25 Jahre Filmschule Hamburg Berlin

Andrè Feldhaus arbeitet als Komponist für Film und Fernsehen. Foto: Filmschule

Die Filmschule Hamburg Berlin in der Friedensallee in Hamburg- Ottensen feierte 2019 ihr 25-jähriges Bestehen. Gegründet wurde sie einst von Karin Dehnbostel unter dem Namen „medien und kulturarbeit e.V“. In all den Jahren hat der Verein zahlreiche Weiterbildungen angeboten und durchgeführt. Interessierte der audiovisuellen Medien wurden auf diese Weise zusammengeführt.
Versierte Dozenten, die sich in ihrem Bereich bereits einen Namen gemacht haben, unterrichten in der Filmschule und geben somit ihr umfangreiches Wissen weiter.

Selbstverständlich bietet der Verein auch im Jahr 2020 zahlreiche Kurse und Workshops an. Bereits am 11. und 12. Januar  startet in Hamburg das Seminar „Einsatz von Musik im Film“ unter der Leitung von Andrè Feldhaus, der als freier Komponist fürs Kino und Fernsehen arbeitet. Unter anderem schrieb er Musik für den „Tatort“ und diverse ARD-Reihen. Laut Aussage von Margot Neubert-Maric, Filmeditorin und seit 2009 Vorsitzende der Filmschule Hamburg Berlin, gibt es für dieses Seminar noch freie Plätze.
Vom 17. bis 19 Januar wird der Drehbuchautor Wolfgang Kirchner  in Berlin zukünftigen Autoren „Filmszenen, die süchtig machen“ näherbringen. Am 18. Januar (12 bis 19 Uhr) geht es in Hamburg um „Filmförderung im Praxistest“. Bernd-Günther Nahm vermttelt an diesem Tag die allgemeinen Grundlagen.
„Dramaturgisch denken und Geschichten erzählen“ heißt das Seminar in Berlin (24. bis 26. Januar) von Oliver Schütte, in dem es um die Einführung in das Drehbuchschreiben geht.
„Dramaturgie im Dokumentarfilm“ nennt sich ein Workshop, der am 1. und 2. Februar in Hamburg angeboten wird. Dozent ist der Dramaturg Oliver Rauch.

Anmeldung und weitere Infos: www.filmschule-hamburg-berlin.de

 

 

 

Der Mann mit den goldenen Händen. Eine Hommage an Ferdinand Sauerbruch in der Charité

Operation am Brustkorb („Thorakoplastik“) 1922, Ölgemälde, Hermann Otto Hoyer, Kunstsammlung Charité, Foto: Thomas Bruns, Berlin

Die Ausstellung „Auf Messers Schneide“. die bis zum 2. Februar 2020 im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité läuft, ist ein posthumes Heimspiel für den legendären Chirurgen Ferdinand Sauerbruch (1875 bis 1951). Denn in diesem Krankenhaus feierte der „Mann mit den goldenen Händen“ seine größten Erfolge. Die Ausstellung verzeichnet täglich bis zu dreihundert Besucher.

Beim Betreten des ersten Saales sticht der riesige Schreibtisch des Chirurgen ins Auge. Dahinter an einem Nagel hängt sein weißer Arztkittel. Die Brille mit den kreisrunden Gläsern ruht gleich nebenan in einer gläsernen Vitrine. Man könnte meinen, Sauerbruch habe gerade sein Zimmer verlassen und würde jeden Augenblick zurückkommen, um einen Patienten zu empfangen. Während wir auf ihn warten, begeben wir uns auf einen Rundgang durch sein bewegtes Leben, das in den Ausstellungsräumen bis ins kleinste Detail dokumentiert ist.

Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch 1932, Max Liebermann, Öl auf Leinwand, © Hamburger Kunsthalle /bpk, Foto: Elke Walford

Sauerbruch wuchs im ostrheinischen Barmen in kleinbürgerlichen Verhältnissen als Enkel eines Schuhmachers auf. Nach dem von seiner Familie geförderten Medizinstudium und Stationen an Krankenhäusern in Erfurt und Kassel begann sein kometenhafter Aufstieg als bald weltberühmter Chirurg, der aufgrund seiner Erfolge im OP-Saal von der internationalen Presse mit Elogen überschüttet wurde. „Meister des Skalpells“, „Gigant der Chirurgie“, „Sieger über den Tod“ und „König der Chirurgen“ waren nur einige der ihm zugedachten Titel. Beim Anblick der aus dem frühen 20. Jahrhundert stammenden Gerätschaften wie Peritonalklammern, Zungenzangen und Leberhaken staunen die jüngeren Besucher. Mit so primitivem Handwerkszeug haben die Altvorderen hantiert? Der klobige OP-Tisch mit den ledernen Halteriemen lässt sie erschaudern. „Sieht ja aus wie eine Folterbank mit Fesseln“, flüstert einer. Kaum vorstellbar, dass unter diesen heute so antiquiert wirkenden Bedingungen Medizingeschichte geschrieben wurde. Weltweite Anerkennung fand Sauerbruch durch seine Operation am offenen Brustkorb, die der Maler Hermann Otto Hoyer 1932 auf einem lebensgroßen, hier ausgestellten Gemälde eindrucksvoll festhielt.

Die vielen Tondokumente, bei denen der Chirurg selbst zu Worte kommt – sei es im Hörsaal oder im Gespräch mit Kollegen – helfen, die Persönlichkeit des Menschen Sauerbruch zu verstehen. Offenbar war er mit einem rheinischen Humor gesegnet, den seine Studenten sehr schätzten. Da kommen Zweifel an dem Etikett „Halbgott in weiß“ auf, das ihm manche seiner Zeitgenossen ans Revers geheftet hatten. Es ist bekannt, dass Sauerbruch stets das Wohl seiner Patienten über alles andere stellte. Zitat: „Arzt ist nur der, der nicht an sich selbst denkt, sondern an seine Mitmenschen, der Verständnis hat für die Qual der Kranken.“ Der Eid des Hippokrates in seiner edelsten Form.

Ein Teil der Ausstellung befasst sich akribisch mit der Rolle Sauerbruchs während des Dritten Reiches. Warum hat er nicht klar Stellung gegen die Diktatur bezogen, lautet die Frage. Und stimmt es, dass er von den perfiden medizinischen Versuchen der Nazis am lebenden Menschen wusste und nichts dagegen unternahm? Fest steht, dass er an diesen Machenschaften nicht beteiligt war und nach 1945 von jeglicher Schuld freigesprochen wurde. „Sauerbruch ist beleidigt“, lautet eine Schlagzeile, als der Chirurg empört darauf hinweist, er habe auch während des Krieges seine Pflicht an seinen Patienten erfüllt. Denn selbst als Berlin lichterloh brannte und alliierte Bomben auch die Gebäude der Charité nicht verschonten, stand er Tag und Nacht im Bunker des Hospitals am OP-Tisch und operierte gewissenhaft jeden, der unter sein Skalpell kam.

Es lohnt sich, den Nachruf auf den großen Sauerbruch anzuhören, der am 2. Juli 1951 über den Äther ging. Ein mit Pathos gesprochener Kommentar, der den Dienst des Chirurgen am Menschen würdigte – ohne Wenn und Aber. De mortuis nil nisi bene.

Prothesenwand Arm- und Handprothesen 1920er – 1950er Jahre, Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité Foto: Thomas Bruns, Berlin

Dieser Artikel erschien im November im „Deutschen Ärzteblatt“ und im Dezember in der Preußischen Allgemeinen Zeitung

Von der Stärke einer Freundschaft

Cover

35 Jahre nach dem Abitur fährt Barbara zu einem Klassentreffen in ihre Geburtsstadt Gleiwitz. Bei einem Abstecher in den Vorort ihrer Kindheit ist es wie ein Déjà vu, als sie zwei Mädchen im Garten spielen sieht. Es erinnert sie an ihre Gemeinschaft mit ihrer Freundin Hanna, deren Großmutter Anfang der 1990er Jahre hierher zurückgekehrt ist. Aber was ist aus Hanna geworden?

Die Freundinnen hatten seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr. So wird Kathrin von K., Hannas Großmutter, nicht nur die Vergangenheit wieder aufleben lassen, sondern auch die Gegenwart lebendig machen und die Kindheitsfreundinnen wieder zusammenführen. Hanna, die sich nach dem Tod ihres Sohnes in ein Kloster zurück gezogen hat, und Barbara, die selbst einen querschnittsgelähmten Sohn hat, finden zu ihrer alten Freundschaft zurück. Renate Gandor-Glodny zeichnet ein einfühlsames Porträt von Menschen verschiedener Generationen, die Widrigkeiten in ihrem Leben überstehen müssen. Barbaras Sohn Alexander hat sich in einem geistigen Kosmos aus Literatur verschanzt und sich damit, ähnlich wie Hanna, in seinem Schmerz isoliert. Barbara lebt nur noch für Alexander und meint, kein Recht mehr auf ein eigenes Leben zu haben, solange es Alexander schlecht geht. In der wiedererstandenen Gemeinschaft der Freundinnen, ergänzt durch die Großmutter und Alexander sowie durch Andreas, der behutsam in Barbaras Leben tritt, erstarken die einzelnen Persönlichkeiten und finden zu einem tiefen Zusammenhalt. Wie der Buchtitel es schon benennt, ist diese Geschichte ein Plädoyer für Mut und Zuversicht, dass auch in den vermeintlich dunkelsten Momenten von irgendwoher ein Licht kommt und dass die Hoffnung zuletzt stirbt. Gerade in der heutigen Zeit baut diese Art Lektüre die Leserinnen und Leser gewiss auf und entlässt sie mit einem positiven Gefühl.

Renate Gandor-Glodny wurde 1944 in Posen geboren und lebte bis zu ihrer Ausreise 1979 nach Hamburg in Gleiwitz/Gliwice. Sie studierte am Polytechnikum in Gliwice und schloss das Studium als Dipom-Ingenieurin ab. Seit 1960 schreibt sie, zunächst Gedichte, später auch Prosatexte und journalistische Texte. Sie ist außerdem freie Übersetzerin und Journalistin.

Renate Gandor-Glodny: Steh auf und geh
Verlag Tredition, Hamburg 2012

„Funny Business“ – The New Play at the English Theatre of Hamburg

Want another drink, Madam?

Forget about rain and cold, have a nice hot cup’a tea and later take your seat in The English Theatre. No seat belts needed. Are you fit for fun? Okay, off we go to a small hotel – a bit seedy, but cosy in a way – in the English countryside that is already waiting for you. Make yourself comfortable and enjoy this hilarious farce written by Derek Benfield.
The plot:
Ferris (extremely funny as usual Stephen Chance), the clumsy receptionist who is replacing his sister while she is away on holiday in Spain, has obviously not been schooled to run a hotel. Anyway, he tries his best to please his guests and accepts generous tips from his clients with a broad smile. Judy (Jan Hirst), a married woman who is expecting her lover Henry (David Habbin) to spend a romantic weekend with him is full of remorse. What about her hubby when he finds out that… Oh, forget it for the time being. Ferris offers her the honeymoon suite, the best room in the house. First come, first serve. One guest after the other arrives. The second one is Angela (Debbie Radcliffe), a middle-aged attractive woman who never denies a drink, be it champagne or gin, is given one of the smaller rooms on the first floor. Why did she come to this place? Ferris is bewildered. Could she possibly be the journalist who is expected to write an article for a well-known magazine about the hotel? Ferris’ sister gave him the order to offer his best service to that writer. However, she neither told him the name of that person nor did she inform him about the sex of the writer. Man or woman – that’s the question. Ferris decides that it must be Angela and asks Judy and Henry in not too friendly a way to leave the honeymoon suite.

Let´s put Mr. Johnson into the closet.

Doors are opened and closed noisily, and the guests complain being sent upstairs and downstairs to other rooms that are far too small. The next one to arrive is Edgar (Blake Askew), a man like a boxer who suspects his wife of sharing a room with a lover and threatens to kill that bloke on the spot. Judy is shivering with fear. She knows from experience that Edgar, her husband, does not hesitate a minute to knock down a rival. Surprise, surprise! All of a sudden the play takes an unexpected turn. When Angela enters the lobby, she declares that she has been married to Edgar for many years without having seen him for a long time. Edgar, the bigamist – shame on him! For the first time in his life he blushes and confesses that he never divorced Angela. Thus, his marriage to Judy is a fake and illegal at that. Lucky Judy who got rid of that brutal fellow without really trying and now is free for Henry. All’s well that ends well after all?  Of course not.  Everybody who knows Derek Benfield and his oeuvre also knows that he has still something up his sleeve. This time it is Mr. Johnson (hilarious Gil Sutherland), a youngish man with a red face who is after the ladies in the hotel like the devil. By the way, he has swallowed a pill that makes him feel virile and extremely sexy. It is quite a job for Ferris, Edgar and Henry to calm Mr. Johnson.

Watch out, my friend. I´m furious  with you. Photos: English Theatre Hamburg.

Finally they lock him in a closet where he is totally undisturbed and can enjoy some “gentleman’s” magazines. In the meantime the funny business moves along at a fast pace in and outside the house. Dear spectator, do you have an idea who the hell might be the journalist expected to write an article about this hotel in the middle of nowhere? If so, please keep it to yourself. As a matter of fact, Ferris is totally confused and does not have the slightest idea who could possibly be the mysterious writer. The identity of that person is only revealed in the very last minutes of this farcial comedy, performed by six wonderful actors and directed by Robert Rumpf. Thank you all for a most amusing evening on a rainy day in autumnal Hamburg.

We are pleased to meet actors such as Jan Hirst, Debbie Radcliffe and Stephen Chance again. These three we already call members of the TET family. See you next time! British author Derek Benfield (1926 until 2009) is also well known to the audience. We remember some amusing plays written by him, for instance “Touch and Go, ”Don’t lose the Place” and “Anyone for Breakfast.”

Final performance of “Funny Business” on February 1, 2020
Tickets under phone number 040 – 227 70 89, online booking under www.englishtheatre.de

Next premiere: “Apologia” a play by Alexi Kaye Campbell, on February 13, 2020.

„Funny Business“ – das neue Stück am English Theatre of Hamburg

Noch ein Gin gefällig?

Es ist das Verdienst dieses kleinen Theaters, stets einen Mix aus verschiedenen Genres auf die Bühne zu bringen. Nach dem Gruselstück der Frau in Schwarz von Susan Hill kommt Derek Benfiels „Funny Business“ gerade recht – eine Komödie, die dem Publikum Lachsalven der Heiterkeit entlockt. Ein Stück wie geschaffen für die dunkle, trübe Jahreszeit vor den Festtagen. Diesmal bevölkern sechs Personen die in ein Hotel irgendwo in der englischen Provinz umgestaltete  Bühne. Nach und nach trudeln die Gäste ein: Henry, Angela. Judy, Edgar und Mr. Johnson. Der Zuschauer fragt sich beim Anblick dieser unterschiedlichen Menschen, wer zu wem gehört und was diese Leute ausgerechnet in dieses  etwas herunter gekommene Hotel führt. Da ist die verhuschte Judy (Jan Hirst), nahe am Wasser gebaut  und ständig den  Tränen nahe. Hat sie sich etwa eine Auszeit von ihren ehelichen Pflichten genommen, um hier mit Henry, ihrem ebenfalls verheirateten Liebhaber, ein romantisches Wochenende zu verbringen? Auch die selbstbewusste,  äußerst trinkfeste Angela (Debbie Radcliffe) gibt Rätsel auf. Was hat sie hier fern vom quirligen London zu suchen? Mr. Ferris, der ebenso unbeholfene wie schlitzohrige Sechste im Bunde an der Rezeption (glänzend Stephan Chance) ist etwas verwirrt. Wer von diesen Gästen ist denn nun der Journalist oder die Journalistin, der oder die einen Bericht über das Hotel für ein Magazin schreiben will. Seine Schwester, die Besitzerin des Hauses, die gerade im spanischen Benidorm weilt, hat Ferris eingebläut, die Presse besonders gut zu behandeln im Hinblick auf eine wohlmeinende Bewertung des Hauses.

