Von Maren Schönfeld
Zur Tagung der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik (GZL) in Leipzig am 19. Oktober 2013
Wer an diesem Wochenende in Leipzig war, traf die Vergangenheit in Form von Männern mit Säbeln und Frauen mit Hauben. Sie hatten sich im Stil des frühen 19. Jahrhunderts gekleidet, um an den Veranstaltungen zum Gedenken der Völkerschlacht vom 16. bis 19. Oktober 1813 teilzunehmen, vielleicht sogar an dem großen Spektakel der historischen Gefechtsdarstellung am Sonntag.
Bereits einen Tag weiter ist der Besucher im Yadegar Asisi PANOMETER. Dort zeigt ein 360°-Panorama im Maßstab 1:1, auf etwa 3.500 Quadratmetern, die Stadt Leipzig nach der Völkerschlacht. Aufruhr, Verwundete, kaputte Gebäude und rauchende Dächer bildeten am Samstagabend die Kulisse für das, was Poeten zu diesem Thema beizutragen haben: Gedichte gegen den Krieg. Die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik ( GZL) tourte 2013 mit der 15. Ausgabe des von ihr herausgegebenen „Poesiealbum neu“ durch die Republik. Die Lyrik ist nicht uniform eingekleidet und riecht nicht nach Pulverdampf, sie blickt zurück, um über die Geschichte hinaus in die Gegenwart zu führen, in die heutige Welt. Das 60 Seiten umfassende Heft birgt Texte, die an Pjöngjang erinnern, an Afghanistan und auch, natürlich, an den Zweiten Weltkrieg. Selbst Redensarten, „einschlagend wie eine Bombe“, werden zur Mahnung – auch Worte können Säbelrasseln sein.
Die Moderatorin Maja Gille und die Lyriker Stefanie Kemper, Michael Augustin, Peter Gosse, Wolfgang Rischer und Ralph Grüneberger zeigten, dass Gedichte eben nicht gestrig, sondern hochaktuell sind. Die eigenen Kompositionen des Ensembles „Die Lyrischen Saiten“ für Cello, Percussion und E-Gitarre gaben den Gedichten, was Lyrik in seinem Ursprung bedeutet, nämlich zum Spiel der Lyra gehörende Dichtung – hier im Wechsel vorgetragen und doch als zusammengehörig empfunden.
2012 feierte die GZL ihr zwanzigjähriges Bestehen und die Lesetour mit dem „Poesiealbum neu: Gegen den Krieg. Gedichte & Apelle“ ging von Leipzig über Isny, Magdeburg, Weimar, Bergkamen, Unna und Dresden. Seit 2007 gibt die Gesellschaft das Heft heraus, es ist die Nachfolge des zu DDR-Zeiten vom Verlag Neues Leben in 290 Ausgaben herausgegebenen „Poesiealbum“. Anlässlich der 1000-Jahrfeier Leipzigs wird 2014 ein Sonderheft des „Poesiealbum neu“ mit Texten aus Leipzigs Partnerstädten erscheinen. Das ist jedoch nicht das einzige Thema, dem die namhaften und weniger bekannten Poeten sich verschrieben haben: Jährlich richten sie zwei Lese-Events aus, im März zur Leipziger Buchmesse und zum Leipziger Literarischen Herbst im Oktober. Mit der Hörbuch-Aktion „Worte sind Boote“ für Kinder in Not initiierte der GZL-Vorsitzende Ralph Grüneberger ein Benefiz-Projekt, das mehrere Tausend Euro einbrachte, die für Kinder aus Tschernobyl gespendet wurden. Spätestens dies widerlegt die These, Lyrik sei tot.
Nicht zu vergessen auch die Leipziger Lyrikbibliothek, die Ralph Grüneberger in Kooperation mit der Stadtbibliothek Leipzig eingerichtet hat. 1998 mit 800 katalogisierten Titeln eröffnet, ist sie heute eine repräsentative Sammlung von Publikationen, die den schnelllebigen Markt manchmal allzu schnell wieder verlassen müssen. Mit jedem Jahr wird der Bestand also kostbarer, ab nächstem Jahr ist er auch ausleihbar. Lyriker können ihre Publikationen für die Aufnahme in die Bibliothek spenden.
Lyrik verkaufe sich nicht, interessiere nicht, werde nicht gelesen, so hört man häufig, und das war schon immer so. Auch Rilke hatte es schwer, einen Verlag zu finden und finanzierte seine ersten Publikationen selbst. Bestimmt ist Lyrik kein Massenphänomen, aber sie geht unter die Haut, nistet sich ein, setzt sich fest. Manch ein Gedicht bleibt so tief haften, dass es einen begleitet, abrufbar ist in möglichen und unmöglichen Momenten. Die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik bewahrt, allen Förderverweigerungen und Widrigkeiten zum Trotz, und befördert das Gedicht und seine Autoren und kann deshalb nicht hoch genug geschätzt werden.