Von Uta Buhr
Von einem der auszog, seine Angst zu überwinden. „ Trick 347“ oder „Der mutigste Junge der Welt“ handelt von einem Elfjährigen, der das Abenteuer Zirkus für sich entdeckt.
Hand aufs Herz. lieber Leser, gehören Sie nicht auch zu jenen Menschen, die sich in ihrer Kindheit nichts sehnlicher wünschten, als zum Zirkus zu gehen, um als Trapezkünstler oder Löwenbändiger zu brillieren? Wer von uns träumte nicht von der unendlichen Freiheit des fahrenden Volkes, das sich nur kurz an einem Ort aufhält, seine Kunststücke einem staunenden Publikum präsentiert und bei Nacht und Nebel in ferne Länder zu neuen Abenteuern aufbricht? Besonders reizvoll schien uns der Gedanke, nicht an einem langweiligen „Paukinstitut“ bei Mathematik, Aufsätzen und lateinischer Grammatik unser junges Leben zu fristen. Selbst die mahnenden Worte der Eltern, uns keinen Illusionen über das entbehrungsreiche Nomadenleben der Zirkusleute im Wohnwagen hinzugeben, fruchteten da nicht.
Und genau hier beginnt die aufregende Geschichte des elfjährigen Tom, der während einer Vorstellung des „Zirkus Merlini“ beschließt, es den Artisten in der Zirkuskuppel gleichzutun und ihre halsbrecherischen Kunststücke zu erlernen. Eine enorme Herausforderung für Tom, der unter einer unbezwingbaren Höhenangst leidet. „Nur wer das Unmögliche will – von einem Trapez zum anderen zu fliegen, über einen bleistiftdünnen Draht tanzen oder auf einer glitzernden Kugel schweben – nur der sollte es wagen, in das Rund einer Manege zu treten. Denn ein Leitspruch eint die Feuerspucker und Jongleure, Seiltänzer und Schlangenmenschen: Wunder sind machbar“, heißt es an einer Stelle dieses von der Jugendbuchautorin Nina Weger geschriebenen Buches, deren kleiner Held seine Ängste überwindet und nach langem harten Training schließlich das Unmögliche schafft. Tatkräftig unterstützt wird er dabei von dem einst weltberühmten, geheimnisvollen Artisten Arthur Merlini, der sich aus dem aktiven Zirkusbetrieb zurückgezogen hat und nun mit einer kleinen hoch motivierten Truppe auf einem Güterbahnhof ein bescheidenes Dasein fristet.
Wir lernen den langen Herrn Bohne, die zierliche Mia sowie viele andere Akteure kennen, darunter Crevette, Rose und Ajax, alles erfahrene Artisten, die Tom bei seinen Bemühungen aktiv zur Seite stehen. Das Team wird ergänzt durch zwei Schulfreunde Toms, die ebenfalls in kürzester Zeit dem Zirkusfieber verfallen. Der Leser nimmt teil an den Trainingsstunden der Jugendlichen und erfährt unter anderem, wie ein Flic-Flac gesprungen wird. Man springt rückwärts auf die Hände und dann wieder auf die Füße. Echte Könner springen viele Flic-Flacs nacheinander. Laut Tom die allercoolste Nummer!
„Trick 347“ oder „Der mutigste Junge der Welt“ ist ein komplexes Buch. Hierin geht es nicht ausschließlich um Flugrolle, Salto Mortale und Mühlumschwung, sondern auch um Toms bewegende persönliche Lebenserfahrung. Seiner Mutter, einer Wissenschaftlerin, die sich gerade auf eine Expedition an den Polarkreis begeben will, fühlt der Junge sich zutiefst verbunden. Aber über seinen Vater weiß er gar nichts. Kryptisch antwortet Mama stets auf seine bohrenden Fragen nach seinem Erzeuger, dieser sei kurz vor seiner Geburt gestorben, also jetzt „im Himmel.“ Doch der Junge glaubt ihr nicht und beginnt nachzuforschen. Eine alte Eintrittskarte für den „Zirkus Merlini“, die er in den Unterlagen seiner Mutter findet, setzt ihn auf eine heiße Spur. Das Datum liegt zwölf Jahre zurück. Ist der von ihm verehrte Arthur etwa sein Vater? Verschiedene Indizien weisen in diese Richtung. Wie Tom am Ende noch das Geheimnis seiner Herkunft enttarnt, wird hier nicht verraten. Dem Leser soll die Freude an diesem ebenso spannenden wie gut geschriebenen Buch nicht genommen werden. Bis zur Überwindung vieler Widerstände einschließlich zahlreicher falscher Fährten liegt noch ein weiter Weg vor dem Protagonisten. Vor den Erfolg haben die Götter eben den Schweiß gesetzt. Wer von uns hat dieses Diktum nicht aus dem Mund von Eltern und Erziehern gehört.
Dies vorab: Der marode Zirkus des Arthur Merlini wird in letzter Minute vor dem Untergang gerettet und der „Maulwurf“, der die Bemühungen der Zirkustruppe torpedierte, gerade noch rechtzeitig entlarvt. Und auch Tom findet am Ende seinen Vater. Das Happy End ist programmiert. Es ist jedoch alles andere als kitschig, enthält es doch einen kleinen Wermutstropfen. Dadurch wird die Geschichte vom mutigen Tom umso glaubwürdiger.
Autorinnen wie Nina Weger, die – obgleich noch relativ jung – eine erstaunliche Karriere vorzuweisen haben, wünschen wir uns in viel größerer Zahl unter den Verfasserinnen von Jugendliteratur. Nina begann ihre vielversprechende berufliche Laufbahn gleich nach dem Abitur als Seiltänzerin beim Circus Belly. Aus dieser Zeit stammt auch ihr profundes Wissen über alles, was mit Zirkus zu tun hat. Das Glossar im Anhang ihres zauberhaften Buches informiert den Leser detailliert über das in Zirkuskreisen übliche Vokabular. Wussten Sie zum Beispiel, was ein „Devilstick“, ein „Gradin“ oder ein „Racklo“ ist? Einfach die Seiten 327 ff. aufschlagen. Diese Begriffe gab es in der Antike noch nicht. Doch mit „panem und circenses“ (mit Brot und Spielen) wussten bereits die alten Römer ihr „populus romanus“ bei Laune zu halten, wenn auch ihre Volksfeste in der Arena ungleich brutaler abliefen als in unseren Tagen. Der Zirkus bietet seinen Zuschauern ein außerordentlich vielseitiges
Spektakel. Neben riskanten Trapez- und Dressurnummern beinhaltet dass Programm jede Menge Spaß. Dass zur Belustigung des Publikums auch stets ein Clown mit roter Nase und übergroßen Schuhen gehört, versteht sich von selbst.
Also auf ins Lesevergnügen mit dem Jungen, der seine Höhenangst mit Bravour überstand!
Fotos: Udo Weger
„Trick 347“ oder „ Der mutigste Junge der Welt“ ist zwar ein Jugendbuch, empfiehlt sich aber auch für jung gebliebene Erwachsene, die gern einen Blick in die faszinierende Welt des Zirkus werfen möchten.
„Trick 347“ oder „Der mutigste Junge der Welt“ ( ab 12 Jahren)
von Nina Weger
erschienen im Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg
320 Seiten, gebunden, zum Preis von € 12,99