In den Schrank mit Mr. Johnson

Es kommt, wie es kommen muss in einer Screwball Comedy. Verwechslung folgt auf Verwechslung, Knall auf Fall. Während Judy mit Henry in der Hochzeitssuite ihren Koffer auspackt, werden beide unsanft in ein anderes Zimmer verfrachtet, weil Ferris meint, in der sich mit Gin abfüllenden Angela die wahre Pressefrau herausgefunden zu haben. Koffer auf, Reisetasche zu, treppauf, treppab. Keiner kommt zur Ruhe. Hat er oder sie sich gerade im Zimmer eingerichtet, folgt eine neue Order von Ferris. So viele verschiedene Insassen hat die Hochzeitssuite noch nie an einem einzigen Tag beherbergt. Die Situation spitzt sich zu, als auch noch Edgar (Blake Askew) auf der Türschwelle erscheint, ein cholerischer Mann, der droht den hier vermuteten Liebhaber seiner Frau auf der Stelle zu ermorden. Dem armen Ferris zittern die Knie. Was tun? Als Edgar, Judys angetrauter eifersüchtiger Ehemann, sich als Bigamist entpuppt, ist die Hölle los. Wie das? Angela besteht darauf, offiziell mit Brief und Siegel Edgars wahre Ehefrau zu sein. Trotz gespielter Empörung ein Glücksfall für Judy, die jetzt ihre Zuneigung zu Henry (sympathisch: David Habbin) offen zeigen kann, weil sie offiziell mit Edgar nie verheiratet war.

Vorsicht, mein Freund, so nicht! Fotos: English Theatre Hamburg

„Funny Business“ enthält alles, was dem Zuschauer Lachtränen in die Augen treibt: Irrungen, Wirrungen, Gefühlsausbrüche und nur mühsam unterdrückte Gewalt. Also all jene Zutaten, die aus einer Farce erst eine Farce machen. Doch wir unterschätzen einen Autor vom Schlage eines Derek Benfield gewaltig, wenn wir meinen, er habe sich damit schon zufrieden gegeben. Er hat nämlich noch ein Ass im Ärmel. Und dieses heißt Mr. Johnson (skurril Gil Sutherland), ein Mann in den besten Jahren mit Glatze, der – um es dezent auszudrücken – ziemlich angeheitert durch das Hotel geistert und es auf die Ladies abgesehen hat. Je öller, je döller, der alte Schwerenöter ist definitiv sexsüchtig, und hier gilt: Wer nicht bei drei auf den Bäumen ist, kann was erleben.

Lieber Zuschauer, Du hast schon gemerkt, es geht turbulent in diesem Hotel mitten im Nirgendwo zu. Wieder klappen Türen, werden Gäste aus ihren Zimmern vertrieben und die Hochzeitssuite neu belegt. Die spannende Frage bleibt: Wer ist denn nun die heiß herbei gesehnte Person von der Presse? Diese Frage bleibt bis zum Ende dieses „lustigen Spiels“ offen.
Die unter der routinierten Regie von Robert Rumpf agierenden Mimen zeigen zwei Stunden lang eine temperamentvolle, mitreißende Spielfreude. Ein wunderbarer, sehr unterhaltsamer Theaterabend, der jedem Zuschauer  an diesen regnerischen Herbsttagen ein glückliches Lächeln aufs Gesicht zaubert.
Der Brite Derek Benfied (1926 bis 2009) gehört zu den speziell in den englischsprachigen Ländern meist gespielten Autoren. Er brillierte unter anderem mit Komödien wie „Touch and Go“, „Don’t Lose the Place“ und „Anyone for Breakfast“ – drei Stücke, die auch auf dem Spielplan des English Theatre standen.

„Funny Business“ läuft bis einschließlich 1. Februar 2020.
Tickets unter der Telefonnummer 040-227 70 89 oder online unter www.englishtheatre.de
Nächste Premiere: „Apologia“,  ein Stück von Alexi Kaye Campbell, am 13. Februar 2020

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weihnachtsmärkte: Bodensee oder Wartburg?

Den traditionellen Lübecker Weihnachtsmarkt kennen Sie bereits? Auf dem berühmten Nürnberger Christkindlesmarkt waren Sie ebenfalls? Überhaupt haben Sie in den letzten Jahren so einige Märkte  während der Adventszeit kennengelernt. Wie wäre es in diesem Jahr mal mit festlicher Stimmung am Bodernsee oder einem historischen Weihnachtsmarkt auf der Wartburg?

Über 70 Märkte und zahlreiche Adventsschiffe erwarten Sie in der Region rund um den Bodensee. Mit den Schiffen können Gäste  gleich mehrere Märkte an einem Tag besuchen. Viel zu sehen und zu erleben gibt es unter anderem in Konstanz, St. Gallen, auf der Insel Mainau und bei der Lindauer Hafenweihnacht (siehe Foto).

Mittelalterlich hingegen geht es an drei Adventswochenenden auf der Wartburg in Eisenach zu. Dort können Besuche fast vergessene Handwerkskünste von Kerzenziehern, Glasbläsern und fahrenden Händlern bestaunen.

Mittelalterlicher Weihnachtsmarkt auf der Wartburg. Foto: Wartburg Stiftung

Selbstverständlich fehlen auf dem weihnachtlichen Mittelaltermarkt in den historischen Burgmauern und Höfen auch die Musikanten, Gaukler und Puppenspieler nicht.
Weitere Infos: www.thüringen-entdecken.de

Fotos: Wolfgang Schneider, Bodensee-Tourismus und Wartburg Stiftung

Medical Beauty: Botox kann nicht nur Falten, sondern auch schlechte Stimmung (be)heben

psychiatrist with patient
Foto: Götz Egloff

Die Behandlung der Glabellafalte mit Botulinumtoxin, einer der häufigsten ästhetisch-dermatologischen Eingriffe, kann auch chronische Stimmungsschwankungen bessern.

Es ist eine kleine Sensation, die in der Praxis durchaus bekannt ist, und die eine Baseler Forschergruppe im Journal of Psychiatric Research veröffentlichte: der enge Zusammenhang zwischen Seele und Körper ist durchaus empirisch nachweisbar.

Eine ausgeprägte Zornesfalte kann einen negativen Ausdruck signalisieren, der unabhängig von der tatsächlichen Stimmungslage ist. Die Botoxtherapie kann solch einen ungewollten Ausdruck auf der Stirn elegant korrigieren. Die Erfahrung zeigt, dass nicht nur Freunde oder Kolleginnen die Veränderung bemerken, sondern man auch selbst den neuen Ausdruck als Überraschung empfindet. Neben der kosmetischen Wirkung ist dann eine stimmungsaufhellende Wirkung zu beobachten, die von der Forschung als durchaus signifikant beschrieben wird. Die sogenannte Facial-Feedback-Hypothese, die bereits von Charles Darwin im Jahr 1872 begründet wurde und die den Zusammenhang von Gesichtsmuskeln und Gefühlswahrnehmung beschreibt, wird hier eindrucksvoll bestätigt. Die Kontraktion mancher Gesichtsmuskeln verstärkt also manche Emotionen, sowie eine Überaktivität anderer Muskeln mit depressivem Empfinden in Verbindung steht.

Die sogenannte Denervationsbehandlung der Glabellafalte mit Botox wäre damit als begleitendes Psychotherapeutikum wirksam, da experimentell insbesondere bei dieser Behandlung der Effekt nachweisbar ist. So führte die Botoxbehandlung der Zornesfalte bei etwa zwei Drittel der Probandinnen zu Stimmungsverbesserungen, bei einem Drittel gar zu einem Verschwinden jeglicher depressiver Symptomatik. Bei der Kontrollgruppe, die mit Placebo behandelt wurde, waren diese Effekte nicht festzustellen. Ein erstaunliches Ergebnis. Und: Nebenwirkungen sind extrem selten (vgl. Kerscher & Streker 2010), bei fachgerechter Anwendung ist regelmäßig mit guten Ergebnissen zu rechnen. So wie Hyaluronsäure als Radikalfänger fungiert und Lifestyle Auswirkung auf die Seele hat (vgl. Egloff, Bender, Römer 2018), haben Dermatologie und Endokrinologie große Relevanz für das psychosomatische Empfinden, das damit auch auf verschiedenen Wegen beeinflussbar ist.

 

Literaturhinweis:

Wollmer et al. Facing depression with botulinum toxin. J Psychiatric Research 2012; 46(5):574-581.
Martina Kerscher, Meike Streker. Botulinumtoxin A: Tipps und Tricks für die dermatologische Praxis. Ästhetische Dermatologie 2010; 3(2):33-43.
H.H. Rüttinger, H. Trommer. Hyaluronsäure als Radikalfänger. In: Wohlrab, Neubert, Wohlrab (Hg.). Hyaluronsäure und Haut. Aachen 2004; 266-286.
Egloff, I. Bender, J. Römer. Conception and lifestyle. J Androl Gynaecol 2018; 6(1):1-8.

 

 

„The Woman in Black“– The New Play at the English Theatre of Hamburg

Let’s go on rehearsing, Mr. Kipps

Just imagine Merry Old England during Queen Victoria’s reign. A thick yellow-green fog, also called pea-soup, wafting over London, Jack the Ripper slashing young women in Whitehall and Oscar Wilde, the once pampered enfant terrible of Britain’s upper crust, being sent to prison because of his homosexuality, a deadly sin at that time. A fantastic period for writers who like tales about ghosts and “the living dead” inhabiting old castles and run down manors in remote regions.

Susan Hill’s book “The Woman in Black” can be called a genuine Victorian novel. It is a Gothic thriller at its best, set in an empty Victorian theatre in London during the late 19th century. It was constructed as a play within a play and involves two gentlemen, a young nameless actor and a middle-aged solicitor named Arthur Kipps. Both are acting on a nearly bare stage. What at first sight seems to be a rehearsal of a sinister play turns out to be kind of a confession by Kipps who experienced a shocking family drama some thirty years ago. In writing down his memories, he tries to get rid of a nightmare involving a mysterious Woman in Black with a pale wasted face who has been haunting him ever since.

How shocking these letters are

As the play evolves, we go back to Arthur Kipps’ former existence as a young solicitor who is called to a remote place in England in order to settle the affairs of his recently deceased client Mrs. Alice Drablow. While staying in a small village he experiences a disturbing encounter with a spectre which has a major impact on his life. Deeply shocked by this eerie apparition, he asks the villagers about that Woman in Black. But all turn away from him and deny in a hostile manner the mere existence of such a woman. Meanwhile mysterious accidents happen to small children wherever a woman totally clad in black turns up. A terrible accident occurs to Kipps’ beloved wife Stella and their young son Joseph while riding on a pony and trap. The child is hurled from the trap against a tree and dies on the spot while Stella succumbs to her injuries a couple of months later. Eventually the Woman in Black has also taken revenge on his family. What is the reason for her hatred? Arthur is in deep grief and wants to find out the motives that drive the black apparition to kill innocent children and make their parents suffer. While in Mrs. Drablow’s dark uncanny old house, he reads all the papers on her desk and finally comes across a packet of letters that were written sixty years ago. The correspondence between Mrs. Drablow and Jennet Humfrye, a young unmarried woman, opens his eyes and makes him shiver with fear. When Jennet got pregnant, her family sent her away to Scotland. Right after she had given birth to a boy, the baby was taken away from her and given free for adoption. Mrs. Drablow, Jennet’s elder sister, adopted the boy and let Jennet see him from time to time. When she tried to run away with her boy, he died in an accident on the marsh. Jennet never got over his death and planned revenge on the heartless puritanical society that – as she saw it in her grief – was responsible for his death at such a young age. Shortly after her child passed away, she died herself of an incurable disease and turned into the Woman in Black, the embodiment of Nemesis, the Greek Goddess of Revenge. From that very moment on she began haunting the countryside, and anybody who caught sight of her lost a child either in an accident or after an illness. The curse of an evil fairy came true.

The last scene brings us back to London. The rehearsals are over and Arthur Kipps thanks the young actor for helping him to make a play of his story about the Woman in Black. Mr. Kipps is taken aback when the young man asks him who the lady was who played the Woman in Black during their rehearsals. “But you and I were the only ones in the theatre”, he replies. The actor is bewildered. Whom, by God, did he see all the time on the stage – the real Woman in Black?

We shall soon see Mrs. Drablow’s house

Dear spectator, if you want to understand every detail of this complex plot, you have to concentrate on every word spoken. Be very attentive when “jumping” from London to the haunted house in the far-away village and back to the theatre. And don’t forget, only two actors are on the stage, changing from one role into the next. While Angus Villiers-Stuart “only” has to play the Actor and the young Arthur Kipps, Séamus Newham as the middle-aged solicitor has to cope with at least three other parts. He changes coats, hats and accents at a breath-taking speed. Many thanks to both of you as well as to director Paul Glaser for a grand performance and an unforgettable evening. Standing ovation for two outstanding actors and the whole staff involved in the realisation of the play. It would be unfair not to mention the Woman in Black – so to speak the main character of the play – who was present all the time without pronouncing a single word. Thank you too, Barbara Goodman, for making the blood running cold in our veins by your totally mute presence.

It was indeed daring to make a play of Susan Hill’s Victorian thriller, the more so as the Hollywood movie starring Daniel Radcliffe proved to be an overwhelming success. Forget about the film when you are sitting in The English Theatre since the adaption of the novel by British playwright Stephen Mallatratt is absolutely brilliant. As a matter of fact, the technical means of a theatre are quite limited compared to the state of the art technology used by the film industry. In “The Woman in Black” the TET is working with uncanny noises – sobbing and wailing of an infant, screams of a distressed woman, thunder and lightning in front of the house and the clatter of hooves – thus achieving disturbing thrilling effects. The Woman in Black is a deeply unsettling and scary horror tale that sometimes comes near to Mary Shelley’s Frankenstein novel. Indeed, a spine chilling ghost story.

(Photos: Stefan Kock)

Final performance of “The Woman in Black” on November 2, 2019

Tickets under phone number 040 – 227 80 89 , online booking under www.englishtheatre.de

Next premiere: “Funny Business”, a farce by Derek Benfield, on November 14, 019

„The Woman in Black“ – das neue Stück im English Theatre of Hamburg

Lassen Sie uns mit den Proben fortfahren, Mr. Kipps

Wer den Roman von Susan Hill über die mysteriöse Frau in Schwarz kennt oder gar den gleichnamigen Film mit Harry Potter-Darsteller Daniel Radcliffe in der Hauptrolle gesehen hat, wird sich fragen, ob man dieses etwas verworrene und verwirrende Gruseldrama überhaupt auf die Bretter eines Theaters bringen kann. Man kann. Regisseur Paul Glaser und sein großartiges Team haben es geschafft, dieses von Stephen Mallatratt für das Theater adaptierte Gothic ebenso düster wie spannend zu inszenieren, dass selbst den Hartgesottenen unter den Zuschauern zuweilen ein kalter Schauer über den Rücken läuft.

