu bändigendem Materialismus und „Wachstum“, religiösen und politischen Ideologien und institutionalisierten Ungerechtigkeiten bildet die oft unsichtbaren „Backsteine“ der Gefängnismauer. Und was ich nicht sehe bzw. nicht weiß, macht mich bekanntlich nicht heiß. Es ist oft vorteilhafter, selber „ein zusätzlicher Backstein in der Mauer“ (Dank an Pink Floyd) zu werden als aus diesem „fürsorglichen“ Gefängnis auszureißen.

Zur Person:
Der schwedische Lyriker Tomas Gösta Tranströmer wurde am 15. April 1931 in Stockholm geboren und starb dort am 26. März 2015. Im Jahr 2011 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Sein Gesamtwerk, das zwölf Gedichtbände umfasst, wurde in über 50 Sprachen übersetzt.

Metaphysik des Dauernden im Flüchtigen

Der neuste  Lyrikband von Sybille Fritsch, „DA! Gedichte“, beschwört durch die Dichtkunst eine Metaphysik des Dauernden im Flüchtigen.

In diesem Band sind sowohl schematische, als auch manchmal intuitive Beschreibungen des persönlich erlebten Transzendentalen versammelt – sie gehen Hand in Hand mit Erörterungen von fernöstlichem Gedankengut und mystischer Tradition u.a. des Christentums: „Gib dich zufrieden und sei stille“ (S.11).

Hauptthema des Bandes, die Definition von „Wirklichkeit“ und deren Grenzen wird in Gedichten wie „Haiku I “ (S. 9),  „Vorläufigkeit“ (S. 28) ausgedrückt. Darum bedeutet Fritsch zu lesen immer auf einem Bewusstseinsstrom zu navigieren, auf dem alle Substanzen, Gefühle und Beziehungen unaufhörlich in Transformation sind: „Die nächsten 60“ (S.16) „Da“ (S. 34).

„Komm und wachse“ ist die eine Botschaft: „Ich werde nicht bescheiden sein“ die andere (S. 49).  und zum Moment zu sagen „verweile doch, du bist zu schön“ ist immer Falschheit und Selbstbetrug gewesen; Vervollständigung und Transzendenz wurden so verpasst. Dann wird die Zeit  zu einem Gefängnis, denn wo keine Veränderung stattfindet, wird Stasis zum Verfall: „Ewige Jugend“ (S. 62)  besagt in einem skeptischen Ton, was ebenso unmöglich wie unpassend ist: „Du willst …, dass ich Deinem Blick/anheimfalle/ … die Uhren/rückwärtsdrehn/Wunder wirken“. Stillstand erst bringt Sterblichkeit d.h. Gefangenschaft im Ich: „Zeitstillstand“ (S.74).

Sobald das „Glück ohne Ende“ sich erfüllt, wird es zu einer Erinnerung. Darum ist Glück ohne Ende eine Legende. „Die Legende vom Glück ohne Ende“ (S 65). Das von einer spießbürgerlichen Mittelschicht ersehnte „Glück ohne Ende“ (S. 69) steht als leer und hässlich entlarvt da.

Der Tod ist nicht das Gegenteil vom Leben, Nacht ebenso wenig das Gegenteil von Tag „Sehnsucht“ (S. 76), sondern Ausdruck der Ewigkeit: „Sehnsucht geerdet /in Sinn und Verstand … im Haar.“ Die letzten 7 Zeilen dieses Gedichts erinnern an die Aussage des Sufimystikers Imadeddin Nesimi: „Ins Absolute schwand ich hin. Mit Gott bin ich zu Gott geworden.“ Die Einheit der Welt  besteht in Gott, der nicht außerhalb oder über, sondern in der Welt realisierbar ist: „Zwischentöne“ (S. 82). Jedoch existiert neben der immanenten Gottesebene eine transzendentale (c.f. Spinoza), auf der alle Elemente vereint sind. Das kann man auch von „Ausflug in die Zeit“ (S.100) behaupten.

Gott ist für den Pilger ein Paradox: „Licht ohne gleichen, das dunkel ist,/ in dem wir sehn.“ Des Pilgers Auffassung der Wirklichkeit ist unvollkommen und „beschlagen“ (c.f. 1. Kor. 13:12): Doch am Ende seiner Zeit sieht er ohne Schleier, „Nur eins dies Jahr“ (S.101), „Von Angesicht/ zu Angesicht“. Die Zeit kann nur punktuell Heimat werden, sie bleibt ein Tal der Tränen.

Jenseits der Zeit kann und muss man sich dann von den Elementen treiben lassen – wenn alle Zeiten zu einer Zeit zusammenkommen – das ist die Dialektik von Sein und Nicht-Sein. „Ich“ enthält in einem ewigen Augenblick alle Emotionen und überhaupt alles, was gewesen ist und was kommen wird. Gegensätze und Gegenteile sind versöhnt. „Ich“ ist befreit und nicht in der Zeit, sondern umgekehrt. Diese Herrschaft über die zeit besiegt den Tod: „Liedchen für den ewigen Augenblick – ein kaltes Gedicht“ (S. 88-89). In die Zeit hineingeboren zu sein, heißt auf eine Pilgerfahrt losgeschickt zu werden  – „Nur eins dies Jahr“  (S. 101): „Die Zeit ein Wanderstab/ zu Gott…“ – auf der das Ego vor dem Körper stirbt – „Vorhangbrokat“ (S. 36)  – . Tod und Sterben als Ende des hiesigen Fortlebens bedeuten die Transformation in einen anderen Zustand, die Erlangung von Frieden.

Der Band endet mit dem Gedicht „Gebet“ (S. 105). Eine Bitte an Gott und eine Zusammen- fassung der Merkmale des Pilgerlebens und dessen Hoffnung: „Mut und Neugier“, „Schönheit“, „Klugheit, Liebe dieser Welt/ zu Füßen legen und auferstehn…/ und dir Verstand und Herz und Sinn verdanken/ und meine Schranken testen …/ Ich komme zur Ruh und komm doch nicht zur Ruh,/bis ich ganz göttlich bin./Ich glaube und ich glaube nicht -“. Darum, liebe Leser(innen), mit Sybille Fritsch beten und „AUFSTAND WAGEN…“ !

Sybille Fritsch, „DA! Gedichte“, Geest-Verlag 2024, 116 S., 12 Euro,
ISBN 978-3-86685-974-6