Wie ändert eine Ex- Stewardess und mit der Arbeit nicht glückliche Rechtsanwältin ihr Leben, nachdem zu allem Überfluss auch noch die Ehe gescheitert ist?
Das ist der Stoff, aus dem das ZDF in unschöner Regelmäßigkeit Melodramen zurechtschnitzt, worüber Tageszeitungsleser in Form von Fortsetzungsromanen untersten Niveaus hinwegblättern und sich die Abonnenten bestimmter, für die Damenwelt konzipierter Illustrierten freuen. Böte Elli H. Radinger in ihrem Buch Wolfsküsse derartige Einheitskost, wäre die Rezension hier beendet.
Doch die Autorin wendet sich, anstatt in Selbstfindungskrisen zu ersticken, der Beobachtung freilebender Wölfe zu und entdeckt im Yellowstone National Park im Westen der USA ihre Bestimmung. Weiblich- anekdotisch- autobigraphisch ist das zum Thema entstandene Buch auch, jedoch nicht so penentrant, dass man es vor den wirklich interessanten Schilderungen zuklappt.
Elli H. Radinger entwickelt eine starke emotionale Zuneigung zu den Wölfen. In dem Bestreben, ihnen näher zu kommen und die Tiere verstehen zu lernen, praktiziert sie zunächst in einer Wolfsfarm in den Vereinigten Staaten. Dort kommt sie den Wölfen näher, nimmt körperlichen Kontakt auf und bemerkt, wie sich die Faszination verstärkt. Zurück in Deutschland gründet sie, wie es sich in diesem Lande zu gehören scheint, einen Verein, gibt eine Zeitung über Wölfe heraus, nimmt Kontakt zu Wolfsschützern in ihrem Heimatland auf. Doch der Ort ihrer Sehnsucht liegt in Montana, im Yellowstone National Park. Dorthin reist sie immer wieder, nimmt den Kontakt zu dort zum Thema Wölfen arbeitenden Biologen auf und schafft es mit Zähigkeit, in das Beobachterteam aufgenommen zu werden.
Sie verhehlt nicht die Probleme, die manche Bewohner der Region mit den dort ausgewilderten Raubtieren haben. Vor allem aber beschreibt sie in flüssiger Sprache die Arbeitsweise der Wolfbeobachter, die zwar viele Tier mit Peilsendern versehen, aber darüber hinaus nicht versuchen, die Wölfe in ihrer natürlichen Lebensweise zu behindern. Es wird mit Spektiven beobachtet, dokumentiert, fotografiert und gefilmt, aber der Mensch greift nicht ein. Die Begeisterung schwappt zum Leser hinüber, wenn sie ihre Lieblingstiere in ihrem Verhalten beschreibt, ob beim Reißen eines Wapitihirsches oder beim Dösen im Schnee. Das Schicksal von Leitwölfen wird ebenso plastisch geschildert wie das des wölfischen Frauenschwarms, denen die Forscher den Namen Casanova gegeben haben, weil er es versteht, die Wölfinnen auch fremder Rudel zu becircen.
Ganz nebenbei erfährt der Leser etwa, wie man sich mit Pfefferspray die Grizzlies vom Leibe hält (erst ganz nahe herankommen lassen, bevor man die Abwehrwaffe einsetzt), dass man von Bisons besser einen gehörigen Abstand hält und wie die Rangordnung des Fressens bei einem erlegten Wild ist (erst die Wölfe, dann Koyoten, dann die Adler und die Raben – und gelegentlich bringt ein Bär die Reihenfolge durcheinander). Er lernt, warum man im Auto und Zelt jegliche Lebensmittel nur in geruchsdichten Kisten aufbewahren darf (nur so ist man einigermaßen sicher vor den Bären) und dass es im Yellowstone Park einen Bären gibt, dessen größtes Vergnügen es ist, sich auf eine bestimmte Zeltart zu werfen. Er lernt, dass die Forscher auch dann nicht eingreifen, wenn ein Tier verletzt ist oder nach Einbrechen in einen zugefrorenen See langsam und qualvoll stirbt. Das Credo der Biologen ist es, das natürliche Leben und den Kampf um selbiges nicht zu beeinflussen – mit Ausnahme der angebrachten Peilsender.
Doch das Hauptthema sind die Wölfe, ihr Sozialverhalten, ihre Jagdtechniken, die Revierkämpfe und die Aufzucht der Jungen – immer aus der Perspektive des entfernten, möglichst wenig störenden Beobachters. Elli H. Radinger bringt die großen Raubtiere näher, räumt mit Vorurteilen auf – und beschreibt dabei, wie ein ökologisches Gleichgewicht in Fauna und Flora nur möglich ist, wenn der Mensch den Dingen und den Lebewesen ihren Lauf lässt.
Fazit: Ein sehr lesenswertes Buch für die Freunde nicht nur der Wölfe. Ein Plädoyer für einen sanften, nicht störenden Umgang des Menschen mit der Natur.
- Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
- Verlag: Rütten & Loening; Auflage: 1 (19. September 2011)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3352008205
- ISBN-13: 978-3352008207
- Größe und/oder Gewicht: 22 x 13,4 x 2,2 cm
- Preis: 19,99 €