Bis auf ein paar Stühle, einen Tisch und einen großen Schrankkoffer ist die Bühne leer. Hinter einem durchsichtigen Vorhang erkennt man schemenhaft unter Schutzhussen verhüllte Möbel. In diesem Szenario agieren zwei Stunden lang zwei Schauspieler. Gelegentlich tritt eine zierliche, ganz in Schwarz gekleidete Frau aus dem Schatten und verschwindet ebenso schnell, wie sie gekommen ist.

„The Woman in Black“ – die Frau in Schwarz – ist ein Stück im Stück und spielt gegen Ende des 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit, die als viktorianische Epoche in die Annalen einging. Zwei Männer treffen sich in einem kleinen Theater – ein junger namenloser Mann, der hier nur als „Actor“ bezeichnet wird, und Arthur Kipps, ein Anwalt im besten Mannesalter, den ein traumatisches Ereignis aus seiner Jugend bis in den Schlaf verfolgt.

Mein Gott, der Inhalt der Briefe ist schockierend

Deshalb hat er seine Erinnerungen, in denen eine schwarz gekleidete Frau mit einem von Schmerz und Hass gezeichneten Gesicht die tragende Rolle spielt, zu Papier gebracht. Mit diesen Aufzeichnungen, die er den jungen Schauspieler in einem leeren viktorianischen Theater vorlesen lässt, hofft er, sich endlich von seinen Albträumen befreien zu können. Dieser Thriller, der sich im Fortgang der Handlung immer mehr zu einem Racheakt einer von der Gesellschaft stigmatisierten Frau entwickelt, verlangt dem Zuschauer höchste Konzentration und ein großes Maß an Fantasie ab. Denn die Handlung wechselt vom Theater in die reale Welt von vor etwa dreißig Jahren, als Mr. Arthur Kipps in ein englisches Dorf „am Ende der Welt“ reisen musste, um der Beerdigung seiner gerade verstorbenen Klientin Mrs. Alice Drablow beizuwohnen und gleichzeitig ihre testamentarischen Vorgaben zu erfüllen. Während der Trauerfeier erscheint wie aus dem Nichts die „Frau in Schwarz“, deren Existenz die Dorfbewohner angstvoll beschweigen. Kipps erfährt schließlich, dass es sich bei der mysteriösen Erscheinung um eine Frau handelt, deren kleiner Sohn einst unter ungeklärten Umständen ums Leben kam. Das in einer einsamen Gegend gelegene düstere Anwesen der Mrs. Drablow gewährt dem jungen Anwalt Einblicke in das Leben der Verblichenen. Alte vergilbte Briefe enthüllen ein schreckliches Familiengeheimnis, das Arthur das Blut in den Adern erstarren lässt. Der Horror erreicht seinen Höhepunkt, als die Frau in Schwarz erneut auftritt, begleitet von verstörenden Geräuschen. Jetzt wird klar, dass ihr Erscheinen jedem Unglück bringt, der in ihr Antlitz schaut. Die Namenlose ist Nemesis, die griechische Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit, deren Rachegelüsten keiner entgeht, der einmal ihren Weg gekreuzt hat. Auch Anwalt Kipps fällt ihrem Fluch zum Opfer. Seine geliebte junge Ehefrau und der gemeinsame Sohn Joseph ereilt ein schreckliches Schicksal, als beide durch einen von einem Ponygespann gezogenen Kastenwagen zu Tode kommen.

In der Nähe des Unfallortes wurde die Frau in Schwarz gesichtet. Im Laufe der Handlung erfährt der Zuschauer, dass die Frau in Schwarz eine gewisse Jennet Humfrye war, die als junge Frau ein uneheliches Kind zur Welt brachte, von ihrer Familie darauf nach Schottland verbannt und gezwungen, wurde, ihren Sohn zur Adoption freizugeben. Alles Zutaten für einen Rachefeldzug gegen Kinder im Alter ihres Sohnes, die sie nach ihrem Tode als herumirrender Geist gnadenlos für die engstirnige puritanische viktorianische Gesellschaft bestrafte.

Wir werden Mrs. Drablows Haus in Kürze sehen

„The Woman in Black“ ist ein Kabinettstück des Grusels und der Gänsehaut, meisterhaft in Szene gesetzt von Regisseur Paul Glaser und gespielt von zwei großartigen Schauspielern, deren überragende Leistungen vom Publikum mit stehenden Ovationen gefeiert wurden. Scheinbar mühelos schlüpften die beiden Protagonisten von einer Rolle in die andere. Während Angus Villiers-Stuart  n u r  den Schauspieler und den jungen Anwalt Kipps verkörperte, wechselte Séamus Newham in einem nahezu atemberaubenden Tempo von einer Rolle in die andere. Hatte er gerade noch den alten Arthur Kipps gegeben, mutierte er im nächsten Augenblick zum Kellner, Kutscher oder Pfarrer. Hervorzuheben ist auch die pantomimische Begabung der beiden Darsteller. Hinreißend die Darbietung des jungen Kipps, wie er seine unsichtbare Hündin Spider hingebungsvoll streichelt und aus dem Sumpf befreit. Die Geräuschkulisse – Pferdegetrappel, Kindergeschrei aus dem Off und schrille, verstörende Musik erhöhen die Spannung und tragen erheblich zum Bühnenerfolg des Stückes bei.

PS: Wir wollen der eigentlichen Hauptperson des Stückes – der Frau in Schwarz – keinen Tort antun. Wenn auch stumm, so ist sie stets präsent und verkörpert das Böse auf eine erschreckend realistische Weise.

Susan Hill, die Autorin des viktorianischen Thrillers „The Woman in Black“ zeichnet noch für weitere spannende Literatur – u.a. „The Betrayal of Trust“ und „Shadows in the Street“, alles Krimis, die bereits für das britische Fernsehen adaptiert wurden. Bislang erwies sich „The Woman in Black“ als ihr erfolgreichstes Werk, Die Bühnenadaption läuft schon seit 1989 in London. Die Krönung war die Hollywood-Verfilmung des Stoffs mit Daniel Radcliffe in der Hauptrolle.

(Fotos: Stefan Kock)

„The Woman in Black“ läuft bis einschließlich 2. November 2019

Tickets unter der Telefonnummer 040-227 70 89 oder online unter www.englishtheatre.de

Nächste Premiere: „Funny Business“, eine Farce von Derek Benfield, am 14. November 2019

 

800 Jahre Deutscher Orden in Bad Mergentheim

 

Luftbild des ehemaligen Residenzschlosses des Deutschen Ordens in Bad Mergentheim
Foto: Deutschordensmuseum/Jens Hackmann, kopfgeist-arts.de

„Der Gang durchs Taubertal ist ein Gang durch die deutsche Geschichte, durch das alte Reich“, schrieb 1865 der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich von Riehl. Die nunmehr achthundertjährige Geschichte des Deutschen Ordens in Bad Mergentheim bestätigt diese Aussage bis auf den heutigen Tag.

In diesem Jahr platzt das im Tal der Tauber gelegene, knapp 24.000 Seelen-Städtchen Bad Mergentheim aus allen Nähten. Die Feierlichkeiten zu „800 Jahre Deutscher Orden in Bad Mergentheim“ locken Besucher von nah und fern an. Zu den beliebtesten Veranstaltungen gehören der historische Wachaufzug nebst Rekrutenwerbung der in elegante blau-weiße Uniformen gekleideten Deutsch-Orden Companie, deren Mitglieder gegen Ende ihres Auftritts Salutschüsse aus Vorderladergewehren abfeuern. Ein großer Teil der Mergentheimer Bevölkerung ist in die Festivitäten eingebunden, zu denen in diesem Jahr verschiedene Symposien und zahlreiche Vorträge über die historische Entwicklung des Ordens sowie eine Sonderausstellung unter dem Titel „Deutscher Orden im Südwesten“ (14. Juli 2019 bis 26. Januar 2020) im Deutschordensmuseum gehören.

Die meisten Bürger der Stadt sind mit der Geschichte des „Ordens der Brüder vom Deutschen Haus St. Mariens in Jerusalem“ vertraut, und auch Schulkinder geben ihr Wissen gern an die Besucher weiter. Die Verbindung des Ordens zu Mergentheim entstand 1219 durch Mitglieder des Adelsgeschlechts derer von Hohenlohe, die dem Orden große Teile ihrer Besitztümer übereigneten. Unter ihrer Ägide entstand in der Region eine Vielzahl bedeutender Bauwerke, unter denen das prächtige Renaissanceschloss einen besonderen Rang einnimmt.

Von 1217 bis 1219 führten die Kreuzritter in Damiette einen erbitterten Kampf gegen die muslimischen Ayyubiden mit dem Ziel der Rückeroberung Jerusalems. Diese Schlacht, in der der Deutsche Orden verletzte Kreuzfahrer und Pilger in seinen Spitälern behandelte, wurde zur Initialzündung für großzügige Schenkungen adliger Kreise an den Orden. An erster Stelle standen die bereits erwähnten „Edelfreien“ Brüder Hohenlohe. Am 16. Dezember Anno 1219 gelangte der Orden durch einen Erbvergleich in den Besitz von bedeutenden Ländereien in der Umgebung Mergentheims. Dazu zählten zwei Burgen, Zoll, Gericht und Zehnt, Fischerei-, Weiderechte und Waldflächen. „Nudi nudum Christum sequi cupientes“ heißt es in der Übereignungsurkunde. Was soviel bedeutet, dass die Kreuzritter dem nackten Christus aus tiefer innerer Überzeugung nackt und demütig folgen wollten.

Andreas von Hohenlohe trat als erster dem Orden bei, unterzeichnete aber mit seinen Brüdern Gottfried und Konrad einen Teilungs- und Abfindungsvertrag. Weitere Familienmitglieder entschlossen sich zu großzügigen Schenkungen an den Deutschen Orden. Wenig später traten auch die Brüder Heinrich und Friedrich bei. Heinrich brachte es sogar zum Hochmeister. Diese ermöglichten auch den Bau von Schloss Mergentheim, das nach der Reformation und den Bauernkriegen über einen Zeitraum von nahezu dreihundert Jahren zur Residenz der Hoch- und Deutschmeister wurde.

Blick durch die Spindel der Berwarttreppe von 1574. Foto: Deutschordensmuseum/Holger Schmitt

Bevor der Besucher in die wechselvolle Geschichte des Ordens eintaucht, sollte er einen Blick auf eine der „Perlen“ des Schlosses werfen. Der „Schneck“ ist eine freistehende Wendeltreppe, die sich, begleitet von zierlichen gedrehten Säulchen, bis unter das Dach hinauf windet.

Die Historie des Ordens und seine hierarchische Ordnung werden auf großen Schautafeln erklärt. Ohne ihre Hilfe geriete mancher auch ins Schleudern, denn die geschichtlichen Zusammenhänge sind reichlich verzwickt. Der Deutsche Ritterorden, Deutschorden, entwickelte sich 1198 aus einer Hospitalgemeinschaft, die norddeutsche Kaufleute aus Bremen und Lübeck auf dem dritten Kreuzzug im Jahre 1190 während der Belagerung von Akkon gründeten. Die Ordensritter waren erkennbar an ihren weißen Mänteln, auf denen ein großes schwarzes Kreuz prangte. Oberhaupt des Ordens war der auf Lebenszeit gewählte Hochmeister, dem fünf „Großgebietige“ als Berater zur Seite standen. Auf großflächigen Gemälden sind streng blickende, Ehrfurcht einflößende Hochmeister dargestellt. In den Licht durchfluteten Sälen des Schlossmuseums wird die Entwicklung des Deutschen Ordens anhand von Kartenmaterial, Gebrauchsgegenständen, Grafiken und Gemälden anschaulich demonstriert.

Modell der Deutschordensburg Rehden. Foto: Foto Besserer, Lauda-Königshofen

Die fürstlichen Gemächer des Schlosses sind mit erlesenem Dekor und kostbarem Mobiliar ausgestattet. Aus seinem goldenen Rahmen blickt Kurfürst Clemens August als Hochmeister des Deutschen Ordens um das Jahr 1745 huldvoll auf die Besucher herab. Die ausschweifende Lebensfreude hatte auch vor den einst so rigiden Regeln des Ordens nicht halt gemacht. Der Kapitelsaal, ein eleganter Mix aus Spätbarock und Klassizismus, prunkt mit Stuckdecken und Kristalllüstern, die wie Diamanten in der Sonne funkeln. Auch die Schlosskirche, deren sonnenhelle Fassade an die Theatinerkirche in München erinnert, ist eine eingehende Besichtigung wert. Hinreißend das Deckengemälde von Johann Nikolaus Stuber, das die Verherrlichung des Kreuzes im Himmel und auf Erden darstellt!

Die Prachtentfaltung des 18. Jahrhunderts fand ihr jähes Ende, als Napoléon Bonaparte 1809 den Orden verbot. Doch der Deutsche Orden hatte in seiner über sechshundert Jahre währenden Geschichte so kräftige Wurzeln geschlagen, dass er sich gleich nach der Niederlage des Imperators neu konstituierte und bis zum heutigen Tage fort besteht. Eine stolze Tradition, die es verdient, weiter gepflegt zu werden.

www.deutschordensmuseum.de

Dieser Artikel erschien am 16. August 2019
in der Preußischen Allgemeinen Zeitung

Auf den Hund kommen?

Joachim Frank mit Birka. – Foto: Tanja Plock, Pinneberger Tageblatt

Die Frage, mit welchem Geschenk man seine langjährige Ehefrau noch überraschen könnte, soll das Leben des Autors Joachim Frank komplett auf den Kopf stellen. Eigentlich hat er es ja gar nicht mit Hunden. Hunde sind überhaupt nicht sein Ding. Und dass er eines Tages nicht nur einen Hund haben, sondern auch über ihn schreiben würde, das hätte er wohl selbst nicht gedacht. Für alle, die jetzt denken: „Nicht noch’n Hundebuch…!“ – das hier ist anders, denn es beschreibt die Wandlung eines Hundehassers zu jemandem, der dem Charme des kleinen Fellknäuels erliegt. Der Autor ist nicht für Gefühlsduseleien bekannt, und so ist auch sein neuestes Buch auf zurückhaltende Weise berührend. Es gibt informative Einblicke in ein Leben mit Hund, denn Joachim Frank thematisiert Unsicherheiten genauso wie erfreuliche Momente, Probleme in der Hundeerziehung, aber auch Kosten für den Tierarzt und dergleichen, sodass dieses Buch auch als Entscheidungshilfe für oder gegen einen Hund dienen kann. Alles das mit einer gekonnten Mischung aus Humor und Sachlichkeit kurzweilig erzählt.

Hier ein Auszug, den wir mit freundlicher Genehmigung des Verlags FRED&OTTO – Der Hundeverlag, Berlin, veröffentlichen:

Auszug Kapitel 1-3:

Der Tag beginnt

Ob Birka noch schläft?
Ich blinzele aus meinem Bett zu unserer Cockerspaniel-Hündin hinüber, die eingerollt in ihrem Körbchen liegt. Schon Zeit zum Aufstehen?

