erschienen in der Preußischen Allgemeinen Zeitung
Von Dr. Manuel Ruoff
Vor 75 Jahren erhielt die grüne Insel ihre heutige Verfassung
Der Anglo-Irische Krieg um die Unabhängigkeit Irlands von England endete mit einem Kompromiss, dem am 6. Dezember 1921 in London unterzeichneten Anglo-Irischen Vertrag (The Treaty). Ihm gemäß wurde die grüne Insel geteilt in einen kleineren, überwiegend von Protestanten bewohnten Nordteil, der beim Vereinigten Königreich verblieb und einen größeren, überwiegend von Katholiken bewohnten größeren Teil, der als Irischer Freistaat statt der erstrebten Souveränität nur den Status eines Dominion wie Kanada erhielt.
Die Frage, ob man sich mit diesem Kompromiss, der weder die Einheit noch die Souveränität brachte, zufrieden geben solle, spaltete die irische Nationalbewegung. Der innerirische Streit eskalierte 1922 zum Irischen Bürgerkrieg zwischen „Cumann na nGaedhael“ (Bündnis der Gälen), den Treaty-Befürwortern, und „Sinn Féin“ (Wir selbst), den Treaty-Gegner. Der blutige Kampf endete 1923 damit, dass der Präsident von Sinn Féin, Éamon de Valera, seine Kämpfer wegen Aussichtslosigkeit aufforderte, die Kämpfe einzustellen und die Waffen niederzulegen.
Wenn die Sinn Féin auch den bewaffneten Kampf gegen den Treaty und den aus ihm hervorgegangenen Irischen Freistaat aufgegeben hatte, bedeutete das nicht, dass sie sich nun in die politische Arbeit des neuen irischen Teilstaates eingebracht hätte. Das lag auch daran, dass die Parlamentarier des Freistaates gemäß dem Treaty nicht nur dem Freistaat, sondern auch dem britischen Monarchen Treue schwören mussten. Das war eine Zumutung für irische Patrioten angesichts der englischen Verbrechen an den Iren während ihrer Fremdherrschaft. Andererseits überließ die Sinn Féin so den Staat Cumann na nGaedhael, obwohl ihre englandkritische Politik in der Bevölkerung durchaus ihre Freunde und Anhänger hatte.
De Valera erkannte das Dilemma. Da für ihn wie für die meisten irischen Patrioten die katholische Kirche eine identitätsstiftende Autorität im Kampf gegen die anglikanischen Engländer war, suchte er nach einer Antwort in Rom. Nachdem der Führer der unterlegenen Bürgerkriegspartei 1924 aus der politischen Haft der Sieger entlassen worden war, pilgerte er in die Ewige Stadt und suchte unter anderem im dortigen Irish College nach einer theologischen Lösung, wie er den für den legalen Weg an die Macht unausweichlich scheinenden Treueschwur mit seinem Gewissen vereinbaren könnte. Er wurde fündig und versuchte nach seiner Rückkehr seine Sinn Féin für den parlamentarischen Weg an die Macht zu gewinnen. Er scheiterte mit diesem Versuch und gründete deshalb 1926 die Partei Fianna Fáil (Soldaten des Schicksals). Mit der Republikanischen Partei, wie sie weniger pathetisch auch genannt wird, versuchte de Valera auf legalem, parlamentarischem Wege, sein Land von den Fesseln des Anglo-Irischen Vertrages zu befreien sowie den Irischen Freistaat in eine souveräne, gesamtirische Republik umzuwandeln. Nachdem der erste Anlauf bei den Parlamentswahlen von 1927 noch gescheitert war, gelang ihm und seiner Partei mit Unterstützung der Labour Party nach der Parlamentswahl von 1932 der legale Regierungswechsel. Es folgten über eineinhalb Jahrzehnte, in denen de Valera als Regierungschef seine politischen Ziele verfolgen konnte.
Naheliegenderweise war de Valera die Abschaffung des Treueeides der irischen Abgeordneten auf den britischen Monarchen ein Herzensanliegen. Des Weiteren spielte bei seiner Revision des Anglo-Irischen Vertrages ähnlich wie bei den deutschen Versuchen einer Revision des Versailler Vertrages die Linderung der finanziellen Belastungen eine wichtige Rolle. Großbritannien forderte vom Irischen Freistaat jährliche Zahlungen zur Begleichung der 100 Millionen Pfund, die, so die britische Darstellung, Iren im 19. und 20. Jahrhundert sich in Großbritannien zum Landerwerb geliehen hatten. De Valera stellte die Zahlungen ein mit der Begründung, dass es irrwitzig sei, dass die Briten dafür Geld haben wollten, dass Iren ihr eigenes Land in Besitz genommen haben. London reagierte darauf mit Wirtschaftssanktionen wie Importbeschränkungen auf Lebensmittel, worauf Dublin mit Importbeschränkungen für britische Waren reagierte. Es war ein Kampf David gegen Goliath, der aber schließlich zum Erfolg führte. England gab sich mit zehn Prozent der ursprünglich geforderten 100 Millionen zufrieden und verzichtete 1938 auf die sogenannten Treaty Ports, die Vertrags-Tiefseehäfen in Südirland, deren Verbleib beim Vereinigten Königreich sich dieses im Anglo-Irischen Vertrag ausbedungen hatte. Ein weiterer Erfolg war die Abschaffung des britischen Generalgouverneurs, über den die britische Krone Einfluss auf die irische Politik nehmen konnte.
Die Krönung der Revision des Anglo-Irischen Vertrages war die maßgeblich auf de Valera zurückgehende neue Verfassung von 1937, die bis zum heutigen Tage Bestand hat. Sie war und ist das Grundgesetz eines souveränen Staates. Folglich wurde sie auch nicht mit der ehemaligen Besatzungsmacht ausgehandelt wie der Anglo-Irische Vertrag, sondern erhielt ihre Weihe nach der Zustimmung durch das irische Parlament durch ein Votum des irischen Volkes. Am 1. Juli 1937 stimmte die Bevölkerung über den Entwurf ab. Bei einer Wahlbeteiligung von 75,8 Prozent votierten 56,5 Prozent mit Ja. Am 29. Dezember trat die Verfassung in Kraft. Damit war auch der ungeliebte aus dem Treaty hervorgegangene Irische Freistaat überwunden. An die Stelle des „Irischen Freistaates“ mit dem britischen Monarchen als Staatsoberhaupt trat „Irland“. Dass ein Staats- nur aus einem Landesnamen besteht, ist ungewöhnlich, aber gerade nach Umbruchszeiten nicht einmalig. Man denke an Rumänien. Zudem sollte der provisorische Charakter zum Ausdruck gebracht werden, denn das Ziel blieb die Vereinigung mit dem weiterhin britisch beherrschten Norden zur „Irischen Republik“.
Es ist als ein Akt der Etablierung und Arrangierung mit der Teilung zu verstehen, dass Irland sich nach dem Regierungswechsel von 1948 bei Beibehaltung der 37er Verfassung per Gesetz in „Republik Irland“ umbenannte. Allerdings erfuhr de Valeras Politik dadurch insoweit eine Fortsetzung, als Irland damit automatisch aus dem Commonwealth ausschied, die letzte Bande zur alten Besatzungsmacht gelöst war.
Heute ist Irland nicht zuletzt dank de Valera ein souveräner Staat. Aber geteilt ist das Land nach wie vor und aufgrund der protestantisch-unionistischen Mehrheit im Norden ist eine harmonische Vereinigung auf absehbare Zeit kaum vorstellbar.