erschienen im Hamburger Abendblatt am 14. April 2011
Von Johanna R. Wöhlke
Es ist die Zeit der Vögel, scheint es mir. Wenn es zu Weihnachten hieß: Allüberall auf den Tannenspitzen sah ich goldene Lichtlein blitzen, dann müsste es nun heißen: Allüberall auf den Tannenspitzen sah ich zwitschernde Vögel sitzen – und wie sie zwitschern. Sie zwitschern nicht nur, sie machen auch andere Dinge und sind sogar schon mit der Brutpflege beschäftigt. Einen Sommer lang sind sie mit der Brutpflege beschäftigt und dann, endlich, fliegen sie aus, die groß gewordenen Kleinen.
Das bringt eine Menschenfrau unwillkürlich zu menschlichen Gedanken, was die Brutpflege angeht. Ein Vogel hat nur einen Sommer lang zu tun, das allerdings jeden Sommer wieder, zugegebenermaßen. Wir Menschen haben ein ganzes Leben lang zu tun, na ja, nicht ganz, ebenfalls zugegebenermaßen, aber eigentlich doch ein ganzes Leben lang. Kinder bleiben immer Kinder, sagt der Volksmund zu Recht.
Welch einen langen und mühsamen Prozess hat uns die Natur auferlegt, unsere „Brut“ großzuziehen: neun Monate im Bauch der Mutter, sechs Jahre bis zum Schulanfang, viele weitere bis zum Ende der Berufsausbildung – da können schon mal locker 25 Jahre ins Land gehen in dieser Zeit.
Was ist aus uns Eltern geworden in diesen 25 Jahren? Wie hat sich unser Leben neben und mit den Kindern entwickelt? Was ist geworden aus dem „Nest“, dem ewigen Heranschleppen von „Regenwürmern und Getier“, dem Begleiten von „Flugversuchen“, dem Schützen und Bewahren?
So sind die Gedanken im Frühling, wenn die Vögel auf den Tannenspitzen sitzen und ehrlich gesagt und ganz leise unter vorgehaltener Hand: Es war eine wunderschöne Zeit, aber noch mal das Ganze von vorn? Da setze ich mich lieber unter die Tanne und höre zu, wie die Vögel zwitschern. Jetzt ist ihre Zeit!