Im Sommer sind die Nächte kurz in Schweden, und erste Sonnenstrahlen dringen bereits früh am Morgen in unser Schlafzimmer. Wie spät ist es? Wenn ich jetzt zum Wecker lange, ist es mit der Nachtruhe vorbei. Dann weiß Birka nämlich, dass ich wach bin, kommt sofort an mein Bett und stupst mich an. „Hey“, scheint sie mir zu sagen, „ich bin auch schon wach, das Wetter ist herrlich, komm raus aus deiner Kiste, von mir aus können wir gleich loslegen!“

Ich bin kein Langschläfer und liebe die frühen Stunden des Tages. Also schaue ich doch auf die Uhr. Ist es allerdings vor sieben, dann sage ich: „Birka, es ist noch zu früh“. Diesen Satz kennt sie und trottet folgsam in ihr Körbchen zurück. Spätestens zwanzig Minuten später steht sie jedoch erneut vor meinem Bett, um mich zum Aufstehen zu bewegen. Sanft berührt ihr Näschen meinen Ellenbogen, und wenn ich in ihre braunen Augen schaue, kann ich gar nicht anders, als meinen Arm auszustrecken und sie zu streicheln.

Birka ist nicht sehr schmusig, aber am Morgen fordert sie ihre Streicheleinheiten regelrecht von mir ein. Meine Hand gleitet über ihr schwarz-weißes Köpfchen, hinter und unter ihre Ohren, die sich wie flauschige Waschlappen anfühlen. Darunter gibt es zwei ganz besonders empfindsame Stellen, kleine Vertiefungen am Ansatz ihrer wuscheligen Ohren, und wenn meine Finger sie dort sanft massieren, schmiegt Birka ihr Köpfchen fest an meine Handfläche, um durch den Gegendruck ihren Genuss zu erhöhen. Voller Dankbarkeit leckt sie gleichzeitig mit ihrer etwas rauen, fast trockenen Zunge über meinen Unterarm. Ein Moment inniger Verbundenheit ist das zwischen uns.

Höre ich mit den Streicheleinheiten auf, weil mein ausgestreckter Arm müde wird, stupst Birka mich erneut an, damit ich weiter mache. Oder sie dreht mir ihre Rückansicht zu, sodass ich oberhalb ihres Schwanzansatzes mit dem Kraulen fortfahre. Sie hockt sich hin, rückt aber nach und nach immer ein wenig weiter von mir weg. Nie habe ich begriffen, warum. Ich recke mich und strecke mich also bis an die Grenze meiner Reichweite. Ist das ihr „Trick“, mich aus dem Bett zu lotsen und zum Aufstehen zu bewegen? Wird die Entfernung zwischen uns zu groß, beende ich die Liebkosungen und lasse mich zurück in die Kissen fallen, vielleicht kann ich ja doch noch ein halbes Stündchen rausschinden und ein wenig im Bett dösen. Doch Birka gibt nicht auf! Erneut kommt sie ganz nah heran, stupst mich an und fordert weitere Streicheleinheiten.

Immer, wenn wir unseren Sommerurlaub in Schweden verbringen, wiederholt sich dieses morgendliche Ritual so oder so ähnlich, bis Birka unruhig wird und aus dem Schlafzimmer galoppiert. Ich kapituliere und stehe auf. Und genau das ist ihr eigentliches Ziel ‒ und das Signal! Voller Begeisterung rennt unsere Hündin in Richtung Haustür, denn sie weiß, dass gleich unsere ausführliche Morgenrunde durch den Wald beginnen wird. Das Wetter ist schön, die Natur lockt, und wir beide freuen uns auf den gemeinsamen Spaziergang über Stock und Stein, Hügel rauf und Hügel runter, durch hohes Gras, über weite Wiesen und dichten Wald. Für Birka hält jeder junge Morgen tausend und einen verlockenden Geruch bereit, und ich genieße es, mit ihr zusammen zu sein, meinen Gedanken nachzuhängen, die frische Luft zu atmen und mich aufs Frühstück zu freuen, das meine Frau Elke in der Zwischenzeit für Mensch und Hund vorbereiten wird. Kann ein Tag schöner beginnen?

Ich gestehe, dass ein derartiger Tagesbeginn vor unserer Zeit mit Birka so ziemlich das Letzte gewesen wäre, was ich mir gewünscht hätte. Schon der Gedanke, mit einem Hund in einem Zimmer schlafen zu müssen, hätte mich in Angst und Schrecken versetzt. Kein Auge hätte ich zugetan! Die Vorstellung, dass ein Hund Teil meines Lebens werden könnte, lag mir so fern wie der Mond. Mit Hunden hatte ich nämlich bis dahin rein gar nichts am Hut, und daraus machte ich keinen Hehl. Im Gegenteil! Wie es zu diesem erstaunlichen, von mir selbst für unmöglich gehaltenen Wandel vom Hunde-Hasser zum Hunde-Vater kam, das ist die Geschichte, die ich erzählen möchte.

Was schenke ich bloß?

Ich saß an meinem Schreibtisch und grübelte. Wie ein Papier gewordenes Fragezeichen lag die Glückwunschkarte vor mir auf dem Schreibtisch, denn der Geburtstag meiner Frau stand vor der Tür. Doch bevor ich das Hauptgeschenk nicht hatte, war es unmöglich, die passenden Formulierungen zu finden. Und genau da lag der Hase im Pfeffer, weil mir gerade das noch fehlte!

Wenn man jahrzehntelang verheiratet ist, fällt es nicht leicht, zu jedem Geburtstag des lieben Partners eine Überraschung aus dem Hut zu zaubern. Männern soll das bekanntlich noch schwerer fallen als Frauen, und ich bin da keine Ausnahme.

Also goss ich mir noch ein Glas Rotwein ein und ging in meinem Arbeitszimmer auf und ab. Zwar hatte ich bereits ein paar kleinere Geschenke gekauft, jedoch war nichts wirklich Tolles darunter. Meine Nervosität wuchs, denn die Zeit drängte.

Ratlos tigerte ich hin und her, dachte über Karten für Konzerte oder Theater nach, über Gutscheine von Parfümerien, Einladungen in Restaurants und so weiter. Wie langweilig! Das übliche Buch und eine CD hatte ich zum Glück schon. Aber ein Knüller fehlte, eine richtige Überraschung, etwas, worüber Elke sich wirklich freuen würde. Bloß was?

Vor dem Fenster blieb ich stehen und schaute auf die Straße. Es dämmerte bereits, das fahle Licht der gegenüberliegenden Straßenlaterne fiel auf den nassglänzenden Asphalt und Wind trieb herabgefallene Blätter vor sich her. Herbststimmung. Wenn mir doch bloß dieses verdammte Geschenk einfallen würde! Verzweifelt nahm ich noch einen Schluck Rotwein, der aber leider auch nicht die zündende Idee bewirkte. Nervös trommelte ich mit den Fingern auf die Fensterbank. Ganz hinten bog jemand um die Ecke und kam die Straße entlang. Ein Spaziergänger, na ja, nichts Ungewöhnliches. Ich erkannte eine Frau, die einen Hund an der Leine führte. „Hoffentlich schei … der nicht vor unser Haus“, ärgerte ich mich schon im Voraus, denn das konnte ich nun gar nicht leiden. Überhaupt Hunde! Absolut nichts für mich. Im Gegenteil!

Gerade wollte ich mich vom Fenster abwenden, als jener Gedanke durch meinen Kopf zuckte, der unser Leben vollständig verändern sollte.

Der Entschluss

Plötzlich erinnerte ich mich an den lange gehegten Herzenswunsch meiner Frau, der allerdings unerfüllbar zu sein schien. Nicht weil dessen Verwirklichung zu teuer oder aus anderen Gründen utopisch gewesen wäre. Nein, ich war das Hindernis, das im Weg stand!

Schon oft hatte Elke mir von ihrer Kindheitsliebe erzählt, nämlich von Birka, einer schwarz-weißen Cockerspaniel-Hündin, mit der sie aufgewachsen war. Seitdem waren Jahrzehnte vergangen, in denen sie nie einen Hund besessen hatte, weil ich mich strikt weigerte, diese Möglichkeit überhaupt nur in Betracht zu ziehen.

Zurück an meinem Schreibtisch, starrte ich auf die noch immer unbeschriebene Glückwunschkarte, die wie eine stumme Mahnung vor mir lag. Ich goss mir Rotwein nach, kaute an meinem Stift. Ein Hund? Sollte ich ihr einen Hund schenken? Tausend Gedanken und Fragen schossen durch meinen Kopf. Ich wägte ab, stellte mir vor, verwarf wieder. Andererseits: Was wäre das für eine Überraschung! Dazu müsste ich allerdings meine Abneigung und vor allem meine Angst vor Hunden überwinden. Wollte ich das? Konnte ich das überhaupt? Zwei Seelen kämpften in meiner Brust. Gerade stellte ich mir noch Elkes Freude vor, dann stiegen schon wieder Erinnerungen und Bilder von ärgerlichen, peinlichen und von Furcht geprägten Erlebnissen in mir auf. Wie anders hatte Elke immer reagiert, wenn wir irgendwo Hunden begegnet waren! Wie liebevoll hatte sie beinahe jeden x-beliebigen Köter – so meine übliche Bezeichnung für diese „Kreaturen“ – mit vor Zuneigung glänzenden Augen gestreichelt, während ich am liebsten einen weiten Bogen um jeden Hund gemacht hätte.

Es gärte, brodelte, tobte in mir. Konnte ich? Wollte ich? Wie wäre wohl das Leben mit einem solchen Hausgenossen? Was würde sich ändern? Konnte ich meine Angst durch einen kleinen eigenen Hund, den wir selber erzogen, überwinden?

Vielleicht war es voreilig, unbedacht und einer momentanen Laune geschuldet, vielleicht half der Rotwein, vielleicht war es die Vorstellung von Elkes Freude, dass ich mir endlich einen Ruck gab. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“, sagte ich mir, „schließlich werden wir beide nicht jünger, und wenn wir uns auf das Abenteuer eines Hundes einlassen wollen, muss das jetzt geschehen.“ Aber ein kleines Hintertürchen wollte ich mir allerdings offen halten …

Beherzt griff ich zum Stift und fügte der üblichen Gratulation und den besten Wünschen für das kommende Lebensjahr hinzu: „Ich freue mich sehr, dass Du Dein Leben so überaus aktiv und fröhlich gestaltest und genießt. Prima! Aber fehlt da nicht etwas? Ist da nicht noch ein ganz lang gehegter Wunsch zu erfüllen? Drehst Du die Karte um, weißt Du, was ich meine. Und schließlich kommen wir in ein Alter, da sollte man die erfüllbaren Wünsche auch verwirklichen. Um es kurz zu machen: Ich schenke Dir einen Hund Deiner Wahl – wenn Du ihn denn willst.“

Ich goss den Rest der Rotweinflasche in mein Glas, lehnte mich zurück und dachte: „Worauf lässt du dich damit bloß ein? Aber vielleicht hast du ja auch Glück, und sie will gar keinen Hund mehr haben.“

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Ob der Autor aus dieser Nummer wieder rauskommt? Eher nicht …

Als Lektüre empfohlen:

Buchcover

Joachim Frank: Wie ich lernte, einen Hund zu lieben
FRED&OTTO – Der Hundeverlag, Berlin 2019
Zur Website des Verlags

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Zur Website des Autors Joachim Frank

„Wenn du Schmerzen hast, gehe langsam“ – Maren Schönfeld las aus ihrem neuesten Buch

Maren Schönfeld, Sabine Witt
Foto: Wolfgang Schönfeld

Nicht umsonst beginnt das neueste Buch von Maren Schönfeld, der preisgekrönten Lyrikerin, mit einem Gedicht: „Du hast mir den Rücken gebeugt, mir im Nacken gesessen, meine Träume aufgezehrt, mir die Zeit gestohlen…“ Schon die ersten Zeilen von „Strategie des Schmerzes“ treffen den Leser mitten ins Herz. Da schreibt eine Autorin, die es von frühester Kindheit an lernen musste, mit teilweise unerträglichen Schmerzen zu leben. Da, wie Maren Schönfeld bereits im Vorwort anmerkt, Krankheit in unserer Gesellschaft als Störfaktor wahrgenommen wird, stellt der Umgang mit einem chronischen Leiden, gegen das bis heute kein wirksames Medikament entwickelt wurde, eine fast übermenschliche Herausforderung für die Betroffenen dar. Aber das Buch der Autorin mit dem etwas sperrigen Titel „Wenn du Schmerzen hast, gehe langsam“, soll all jenen Mut machen, die sich bereits in ihr Schicksal ergeben haben und resigniert meinen, man müsse das Leiden halt so hinnehmen. Dass dies nicht so ist, beweist dieses schmale Werk auf jeder seiner 148 Seiten.

Odyssee durch Arztpraxen

Die in Kapitel 1 geschilderte gesundheitliche Geschichte der Autorin beschreibt ihre schier unendliche Odyssee durch die Praxen von Orthopäden, Physiotherapeuten, Allgemeinmedizinern und Schmerztherapeuten. Verblüfft sind alle über die enorme Beweglichkeit ihrer Patientin, die zudem noch regelmäßig Yoga treibt. Doch gerade diese „Hypermobilität“, die einer der Ärzte schließlich diagnostiziert, ist Maren Schönfelds Problem. Hier liegt der Schlüssel, der der Patientin ihr Krankheitsbild in einem anderen Licht zeigt und sie nach Rücksprache mit Fachleuten darin bestätigt, dass ihre Strategien, mit den Schmerzen zu leben, die einzig richtigen sind.

Akribisch blättert Maren Schönfeld ihr Leben vor uns auf, beginnend mit ihrer Geburt im Jahre 1970. Nachdem die Großmutter feststellt, dass ihr neun Monate altes Enkelkind zwei verschieden lange Beine hat und verschiedene Ärzte sich dieses Problems annehmen, beginnt eine unendliche Leidenszeit für das kleine Mädchen. Nur ein paar Stichworte: Die diagnostizierte Hüftdysplasie und linksseitige Hüftluxation erfordern nicht nur ständiges Röntgen, sondern auch Spreizhosen und Eingipsung bis zur Taille. Schlimmer geht’s nimmer. Oder etwa doch? Der aufmerksame Leser wird auf den folgenden Seiten eines Besseren belehrt und wundert sich darüber, was ein Mensch – zumal ein so junger – alles aushalten kann.

Foto: Wolfgang Schönfeld

Maren Schönfeld protokolliert in den folgenden Kapiteln, wie sie trotz aller Widerstände und Schmerzen ihr Leben gemeistert hat. Es muss nicht betont werden, dass sie es in der Schule, wo Sport immer eine übergeordnete Rolle spielte, nicht leicht hatte. Da Maren langsam ist, wird sie nolens volens von den Mitschülern als Letzte in eine Mannschaft aufgenommen und mit Hand- und Medizinbällen attackiert, wenn sie im Tor steht. Aber Schwamm drüber, denn die Autorin hat einen wachen Verstand und kompensiert all diese Widrigkeiten mit ihrem Interesse an Literatur. Während andere laufen, springen und turnen, verschlingt sie Bücher von Erich Kästner, Christine Nöstlinger, Astrid Lindgren, Otfried Preußler und anderen Autoren. Ein gutes Beispiel dürfte Astrid Lindgren, die geistige Mutter von Pipi Langstrumpf, gewesen sein, die bekanntlich mit dem Schreiben ihrer weltweit berühmten Werke begann, als eine längere Krankheit sie ans Bett fesselte.

Zwischengedichte

Und da sind wir bereits bei einem weiteren Aspekt von „Wenn du Schmerzen hast, gehe langsam“ – Maren Schönfelds wunderbaren Gedichten, die sie zwischen die Kapitel über ihre Krankheitsgeschichte eingestreut hat. Nicht immer leichte Kost, wie das folgende Gedicht „An der Angsthand“ beweist:
Gehen
kleine Schritte
die Angsthand hält
das klopfende Herz
keine Angst sagt die Angst
ich bin ja da lasse dich nicht
(S. 100)

Vom Alltag mit chronischen Schmerzen

In Kapitel 7 schildert Maren Schönfeld ihren Alltag mit „benennbarem“ und „unbenennbarem“ Schmerz. Sie weist darauf hin, dass alles Benennbare von anderen akzeptiert und mit Ratschlägen bedacht wird, während der Leidende mit dem nicht benennbaren Schmerz ganz allein ist und keine Hilfe von außen erwarten kann: „Du gehst durch tiefste Täler und stehst irgendwann wieder oben, und nebenbei lebst du dein Leben, spielst deine Rollen, und vielleicht ist das für andere Menschen das Hauptleben“, schreibt sie. Noch tiefere Einblicke in das zum Teil grausame Erleben der Betroffenen gewährt Maren Schönfelds Gedicht „Schmerz pur“ auf Seite 105.

Das vorletzte Kapitel dieses aufrüttelnden Buches beinhaltet alphabetisch geordnete „Praktische Stärkungen von A bis Z“, beginnend bei Arbeit, über Bewegung, Disziplin und Experimentieren bis W wie Wärme. Zu Z ist ihr nichts eingefallen, dafür aber zu gerade für die Damenwelt wichtigen Themen wie Kleidung, Kosmetik, Kultur und Schuhe. Letzteres dürfte jedoch ein Problem darstellen für jene Frauen, die gern auf sogenannten high heels herumstöckeln, auch wenn die Füße schmerzen. Maren Schönfelds Credo lautet: “Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass wir nur Schuhe tragen, in denen wir so gut wie möglich gehen können.“ Gut gebrüllt, Löwin. Aber sei’s drum.

Zu guter Letzt noch ein paar wertvolle Tipps von A bis Z im Hinblick auf mentale Stärkungen: Von Annehmen und Achtsam sein bis Zutrauen. Dem letzten Punkt, der sich eingehend mit dem Fortschritt der Medizin und besseren Behandlungs- und Heilungsmethoden als im Jahr des Heils 1970 befasst, sollte besondere Beachtung geschenkt werden. Denn hier keimt Hoffnung für alle Betroffenen auf.

Wer sich durch Maren Schönfelds Buch „durchgeackert“ hat, ist um viele Erkenntnisse reicher. Es dient auch als Anleitung für uns “Gesunde“, die nur hin und wieder eine Schmerztablette nehmen, sich in die Welt jener hinein zu versetzen, die tagtäglich mit zum Teil unerträglichen Schmerzen leben müssen. Es ist daher jedem zu empfehlen – ob Schmerzpatient oder nicht. Ein wenig Demut hat noch keinem geschadet. Dieses Buch ist nicht nur wegen seines klaren verständlichen Stils lesenswert, sondern beeindruckt besonders dadurch, dass die Autorin trotz ihres Leidensdrucks an keiner Stelle in Larmoyanz verfällt.

Die Lesung fand am 12. Juli in den Bethanien-Höfen der Evangelisch-Methodistischen Gemeinde in Hamburg-Eppendorf auf Einladung der Hamburger Autorenvereinigung statt. Sabine Witt, die Vorsitzende der HAV, leitete die Veranstaltung gewohnt souverän.

Buchcover
(c) Verlag Expeditionen

„Wenn du Schmerzen hast, gehe langsam“ ist im Verlag Expeditionen erschienen, hat 148 Seiten und kostet € 6,90 als Taschenbuch und als E-Book € 3,99.
ISBN: 978-3-947911-07-3

70 Jahre Grundgesetz – Jubiläum eines Fragments der Direkten Demokratie

Direkte Demokratie durch Digitalisierung, vorgestellt
in der Landesvertretung Baden-Württemberg in Berlin Ende Juni 2019
Foto: Immo H. Wernicke

Auf zahlreichen Veranstaltungen haben der Bundespräsident Frank W. Steinmeier und die Bundeskanzlerin Angela Merkel für das vor 70 Jahren im Mai 1949 in Kraft getretene Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als dem Garanten für die Grundrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geworben. Historiker verweisen auf frühere deutsche Verfassungen, die bereits die wichtigsten Grundrechte enthielten. Kritiker, wie seinerzeit Bayerns Regierung oder heute der ehemalige Verfassungsrichter, Paul Kirchhof, bemängeln das Demokratiedefizit des Grundgesetzes gegenüber den Landesverfassungen und der Schweizer Verfassung. Die Digitalisierung könnte den Bürgern auch in Europa mehr politische Mitwirkung ermöglichen.

Werbung für das Grundgesetz durch Bundeskanzlerin und Bundespräsident

In ihrer Rede zum Festakt der Deutschlandstiftung Integration am 14. Mai 2019 in Berlin stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel heraus: „70 Jahre Grundgesetz – das ist in der Tat ein Anlass zu feiern“, und es ist  „immer wieder gelungen, die Werte und Rechte unserer Verfassung mit Leben zu erfüllen.“ Der Bundespräsident geht am 22. Mai 2019 in seiner Rede vor dem Bundesverfassungsgericht auf die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes ein: „Der Parlamentarische Rat gliederte Westdeutschland wieder ein in die liberale Verfassungstradition der Aufklärung. Und er konnte (…) an deutsche Traditionen anknüpfen, an die Verfassung der Frankfurter Paulskirche und die Weimarer Reichsverfassung“, die vor 100 Jahren in Kraft getreten war. 

Alliierte der westlichen Besatzungszonen als Geburtshelfer des Grundgesetzes

Wenig enthalten die Politikerreden über die Rolle der Alliierten als damaliger „Übergangsregierung“ bei der Entstehung des Grundgesetzes. Staatsrechtler Heinrich A. Wolff  erläutert, dass die Militärgouverneure der drei Westzonen im Frankfurter Dokument  von 1948 die Länderregierungen zur Schaffung einer Verfassung unter besonderer Berücksichtigung der Grundrechte aufgefordert hatten. Historiker erinnern daran, dass zuvor im Juni 1945 die damaligen Alliierten und ihre Verbündeten die Grundrechte in Artikel 1 (3) der Charta der neugegründeten „United Nations“ von 1945 vereinbart und in der „Declaration of Human Rights of the United Nations“ von  1948 aufgelistet hatten.

Rückschau auf die Grundrechte in älteren „Deutschen Verfassungen“  

In seiner Rede hatte der Bundespräsident auch an die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte erinnert. Herrmann-Josef  Blankes bestätigt in seinem Band „Deutsche Verfassungen“, dass bereits die Verfassung des Deutschen Reichs v. 1849 (Paulskirchenverfassung) „Die Grundrechte des deutschen Volkes“ enthielt. § 138 legte fest „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“, und § 140 bestimmte „Die Wohnung ist unverletzlich“, § 143 sicherte die „Preßfreiheit“, und § 164 garantierte „Das Eigentum ist unverletzlich“.  Ähnlich legte die Verfassung des Deutschen Reichs von 1919, die „Weimarer Verfassung“ die „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ fest.

Wie die Alliierten 1945, übergehen Bundespolitiker gerne die Landesverfassungen und deren Grundrechtegarantie. Bereits die 200 Jahre alte Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg von 1819 sicherte „jedem Bürger Freiheit der Person, Gewissens- und Denkfreiheit und Freiheit des Eigentums und Auswanderungsfreiheit“. In der Verfassung des Königreichs Bayern v. 1818 wurde dem Volk von Bayern „Freyheit der Meinungen“  und „Gleichheit der Gesetze und vor dem Gesetze“ zugesichert: „Der Staat gewährt jedem Einwohner Sicherheit seiner Person, seines Eigentums und seiner Rechte“ garantiert.

Strafrechtshistoriker erinnern daran, dass die Grundrechte, auch auf „guten Leumund“, seit Jahrhunderten durch die Strafjustiz in den Einzelstaaten einschließlich der Reichsstädte (Frankfurt) und der Freien Städte (Hamburg) im „Heiligen Römischen Reich“ geschützt waren. Verfassungshistoriker Gerhard Oestrich verweist auf die früheren Reichsgerichte, die die persönliche Freiheit, das Eigentum und die Religionsfreiheit vor Übergriffen der Fürsten schützen sollten.

Legitimations- und Demokratiedefizite des Grundgesetzes?

Bundeskanzlerin und Bundespräsident übergehen in ihren Festtagsreden die Legitimations- und Demokratiedefizite des Grundgesetzes. Staatsrechtler Christoph Gröpl erläutert, dass das Grundgesetz „nicht durch eine Volksabstimmung angenommen worden war“. Der Staatsrechtler bestreitet aber ein Legitimationsdefizit des Grundgesetzes, da die Wähler seit 1949 die Parteien gewählt haben, die sich “eindeutig zur grundgesetzlichen Verfassungsordnung bekannten.“

Das Demokratiedefizit besteht nach Ansicht des ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Paul Kirchhof, insofern, als den Bürgern nur wenige konkrete Mitwirkungsmöglichkeiten an politischen Entscheidungen und an der Rechtsetzung gewährt werden. Das Grundgesetz unterscheidet sich darin sowohl von den Landesverfassungen als auch von der „Weimarer Verfassung“ von 1919. Diese gewährte Mitwirkungsrechte bei der Reichsgesetzgebung bei Verfassungsänderungen durch Volksentscheide und Volksbegehren. Die an die Schweizer Verfassung angelehnten Landesverfassungen nach 1945 garantieren ebenfalls Volksentscheide, so das Land Hessen: „Das Volk handelt nach den Bestimmungen dieser Verfassung unmittelbar durch Volksabstimmung (Volkswahl, Volksbegehren und Volksentscheid), mittelbar durch die Beschlüsse der verfassungsmäßig bestellten Organe.“ Anders als das Grundgesetz wurden die Landesverfassungen durch Volksabstimmungen legitimiert. Die Schweiz ist als politisches Vorbild der Direkten Demokratie für Europa jedoch umstritten.

Grundgesetz und Lissabon-Vertrag Fragmente der Direkten Demokratie
Schweizer Botschaft ohne Absperrungen in Berlin:
Vorbild für mehr Direkte Demokratie in Europa
Foto: Immo H. Wernicke

Verfassungsrichter Paul Kirchhof würdigte in seiner 2013 gehaltenen Rede zur 60-Jahrfeier der baden-württembergischen Verfassung die politischen  Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger durch Volksentscheid, Volksbegehren und Volksinitiative. Die Direkte Demokratie ermöglicht dem „Bürger, sich mehr mit seinem Staat zu identifizieren, weil er an ihm selbst mitwirkt“, so Paul Kirchof. Er bemängelt dagegen, dass im Grundgesetz die Befugnis der Bürger zur unmittelbaren Sachentscheidung und zur Rechtsetzung fehlt, denn dies ist Parlament, Bundesregierung und Bundesrat vorbehalten. Volksentscheide sind lediglich bei Gebietsveränderungen der Bundesländer vorgesehen.

Das Reichstagsgebäude gewidmet „Dem Deutschen Volke“,
abgesperrter Sitz seiner Repräsentanten
Foto: Immo H. Wernicke

Das Grundgesetz sieht folglich weder Volksbefragungen noch Volksabstimmungen vor, auch nicht bei so einschneidenden Eingriffen in die Gesellschaftsstrukturen von Ländern und Gemeinden durch Erweiterung von Bundeskompetenzen, Steuer- und Abgabenbelastung, Verteilung von Asylbewerbern und Migranten und durch Abtretung von Souveränitätsrechten an die Europäische Union.

Auf europäischer Ebene sind mehr politische Rechte für die Bürger Fehlanzeige. So konstatiert Paul Kirchhof, dass sich die „Europäische Union im Lissabonvertrag vor direkter Demokratie scheut“. In seinem  2008 erschienen Bestseller kritisiert der ehemalige Verfassungsrichter die „Normenflut die den Rechtsstaat erdrückt“ und fordert von Politikern, Parteien  und Medien: „Gebt den Bürgern ihren Staat zurück“. Die Digitalisierung und das Internet könnten das Prinzip der Volkssouveränität des Grundgesetzes endlich „mit Leben erfüllen“.

In vino veritas – eine genussreiche Wein- und Kulturreise durch das Taubertal

Der Kaffelstein auf der Gemarkung Kreuzwertheim schräg gegenüber der Wertheimer Burg und ist eine der letzten klassischen Steillagen der Region. Heute bewirtschaftet das Weingut Alte Grafschaft den Weinberg in Handarbeit.

Lieblich ist das Tal der Tauber – ein Garten Eden in deutschen Landen. Wie Perlen auf einer Schnur reiht sich entlang der Tauber ein schöner Ort, ein romantisches Städtchen an das nächste. Da ist die Fechterhochburg Tauberbischofsheim, eine fränkische Stadt wie aus dem Bilderbuch, die Deutschordensstadt Bad Mergentheim sowie das Dörfchen Stuppach mit der berühmten Madonna von Matthias Grünewald. Um nur einige der kulturellen Höhepunkte zu benennen. In zierlichen Schleifen windet sich die Tauber durch Wiesen, Äcker und Weindörfer. Blühende Weinberge, soweit das Auge reicht.

Marketingleiter Michael Spies von der Winzergenossenschaft Beckstein freut sich auf ein Gläschen Silvaner.

In Beckstein, dem ersten Halt auf unserer Reise, werden wir mit einem fröhlichen „Grüß Gott“ zur ersten Weinprobe eingeladen. Was darf’s denn sein – ein trockener Silvaner, ein erdiger Kerner oder lieber ein im Glas rubinrot funkelnder Tauberschwarz? Im Mikroklima dieses gesegneten Landstrichs gedeihen die unterschiedlichsten Rebsorten. Das Weingut Benz bietet mit seinem „Vinasticum“ innerhalb der Becksteiner Weinwelt ein Erlebnis der besonderen Art. Während einer etwa einstündigen Kellerführung inklusive Degustation werden mittels verschiedener Lichteffekte und Farbspiele alle fünf Sinne des Genießers angesprochen. Ganz nebenbei erfährt er viel Wissenswertes über Bodenbeschaffenheit, Klima und naturgegebene Einflüsse, die den Weinanbau begünstigen. Die französische Sprache deckt all diese Faktoren kurz und elegant mit dem Wort „terroir“ ab. Und weiter geht es nach Kembach, Dertingen und Kreuzwertheim. Hier werden wir mit weiteren Kostproben edler Tropfen verwöhnt und erfahren in einem Kurzlehrgang allerlei Wissenswertes über Beschaffenheit der lokalen Böden und den Rebschnitt.

„Ein Gang durchs Taubertal ist ein Gang durch die deutsche Geschichte, ein Gang durch das alte Reich mit ziemlich leichter Barschaft des Geldbeutels“, schrieb 1865 der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich von Riehl. An der Faszination, der er seinerzeit erlag, hat sich kaum etwas geändert. Auch heutige Urlauber schätzen im Taubertal die Verbindung aus Naturerlebnis, Burgenromantik und rustikaler Gastlichkeit.

Und weiter geht’s nach Creglingen. Die gotische Herrgottskirche birgt einen Marienaltar von Tilman Riemenschneider, der erst – völlig verstaubt – Mitte des 19. Jahrhunderts bei Aufräumarbeiten entdeckt wurde. Eine Sensation, ebenso wie das benachbarte Fingerhutmuseum, in welchem Exponate zu besichtigen sind, die – man höre und staune – ein Alter von bis zu 30.000 Jahren aufweisen. Auch Tauberrettersheim, ein verschlafenes 900-Seelendorf, wartet mit zwei Kostbarkeiten auf – der eleganten, vom berühmten Barockbaumeister Balthasar Neumann konstruierten Brücke und einem spritzigen Frankenwein, der seinesgleichen sucht.

Die Külsheimer Weinkönigin Laura Behringer.

Szenenwechsel. Die Tauber ergießt sich im Weikersheimer Grafenwinkel in ein weitläufiges Tal. Wir sind inzwischen von Bayern ins Bundesland Baden-Württemberg übergewechselt. Vor uns liegt das Renaissanceschloss der Grafen und Fürsten von Hohenlohe. Hinter der schlicht-eleganten Fassade verbirgt sich ein verspielter Barockgarten mit plätschernden Springbrunnen, Putten und üppigen Blumenrabatten. Innen lockt das Schloss mit zwei Raritäten – einem Rittersaal und dem Spiegelkabinett. Nach einer ausgiebigen Besichtigung des „hohenlohischen Versailles“ steigt die Gruppe vom nostalgischen Oldtimerbus auf E-Bikes um und radelt bei strahlendem Sonnenschein und angenehmem Fahrtwind auf gut ausgebauten Radwegen gemächlich in Richtung Bad Mergentheim. Nicht nur die Sole, die hier verschwenderisch aus dem Boden sprudelt, macht den Kurort so anziehend, sondern auch die Vielfalt der historischen Bauwerke. Während die um den Marktplatz gruppierten Bürgerhäuser in der Zeit um 1500 errichtet wurden, stammt die im Stil der Gotik erbaute Marienkirche bereits aus dem 14. Jahrhundert. Glanzlicht Mergentheims ist das Deutschordensschloss mit dem historischen Kapitelsaal und der Hochmeistergalerie, das von 1525 bis 1809 Hauptsitz des Ordens war. Nach einem Stadtrundgang lautet das Motto: Von der Kultur zur Kur. Die salzhaltige Sole Mergentheims reinigt Leber und Galle. eine Wohltat nach dem reichlichen Genuss von Riesling und Tauberschwarz. An Leib und Seele gestärkt folgt ein Abstecher nach Külsheim, wo die hübsche diesjährige Weinkönigin Laura ihre Gäste mitten im Weinberg mit einem Glas kühlen Müller-Thurgau empfängt und zur zünftigen Winzervesper einlädt. „Unsere wunderbaren Weine verdanken wir dem heimischen Muschelkalkboden und unserem milden Klima“ erklärt sie und prostet uns zu.

Die letzte Etappe führt uns nach Wertheim. Die rötlichen Sandsteinmauern der Burgruine auf felsigem Grund spiegeln sich in den dunklen Fluten der Tauber. Den sanften Fluss besang der Dichter Clemens von Brentano einst in weinseliger Stimmung mit den Worten: „Tauber heiß ich, Reben schwing ich, trunken in dem Taubergrund, und den Kindern Trauben bring ich um die Hälse golden bunt.“ Verse, die gut zu dieser fröhlichen Stadt passen mit ihrer Vielzahl gemütlicher Wirtshäuser und uriger Weinstuben. Am Abend trifft sich Alt und Jung am Engelsbrunnen. Die Namensgeber – zwei lichte Engel – halten das Wertheimer Wappen schützend über die Stadt.

Zu guter Letzt noch dies: Die Kelten, die einst in dieser Region siedelten, nannten den Fluss „Dubra“, zu Deutsch „die Schwarze.“ Daraus wurde später die Tauber. Der linke Nebenfluss des Mains entspringt in Franken und durchfließt den Taubergrund zwischen Rothenburg und Tauberbischofsheim. Er ist tief in die unterfränkische Muschenkalkplatte eingeschnitten und mündet im Wertheim. Die Mönche des Klosters Bronnbach unterwiesen die Bauern der Gegend einst in der Landwirtschaft und fanden heraus, dass der Muschelkalkboden sich vorzüglich für den Weinanbau eignete. Nicht zuletzt der Rebensaft ist es auch, der den Landstrich heute zum „Lieblichen Taubertal“ macht. Früher einmal war das gesamte Gebiet mit Weinbergen überzogen, während heute die Gesamtanbaufläche noch gut 1100 Hektar ausmacht. Für die Dezimierung der Anbaufläche war ursächlich die aus Amerika eingeschleppte Reblaus schuld. Aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte.

www.liebliches-taubertal.de

Fotos: Dieter Warnick

Schloss Fasanerie in Fulda – Gartenfest mit barockem Gepränge

Die-Südfassade-von-Schloss-Fasanerie_Fotograf-Andreas-von-Einsiedel

Unter den zahlreichen Barockschlössern Deutschlands nimmt Schloss Fasanerie in Fulda- Eichenzell einen besonderen Platz ein. „Ich bin vielleicht etwas voreingenommen“, gesteht eine Ortsansässige. „Aber mit der Fasanerie können nur wenige Herrensitze konkurrieren.“ Neben dem Schloss mit seinen vielen Kostbarkeiten erwähnt sie den fast 100 Hektar großen Park, der mit seinen Rabatten, Skulpturen und dem alten Baumbestand jeden Besucher in seinen Bann schlägt. Das „Fürstliche Gartenfest“ des Schlosses Fasanerie ist ein Ereignis, das jedes Jahr im Frühling Besucher von nah und fern anlockt.

Am 16. Mai ist es wieder soweit. Da öffnet das schönste Barockschloss Hessens seine Pforten und lädt zu einem Festival der Sinne inmitten duftender Blütenpracht ein. Im Rahmen einer Ausstellung zum Thema „English Gardening“ wird den Besuchern bis zum 19. Mai von zahlreichen nationalen und internationalen Ausstellern die traditionsreiche britische Gartenkunst näher gebracht.

in-Blick-in-die-außergewöhnliche-Porzellansammlung-von-Schloss-Fasanerie_Fotograf-Andreas-von-Einsiedel

Das elegante, im hellen Ockerton gehaltene Schloss mit dem leuchtend roten Dach diente den Fürstbischöfen von Fulda einst als Sommerresidenz. Ein Rundgang durch die prunkvoll ausgestatteten Säle und Räume demonstriert eindrucksvoll den erlesenen Geschmack und Kunstverstand der ehemaligen Besitzer. Die Porzellansammlung im Nordflügel des Schlosses entführt die Besucher in eine Zeit, als in aristokratischen Kreisen die Kunst des Tischdekors einen hohen Rang einnahm. Beim Anblick der mit erlesenem Geschirr und blank geputzten silbernen Kerzenleuchtern gedeckten Tafel entfährt einem Besucher die Bemerkung: „Das war noch Stil – ganz ohne Plastik und McDonalds!“

Die Antikensammlung umfasst ein wohl geordnetes Sammelsurium griechischer und etruskischer Vasen, Terrakotten und Bronzen sowie römische Porträtbüsten. Das kostbarste Stück – eine an die 2400 Jahre alte griechische Vase – kennen manche von uns noch aus Schulbüchern, in denen sie als Musterbeispiel antiker Kunst abgebildet war.

Ein-Blick-in-den-Gästeflügel-von-Hessens-schönstem-Barockschloss_Fotograf-Andreas-von-Einsiedel

Endlos lange, mit kostbarer flämischer Tapisserie, Porträts, zierlichem alten Mobiliar und filigranen Figurinen ausgestattete Flure führen in die repräsentativen Räume und Antichambres der ehemaligen Herren von Schloss Fasanerie. Beeindruckend ist der mit barockem Gestühl, wuchtigen Kommoden und einem tonnenschweren Kristalllüster ausgestattete rote Salon.

Nach diesem von einem eloquenten Museumsführer begleiteten Rundgang lockt der bezaubernde Chinesische Pavillon – auch Hochzeitspavillon – im Zentrum des weitläufigen Parks. Dieses Kleinod wurde inzwischen zu einer Außenstelle des Standesamtes Eichenzell umfunktioniert. In dem eleganten, mit vielen dekorativen Gegenständen bestückten Innenraum finden neben Hochzeiten regelmäßig Jubiläen und Familienfeiern statt. Auch das ehemalige Badehaus erfreut sich großer Beliebtheit und wartet jährlich mit viel besuchten Sonderausstellungen auf.

Die-Südfassade-von-Schloss-Fasanerie-mit-Sonnenterrasse-und-Café

„Keine Angst, du wirst dich bei uns nicht langweilen“, erklärt eine Schlossführerin einem kleinen Mädchen von etwa sieben Jahren. In der Tat, die Kinderführungen von Schloss Fasanerie sind berühmt. Da wird der Nachwuchs nicht mit drögen Erklärungen gequält, sondern erlebt das echte Schlossleben von Anno dazumal mit Prinzessinnen, Hofdamen und anderen Mitgliedern des Hofstaates, Selbst ein Schlossgespenst geistert durch die hohen Räume und sorgt für Stimmung unter den Kleinen. Dieser ereignisreiche Tag klingt im gemütlichen Café des Schlosses aus. Ein geeignetes Plätzchen zum Ausruhen ist die Südterrasse, wo der Schlossbesucher das Erlebte noch einmal Revue passieren lassen kann.

www.schloss-fasanerie.de

www.die-fasanerie.de

Dieser Artikel erschien in der Juni-Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts

Rezension zu Martin Altmeyer: Auf der Suche nach Resonanz –

wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2016

„Der totale Staat, mochte er sich nun als 1000-jähriges Reich oder elektrifizierte Sowjetmacht darstellen, beruhte auf der Emergenz jener gigantischen Beeinflussungsmaschinerie, die auch noch den abgelegensten Herrgottswinkel gleichzuschalten vermag. (…) Und so konnte sichtbar werden, was die politischen Differenzen und Unterschiede zuvor verschleierten: dass nämlich die entscheidende Botschaft nicht in dieser oder jener Lehre ruht, sondern dass sie in den Medien selbst verborgen liegt“ (Burckhardt 2008, S. 70).

Was Martin Burckhardt hier luzide zusammenfasst, beschreibt nichts weniger als die Ermöglichung des Aufstiegs von Totalitarismen. Und so sei diese Rezension auf jeden Fall eine Kauf-Empfehlung. Denn, wie der Autor Altmeyer weiß, ist die digitale eine mentale Revolution. Er hält Digitalisierung für eine Öffnung und nicht für eine Zersetzung. Vor diesem Hintergrund wird Christopher Bollas´ Argumentation vom IPV-Kongress 2015 immer nachvollziehbarer. In seiner Gegenrede hält Altmeyer letztendlich Bollas vor, es gäbe kein ´age of bewilderment´, keinen zunehmenden Horizontalismus mit Verlust von Denk- und Gefühlstiefe, keine Tendenz zu nur noch Beziehung statt Essenz, keine Homogenisierung mit Entwertung der Bedeutung von Differenz (in der alle gleich, und auch alles gleich wichtig wird), keine ´sightophilia´ mit exazerbierender Lust am Sehen und Gesehenwerden, keine Unlust auf Einsicht. Altmeyer tut alles, um Bollas´ Belege zu entkräften: keine jüngeren Patienten mit niedrigem Bildungsniveau, eingeschränkter Reflektionsfähigkeit, restringiertem Sprachcode, woraus, so Bollas, ein ´subjecticide´ folge. Bollas´ Aufforderung, den Mord am Subjekt – wenn schon nicht verhinderbar – doch durch die Psychoanalyse wenigstens kritisch zu begleiten, hält Altmeyer schon für Anmaßung. Stattdessen nimmt Altmeyer für seine Diagnostik in Anspruch, wohlwollend zu sein – was wenig Sinn macht. Wohlwollend ist man zum Menschen, oder zum Patienten, aber nicht zur Theorie oder zu den Phänomenen. Womöglich hat sich der Autor in seiner eigenen Vernetzungstheorie verfangen – das dezentrierte Ich erschiene in ganz neuem Licht.

Es fällt dennoch nicht ganz leicht, den vorliegenden Band seiner verdienten Kritik zu unterziehen – wie soeben sehr elegant in der ´Psyche´ erfolgt (Senarclens de Grancy 2019) –, denn die Stimme des Autors macht einen sympathischen Eindruck, zeugt von Neugier und Beobachtungsgabe, ist in vielen Gebieten bewandert und beweist immer wieder guten Geschmack. Und das ist nicht ironisch gemeint. Dass ein durchaus renommierter Wissenschaftler und Psychotherapeut dann, ähnlich wie es schon sein Kollege Martin Dornes – noch erheblich weitreichender, dafür mit weit weniger Charme – gemacht hat (vgl. Egloff 2017b), virtuelle Stumpfheit zu verteidigen antritt, ist geradezu symptomatisch. Ist es das Alter, das Anschluss an die Jungen halten will und den Nach-68ern, die die hochambivalenten Ergebnisse der Revolution nicht einzuordnen wissen, zu Munde redet? Oder ist es das Ergebnis einer Frankfurter Intellektuellen-Umgebung, die in jeder Mode die Revolution sieht, gewissermaßen der Stahlhelm-Flügel der CDU mit umgekehrten Vorzeichen? Was ist da eigentlich los, möchte man fragen.

Von mentaler Verfassung spricht Altmeyer, und auch von der postheroischen Persönlichkeit (dies scheint der Traum aller Kinder der 1950er zu sein, verständlich), obwohl er immerhin das Konzept nicht ganz teilt. Viele solcher Konzeptionen müssen höchst kritisch gesehen werden (vgl. Brüggen 2012), drohen diese jede tiefer gehende Erkenntnis in die seichten Gewässer der Postmoderne rutschen zu lassen. Eher sinnvoll sind hingegen Konzepte, die der Entfremdung, die der menschlichen ödipalen Entwicklung entgegenstehen kann (vgl. Swales 2007; 2012) und somit Pathologie befördert, genug Platz einräumen. Sonst würde postheroisch nichts anderes bedeuten als post-bescheiden, post-reflexiv, post-kompetent. Im Zeitalter von Post-Rechenschaft und Post-Leidenschaft wäre sie postmodern in all ihren pathologischen Facetten. Wiederum hätte dieses insofern unbemerkt Ähnlichkeit zu Konzepten von Alain Badiou, als dass man diesem vorhält, eine nicht-pathetische Politik zu fordern, also eine Politik der Wahrheit, nicht der Leidenschaft. Doch nicht nur die Frage, ob so etwas wie Wahrheit vor, mittels oder nach Leidenschaft kommt, bleibt Altmeyer schuldig.

Es wäre in der Tat gut, wenn Menschen nicht mehr so anfällig für Totalitarismus – oder Totalismus (Lifton 1993) – wären, aber ist dem wirklich so? Der medialen Digitalisierung eine demokratiefördernde Wirkung bescheinigend, ist Altmeyers Mantra nämlich: sozialer Widerhall um jeden Preis. Der virtuelle Kapitalismus als Resonanzkatalysator? Nichts gegen Resonanz – wir brauchen sie alle – aber es gibt eben auch Resonanzpathologie. Und gibt es jenseits von Surfern, Driftern und Depressiven (Rosa 2015) noch etwas anderes im virtuellen Raum? Die beziehungsorientierte Erklärung, nach der sich die depressive Störung als Form von Entfremdung im Sinne von Resonanzlosigkeit konstelliert – weil alles zur Disposition steht –, verweist nämlich deutlich auf Aspekte des medialen Zeitalters. Mit Leuzinger-Bohleber – doch das Konzept ist nicht neu – kann die depressive Störung als extreme Entschleunigung, als Verweigerung gegenüber den Lebensverhältnissen verstanden werden (Leuzinger-Bohleber 2015), sozusagen in der Dialektik von Aneignung und Widerstand (vgl. Egloff 2015; 2017b). Remanenz würde damit zur privaten Notwendigkeit, mit der beschleunigten Umwelt in überlebensdienlichem Modus umzugehen. Der Heidelberger Psychiater Hubertus Tellenbach (1914-1994), der das Konzept der Remanenz, des psychischen Zurückbleibens hinter wie auch immer gearteten Erwartungen, entwickelte, eröffnete nicht nur für die Psychopathologie eine neue Dimension; sie reicht hinein in die Postmoderne, in der Subjektivität und Identität deutlichen Gefährdungen unterliegen (Janus 2017). Es wäre also geradezu gesund, das Zurückbleiben, die Entschleunigung, zu vollziehen und zu fördern. Denn die von Altmeyer beschriebene Faszination, die von Medien ausgeht, ist nicht neu – neu ist aber das Ausmaß der medialen Flutung, die mittlerweile alle lebensweltlichen Sphären okkupiert. So ist Altmeyer mit seinen Überlegungen zur Geheimnissuche in den Medien durchaus auf der richtigen Spur, diese führt aber nicht etwa zu Identität oder Authentizität, sondern in ihr Gegenteil.

Altmeyers affektive Abenteuer im Bestehenden wirken seltsam schlicht neben Alain Badious Diagnose vom zeitgenössischen Subjekt, das „leer, gespalten, a-substanziell, irreflexiv“ (Badiou 2005, S. 553) ist. Man muss vielleicht nicht die ´famous last words´ eines Steve Jobs gegen die Shakespeares ins Feld führen, wie es Terry Eagleton (2013) tut, man kann es aber. Denn im Rahmen der neuen Medien überantworten sich immer mehr Menschen der ´smarten´ Diktatur der medialen Welt (Welzer 2016). Was gerne ´rationales´ Handeln genannt wird, wird regelhaft mit bedeutungsvollem Handeln verwechselt, das zudem der Interpretation bedarf (vgl. Eagleton 2011, S. 133). So versucht Altmeyer sich an einer Art ´rational-choice-theory´ der Medien – bizarr genug. Dass Zeichen und Referenten frei flottieren könnten oder dass die Ununterscheidbarkeit von Bild und Wirklichkeit Hyperrealität (Baudrillard 1982) erzeugt – mit der Postmoderne in der neoliberal formatierten Welt mag er sich nicht ernsthaft beschäftigen. So werden von ihm zwar jede Menge interessanter Autoren zitiert, deren Werke aber nicht wirklich genutzt, so Aldous Huxley, Peter Sloterdijk, Slavoj Žižek, Thomas Fuchs. Stattdessen diskutiert er deren Medienpräsenz, und wir erfahren, dass eine Frau zu Guttenberg aus der Familie Bismarck stammt.

Obwohl er sie auf dem Schirm hat, argumentiert Altmeyer, als ob es Huxley und Orwell nie gegeben hätte, die bereits 1932 und 1949 herausgearbeitet haben, dass gesellschaftlicher Konflikt vorzugsweise durch Konsumerismus oder Terrorismus vermieden wird. Das Prinzip Terror dient der Einebnung von Konflikt ebenso wie es das Prinzip Konsum tut (vgl. Assmann & Harth 1997). Aber man darf sich natürlich auch auf die Seite von Houellebecq schlagen – vorausgesetzt, man reflektiert Positionen vorher ernsthaft. Stattdessen ist ihm die Geistesaristokratie eines Sloterdijk ein Dorn im Auge. Im gleichzeitig ent- und über-sozialdemokratisierten Kapitalismus neoliberaler Prägung kann vielleicht nur noch Geistesaristokratie bewahrt werden. Letztlich kommt es nicht von ungefähr, wenn, wie Sloterdijk formuliert, Unterhaltungsmassen den Aufstandsmassen gegenüber stehen, was heute ganz konkrete Bedeutung gewinnt (vgl. Egloff 2017a). Vielleicht ist Altmeyer auch lange nicht mehr bei McDonald´s gewesen, wo nach ein, zwei Metern das erste, nach weiteren zwei das zweite Bestellterminal folgt; ideal für die ADHS-Generation, die nette ´Generation Y´, oder schon ´Z´? Mehr Anbiederung an den Zeitgeist als nützliche Verbesserung. Und was ist mit dem halbstündigen Ausharren in der Warteschleife der Telekom, in der durchaus zugewandte Call-Center-Agenten ganz postheroisch stets die ihnen zugedachte Aufgabe an den Kunden zu verschieben suchen? Da war die einstige Störungsstelle der Post zwar unfreundlich, aber effektiv.

Die Zukunft des Sozialismus und die Vergangenheit des Faschismus bildeten den Sinnhorizont in der alten DDR. Im Gegensatz dazu herrschte im postfaschistischen Westen pure kapitalistische Gegenwart, kein offizieller Erfahrungsraum oder Erwartungshorizont; daher konnten Bierchen und Krimi genügen (Welsch & Witzel 2016, S. 118), um alltagserhaltend, wenn auch nicht sinnstiftend zu wirken. Dies geht nun verloren, und prompt geht öffentliche Meinung ins Indifferente und Pseudo-Sinnhafte (vgl. Egloff 2018). Sozialabbau und ähnliches wird dann gern Modernisierung genannt. Die tendenzielle Aggressivität im Konsumkapitalismus wird damit befeuert, zumal Befriedigung nie gefunden werden kann (McGowan 2016; Zupančič 2017), deren Illusion aber aufrecht erhalten werden muss. Stattdessen werden Identitäts- und Authentizitäts-Thematiken aufgeworfen, die im Osten wenig ausgeprägt, im Westen immer latent waren.

Die postmoderne Entwicklung selbst ist mehrfach problematisch, denn die Totalität des Waren-Fetischismus, die Lukács bereits 1923 beschreibt (Lukács 2013), ist im virtuellen Konsumkapitalismus extremer Potenzierung ausgesetzt. Was bei Lukács noch schlicht als Charaktermaske imponiert, wird in der Hyperrealität beschleunigt, vervielfacht und nahezu unwiderlegbar. So wird bei sogenannten fair gehandelten Produkten rasch so getan, als ob das Produkt selbst ein progressiver Akt sein könnte – die glatte Verdinglichung des Produkts – anstatt zu bedenken, wie die Rente der Zuarbeiter aussieht. Selbst vernünftig angelegte Ansätze, die erst subversiv erscheinen, geraten damit – folgerichtig in der Kapitallogik – in die stachel-ziehende Vermarktungsmaschinerie (vgl. Nielsen 2009, S. 24). Doch die postheroischen sind eben allzu oft auch die willigen Vollstrecker einer ´consumer culture´, in der das Subjekt sich selbst zur Ware macht: „the commodities the postmodern subject desires are commodities that allow her to produce more commodities” (Cosey 2018, S. 8). Nicht nur, dass deren Wert zerstört wird, es geht weder um Resonanz noch um Befreiung, sondern um den bloßen Prozess des Konsums der Kommodifikation (Jameson 2001). Der totalitäre Aspekt im virtualisierten Warenkäfig des globalen Kapitalismus (Cosey 2018, S. 9) kann dem geschulten Blick  nicht entgehen. Teile dieser Problematik hat z.B. René Pollesch in seinen Inszenierungen sehr deutlich gemacht (Pollesch 2004). Es lässt sich schon auf wenigen Seiten mühelos darstellen, wie Subjektivität zu Produktivität wird (vgl. Graefe 2016, S. 43-45). Altmeyer hingegen will kulturelle Verfasstheit als lockere äußere Bedingungen verstehen, mit denen der Mensch mehr oder weniger ´en passant´ konfrontiert wird – ´mit Handy´ oder ´ohne Handy´ ist nach dieser binären Logik zumal das Kriterium. Dass sich die Verkehrsformen – einem frühen intrapsychisch-intersubjektiven Niederschlagsprozess folgend – im Subjekt materialisieren, bevor das Subjekt, das Kind, der Mensch mit der lebensweltlichen Kategorie ´mit Handy´ oder ´ohne Handy´ konfrontiert wird, fällt auch für ihn    anscheinend gerade nicht unter kulturelle Verfasstheit. Doch von wissenschaftlichem Vorverständnis (vgl. Klafki 2001) ist zumal nirgendwo ernsthaft die Rede; stattdessen scheinen die durch deren Vorannahmen sehr begrenzten Erkenntnisse der Säuglingsforschung durch, die hier wenig hilfreich für tieferes Verstehen sind. In der von Altmeyer beschriebenen virtuellen Gesellschaft – sie ist das Parallel der Dienstleistungsgesellschaft, in der der Arbeitnehmer entfremdet von der Entfremdung ist – fehlt die Reibungsfläche, die Konfrontation, jene Elemente, die das Subjekt konfrontieren, woraus erst Konflikt entsteht.

So flach wie die ´flache Ontologie´, die Altmeyer ausdrücklich anstrebt, so flach gestalten sich unter Umständen eben auch die Zeitdiagnosen. Das kann man zwar machen, man darf nur nicht gleichzeitig eine umfassende Diagnostik für sich in Anspruch nehmen. Wie Brian McHale feststellt, bewegen wir uns ohnehin weg von der Epistemologie hin zur Ontologie, einem gesellschaftlichen Umschwung weg von ´Wie kann ich die Welt verstehen und was bin ich in ihr?´ hin zu ´In welcher Welt von mehreren möglichen bin ich, was ist in ihr zu tun, und welche meiner Identitäten könnte die Aufgabe übernehmen?´ (McHale 1992). Der Trend geht also nicht etwa zum Weltverstehen,  sondern zum Wie-sich-in-Welten-verhalten. Hier liegen die Themen Identität und  Authentizität bereit, die gerade nicht medial zu lösen sind. Im Gegensatz zum Unterschied zwischen Körper (soma) und Zeichen (sema) unterläuft die Schrift des Medienzeitalters die klare Trennung zwischen Realem und Symbolischem (Burckhardt 2008, S. 80). Der sogenannte Fundamentalismus hängt eng mit medialen Techniken zusammen, mit Schrift einerseits und mit modernen audiovisuellen Techniken andererseits (von Braun 2018, S. 100). Die technisch-mediale Beschleunigung tut ihr Übriges, um sowohl Stabilität als auch Derealisation – die in der imaginären Sphäre bereitliegen, wie es einst Salvador Dalí feststellte – nebeneinander zu perpetuieren. Louis Althusser konzipierte das kindliche Spiegelstadium einst als Pforte für Formationen von Ideologie: solche Aspekte bleiben bei Altmeyer völlig ungenutzt. Doch diese sind die Hintergrundfolie, auf der die Normalität ihre Ungeheuer gebiert (Maiso 2016), und nicht etwa ein spaßverderberischer allgemeiner Kulturpessimismus.

In der jetzigen Verfasstheit könnte Demokratie selbst Teil des Problems sein (Blühdorn 2016), denn diese entspricht eher einer Aussetzung von Demokratie,  z.B. in den Finanzmärkten, der EU, dem IWF. Zumal, wenn Demokratie zum Synonym für virtualisierte Marktwirtschaft wird, in der ´Demokraten´ nur ´Demokraten´ mögen (vgl. Badiou 2012). Möglicherweise haben wir nicht zu viel Demokratie, sondern zu wenig davon (Eagleton 2011), nur dass man in Zeiten medialer Hysterie auch darauf nicht vertrauen kann. Eine unbedachte Zerstörung ziviler Öffentlichkeit mittels recht willkürlicher Regulierung politisch korrekten Anstrichs bei gleichzeitiger Deregulierung von Infrastruktur wird  begleitet von einer grotesken Deregulierung des Finanzwesens und der Großkonzerne. Das hat mittlerweile auch der letzte Abgeordnete gehört. Und nicht wenige mediale Inhalte vermitteln spießbürgerliche Werte politisch korrekten Anstrichs, die ihren psychischen Niederschlag finden werden; dies ist weniger als Normalisierung denn als Symptom zu deuten. Wer hätte schon vor zwei Jahrzehnten angenommen, dass wir zusehends in eine jakobinische Gesellschaft mutieren?

Will Altmeyer nun Fußtrupp oder Überbau der Latte-Macchiato-Bourgeoisie sein? Er meint in der digitalen Revolution eine Näherung sowohl im Guten als auch im Bösen zu erkennen. Aber: die Näherung im Guten ist imaginär-virtuell, die Näherung im Bösen kann sehr real werden. Die weiterhin analoge Wirklichkeit erfordert eher Gegensteuern, also analoge Revolution. Es wäre besser, Digitales als Sonderfall des Analogen zu betrachten, wie es Nielsen (2018) tut. Denn der Verlust von Relationalität, Sozialität, Regulation, Verstehen (Hermeneutik heißt Analogie-Bildungen), Empathie, den die sogenannten modernen Medien befördern, bedeutet Realitätsverlust (von Braun 2018, S. 109); zugespitzt könnte man sagen, dass das schizophrene Syndrom, das mit einem Verlust der Ich-Grenzen einhergeht, ein Stück Alltagswirklichkeit geworden ist. Bevor eine unwiderlegbare technoide Herrschaft entsteht (Nielsen 2018), müsste daher sehr klug gehandelt werden im Sinne von Remanenz statt Resonanz. Der regressive Medien-Sog steht dem eher entgegen.

Es hätte durchaus ein gutes Buch werden können, dafür wäre aber eine kritischere Haltung unabdingbar. Etwas zu denkfaul und selbstgefällig, wenn auch oft amüsant und gut beobachtend. Vor allem aber erstaunlich ignorant hinsichtlich der ´culture of distraction´ (Dervin 2016) und der Einebnung von Oberfläche und Bedeutung (Jameson 2001). Erstaunlich auch, dass die schwierigeren Arbeiten von Žižek nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen werden, sondern eher seine Zeitungsartikelchen, auf die dann schon mal mit einem eigenen Zeitungsartikelchen geantwortet wird. Dies wäre alles nicht so tragisch, wenn nicht die nordatlantische Psychoanalyse – die mittlerweile weitenteils mit der Säuglingsforschung fusioniert wurde – für alles und jedes herangezogen würde, auch für die sagenhafte Erkenntnis, dass der Mensch ein Beziehungswesen ist. Wer hätte das gedacht? Dabei bietet neben der französischen Psychoanalyse jene nordamerikanische ebenso das volle Theoriespektrum an; man muss nur danach suchen. Es ist schon mehr als seltsam anzusehen, dass sich ausgewiesene Psychodynamiker der akademischen Psychologie zuwenden just in jenem Moment, in dem die Freudsche Theoriebildung erneut Bedeutung ungeahnten Ausmaßes erlangt, so in der Neurobiologie (Eric Kandel, Gerhard Roth, Bernhard Haslinger, Bernhard Janta), über die Literatur- und Geisteswissenschaften (Terry Eagleton, Joseph Vogl, Johanna Bossinade, Laurence Rickels), bis hinein in die Gesellschaftstheorie (Samo Tomšič, Howard Rouse, Sonia Arribas). Die Frage, wie es um die Symbolisierungsfähigkeit bestellt ist, ist in Zeiten der volatilen Psyche, in der alle möglichen Erscheinungen medialer Hysterie erliegen, besonders geboten. Was heißt es, wenn Gustave LeBon schon  im Jahr 1895 schrieb: „Die Massen können nur in Bildern denken und lassen sich nur durch Bilder beeinflussen“ (LeBon 2011, S. 65)?

Wie anfangs nun auch zum Schluss noch eine Verdichtung, die die Dimension der Altmeyerschen Fragestellung verdeutlicht, auf die er Antworten freilich schuldig bleibt. So fragt die Sigmund-Freud-Buchhandlung bereits zum Erscheinen des Bandes in ihrer ´Novitätenschau Psychoanalyse  und Kulturwissenschaften´ vom April 2016 (1.4.16): „Weshalb und wofür derlei Schmonzes? (…) Die massenhafte Inanspruchnahme der kommunikationstechnologischen Optionen – andere sprechen von mit aller Werbemacht gepushten digitalen Abhängigkeitsverhältnissen, welche tiefer, subtiler und radikal in den Persönlichkeitsraum, in das Private, in das Selbst, einzudringen vermögen und das Subjekt dabei mit Kalkül in dem Glauben lassen, HerrIn des Verfahrens zu sein –, sind für Altmeyer offenbar kein Grund, seine Positionen einer kritischen Prüfung zu unterziehen und so zu bemerken, dass das Begehren hier in aller Regel nicht zum Begehrten führt – ganz im Gegenteil. Die als Zufriedenheit beobachteten Verhaltenszustände der im Cluster angefixten Electronic-Junkies dient euphorisierten Erbsenzählern nun tatsächlich als Beleg für die Sinnhaftig- und Unaufhaltbarkeit dieser Entwicklung. Das Beziehungsbegehren und die damit einhergehende Beziehungsarbeit wird im digitalen Raum synthetisiert, abgesahnt und also konterkariert – analytisch gesprochen gleich an der Wurzel kastriert. Seinen infantilen Adepten wird dafür als Surrogat die verführerische Möglichkeit der numerisch unbegrenzten Beziehungsanbahnung eröffnet, welche nach followers, Klickanzahlen und Beliebtheitsrankings rechnet. Wo in dieser Lebenszeit vernichtenden Dauer-Behandlung technischer Geräte selbstemanzipatorische Aspekte verborgen sind, wie unter diesen Verhältnissen permanenter Ablenkung und tastender und wischender Scheinaktivitäten dem Subjekt grundhafte Anreize zu erkenntnisgewinnendem (Nach-)Denken, zu Reflexion, Resümieren, Mentalisieren eröffnet werden, verrät uns der Autor nicht wirklich.“

 

 

Literaturhinweise:
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Vor 150 Jahren wurde die Luxemburgkrise gelöst –

Bild von Adam Derewecki auf Pixabay

der durch sie bewirkte Bruch zwischen Napoleon III. und Bismarck aber blieb: Vor 150 Jahren brachte die Luxemburgkrise Europa an den Rand eines Krieges. Sie zerrüttete das Verhältnis zwischen Frankreich und Preußen, die kein halbes Jahrzehnt später gegeneinander Krieg führen sollten, und bescherte Luxemburg eine „immerwährende Neutralität“.

Napoleon III., Kaiser der Franzosen, stützte seine Herrschaft wie sein noch berühmterer Onkel weniger auf das Gottesgnadentum als auf die Zustimmung der Nation. Dieser Zustimmung glaubte der Kaiser sich durch regelmäßige außenpolitische Erfolge vergewissern zu müssen. Das führte zu einer aktiven, offensiven, aggressiven, expansiven, interventionistischen und imperialistischen Außenpolitik. Wenn Napoleon III. auch wie sein Oheim ein Kind der Revolution war, so strebte er doch in klassisch französischer Manier an den Rhein, getreu dem französischen Anspruch, dass es sich bei ihm nicht um „Deutschlands Fluss“, sondern wie die Pyrenäen um Frankreichs „natürliche Grenze“ handele. Folglich hatte Napoleon bereits vor dem Deutschen Krieg von 1866 am 12. Juni jenes Jahres mit Österreich einen Geheimvertrag geschlossen, der für den Fall einer Neuordnung Deutschlands nach dem erwarteten österreichischen Sieg im absehbar bevorstehenden Krieg gegen Preußen die Umwandlung der preußischen Rheinlande in einen de jure „unabhängigen“ französischen Satellitenstaat vorsah.

Nun kam es zwar tatsächlich zu dem erwarteten preußisch-österreichischen Krieg, aber wider Erwarten gewann ihn nicht Österreich, sondern Preußen, und es war deshalb primär Preußen, mit dem Frankreich nun die deutsche Nachkriegsordnung zu verhandeln hatte. Naheliegenderweise konnte Frankreich schwerlich vom siegreichen Preußen die Abtretung seiner Rheinlande verlangen. Doch auch die zu den Verlierern des Deutschen Krieges gehörenden vormaligen Verbündeten Österreichs Bayern und Hessen-Darmstadt besaßen linksrheinisches Gebiet. Hieran äußerte Frankreich gegenüber Preußen in schriftlicher Form Interesse. Doch Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck war nicht bereit, der preußisch-französischen Freundschaft linksrheinisches Deutschland zu opfern. Statt der schriftlichen französischen Interessensbekundung nachzukommen, setzte er die Süddeutschen darüber in Kenntnis, die schockiert Schutz vor dem französischen Imperialismus in den von Preußen ihnen angebotenen Schutz- und Trutzbündnissen suchten.

Um der Verständigung mit Frankreich willen stellte Bismarck sich dem französischen Drang an den Rhein jedoch nicht grundsätzlich entgegen. Vielmehr versuchte er, diesen auf Gebiet abzulenken, das er zum französischen Kulturkreis zählte. Die Franzosen waren damit grundsätzlich einverstanden.

Der Erwerb belgischen Territoriums war für Frankreich nicht so einfach. Großbritannien legte nämlich großen Wert darauf, dass die der Themsemündung gegenüberliegende Küste des europäischen Kontinents nicht in die Hände einer seefahrenden Großmacht fiel, die mit ihrer Flotte die Themsemündung hätte kontrollieren und schlimmstenfalls blockieren können. Deshalb hatte das Vereinigte Königreich nach der Belgischen Revolution von 1830 gleich in zwei Londoner Konferenzen die Neutralität und Unabhängigkeit Belgiens durch die europäischen Großmächte garantieren lassen.

Luxemburg war hingegen unproblematischer. Es handelte sich um einen Binnenstaat, bei dem weder die Neutralität noch die Unabhängigkeit international garantiert war. „Einmal in Luxemburg, sind wir auf der Straße nach Brüssel“, frohlockte Vincent Graf Benedetti, Frankreichs Botschafter in Berlin. Der luxemburgische Großherzog Wilhelm III., in Personalunion König der Niederlande, befand sich in Geldnot und war bereit, sein Großherzogtum an die Franzosen zu verkaufen. Die niederländische Regierung stand der in Aussicht genommenen Beendigung der niederländisch-luxemburgischen Personalunion ebenfalls positiv gegenüber, stand ihr doch die Verwicklung Dänemarks in den Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 durch die Personalunion des Königreiches mit den Elbherzogtümern mahnend vor Augen.

Auch Bismarck war mit einem französischen Luxemburg einverstanden, denn für ihn war das Großherzogtum hinsichtlich „Nationalität und Sprache“ eher französisch als deutsch. Dem Politiker war jedoch durchaus bewusst, dass die deutsche Nationalbewegung das anders sah, und er forderte deshalb die französische Seite auf, diskret mit Wilhelm III. handelseinig zu werden und dann die Öffentlichkeit und scheinbar auch ihn vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Franzosen folgten Bismarcks Rat.

Wenige Tage, nachdem die Verhandlungen Napoleons III. mit Wilhelm III. begonnen hatten, am 19. März 1867, veröffentlichte der „Preußische Staatsanzeiger“ die preußischen Schutz- und Trotzbündnisse mit den süddeutschen Staaten. Bismarcks Motive waren innerdeutsche, doch Wilhelm III. missverstand diese Veröffentlichung als außenpolitische Drohgebärde. Der Deutsche Bund, dessen Bundesfestung Luxemburg gewesen war, war zwar bereits 1866 im Deutschen Krieg untergegangen, aber aus jener Zeit standen immer noch preußische Truppen in der Festung, und Wilhelm scheute es, den großen Nachbarn im Osten mit einem Fait accompli zu konfrontieren. Entgegen dem französischen Rat setzte er am 26. März 1867 auf offiziellem diplomatischen Wege den preußischen König über die Verhandlungen in Kenntnis und versicherte diesem, dass er in der Angelegenheit nichts ohne dessen Kenntnis und Einverständnis unternehmen werde.

Damit war genau das eingetreten, was Bismarck hatte verhindern wollen: Preußen musste Farbe bekennen zu einem Zeitpunkt, als von seiner Stellungnahme das Gelingen des Projekts abhing. Bismarck befand sich in der Zwickmühle, entweder mit Napoleon III. oder der deutschen Nationalbewegung zu brechen. Bismarck war die Nationalbewegung wichtiger. Am 3. April 1867 beantwortete er die Mitteilung Wilhelms III. telegrafisch mit dem dringenden Rat, von einem Verkauf abzusehen, da „der Krieg nach der Aufregung der öffentlichen Meinung kaum zu verhüten sein würde, wenn die Sache vor sich ginge“. Wilhelm III. befolgte den Rat.

Napoleon III. empfand Bismarcks offizielles Nein nach dem vorherigen inoffiziellen Ja als Verrat. Das Vertrauen zwischen den beiden war nachhaltig gestört. Ein Sprung Preußens über den Main und eine kleindeutsche Lösung der deutschen Frage unter preußischer Führung ohne französischen Widerstand war damit ausgeschlossen.

Damals, im Frühjahr 1867, kam es jedoch noch nicht zum Krieg. Vom Scheitern der französischen Intervention in Mexiko mussten sich das Kaiserreich und seine Armee erst einmal erholen. Zudem sollte die am 1. April eröffnete prestigeträchtige Pariser Weltausstellung, in der die Grande Nation die Welt zu Gast hatte, nicht durch einen Krieg mit dem Nachbarn überschattet werden. Und Bismarck wollte den Norddeutschen Bund sowie die Schutz- und Trutzbündnisse mit den süddeutschen Staaten nicht schon gleich zu Beginn einer derartigen Belastungsprobe aussetzen. In einer derartigen Situation bietet sich eine internationale Konferenz an. Nach der Belgischen Revolution hatten die Großmächte in London eine Lösung für die Zukunft des Landes gefunden; da lag es nahe, bei Luxemburg analog zu verfahren. Die Anregung kam vom Gastgeberland Großbritannien, die Ehre einzuladen, wurde Wilhelm III. gewährt, ging es doch um sein Großherzogtum.

Vom 7. bis 11. Mai tagte die Londoner Konferenz bezüglich Luxemburg. Wieder waren alle europäischen Großmächte dabei. Diesmal gehörte aber neben den klassischen fünf Großmächten der Pentarchie auch der sechs Jahre zuvor gegründete italienische Nationalstaat dazu. Des Weiteren waren Luxemburg, um das es ging, und dessen Nachbar Belgien vertreten.

Hauptergebnis der Konferenz war, dass es zu dem von Napoleon III. angestrebten Kauf Luxemburgs nicht kam, vielmehr der niederländische König weiterhin Großherzog von Luxemburg blieb. Auch blieb der Staat Mitglied des Deutschen Zollvereins. Dafür zog Preußen seine Garnison aus der Festung ab und die Festungswerke wurden geschleift. Nach belgischem Vorbild wurde Luxemburg für neutral und unabhängig erklärt sowie die Wahrung sowohl der „immerwährenden Neutralität“ als auch der Unabhängigkeit von Frankreich, Großbritannien, Preußen, Österreich und Russland garantiert.

Anders als im Falle Belgiens wenige Jahrzehnte zuvor hatte diesmal vor allem Preußen auf eine international garantierte Neutralität und Unabhängigkeit Wert gelegt. Nach der Verschlechterung der preußisch-französischen Beziehungen infolge der Luxemburger Krise wollte Bismarck ein französisches Luxemburg in unmittelbarer Nachbarschaft verständlicherweise verhindert wissen. Ohne preußische Truppen und mit geschleifter Festung wäre der Kleinstaat dem französischen Nachbarn jedoch ohne internationale Garantien ziemlich hilflos ausgeliefert gewesen.

Großbritannien hingegen zeigte anders als seinerzeit im Falle Belgiens wenig Engagement. Da die luxemburgische im Gegensatz zur belgischen Frage nicht die kontinentale Gegenküste der Themsemündung betraf, zeigte London wenig Bereitschaft, sich deswegen in einen Krieg ziehen zu lassen. Zudem verfolgte die damalige britische Regierung eine eher isolationistische als interventionistische Politik. Mit dem Reform Act von 1867, einer Wahlrechtsreform, welche die Zahl der Wahlberechtigten glatt verdoppelte, hatte sie im eigenen Land genug zu tun.

Die Briten sorgten deshalb für einen bemerkenswerten Unterschied zwischen den Garantieerklärungen für Belgien und Luxemburg. Während im Falle des Küstenstaates jede einzelne der fünf Großmächte Neutralität und Unabhängigkeit garantiert hatte, handelte es sich im Falle des Binnenstaates nur um eine Kollektivgarantie. Von britischer Seite wurde das in der Weise interpretiert, dass ihr Land nur als Bestandteil des Kollektivs zur Verteidigung von Luxemburgs Neutralität und Unabhängigkeit tätig zu werden brauche. Da aber zu erwarten war, dass eine Verletzung der Neutralität oder Unabhängigkeit Luxemburgs entweder im Interesse Preußens oder Frankreichs lag, war nicht anzunehmen, dass das Kollektiv der Garantiemächte in seiner Gesamtheit sich auf Gegenmaßnahmen würde verständigen können. Der britische Premier Edward Geoffrey Smith-Stanley zog daraus die Schlussfolgerung, dass aufgrund der Kollektivgarantie sein Land bei einer Verletzung der luxemburgischen Unabhängigkeit oder Neutralität zweifellos das Recht habe, Krieg zu führen – aber nicht notwendigerweise die Pflicht. An 14. Juni 1867 erklärte er im Unterhaus: „It would, no doubt, give a right to make war, but not necessarily impose the obligation.“ Mehrmals wurde Bismarck wegen derartiger offizieller Relativierung der Kollektivgarantie zu einem Nichts bei den Briten vorstellig – doch ohne Erfolg.

Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass es 1914 ausgerechnet das von Bismarck gegründete Deutsche Reich war, das mit seinem Einmarsch den Londoner Vertrag von 1867 massiv verletzte, und das es das Vereinigte Königreich war, das sich darüber bis hin zum Kriegseintritt echauffierte.

Nachdem der deutsche Nachbar auch im Zweiten Weltkrieg die Neutralität und Unabhängigkeit Luxemburgs ignoriert hatte, wurde 1948 formell die ab 1867 bestehende „immerwährende Neutralität“ aufgehoben. Damit war der Weg in die Nato frei.

»Leider wieder nur ein Mädchen«

Die erste Autofahrerin der Welt, die vor 75 Jahren gestorbene Bertha Benz, und ihr Mann Carl ergänzten sich geradezu kongenial
Foto: Pixabay

„Leider wieder nur ein Mädchen.“ Es heißt, Karl Friedrich Ringer habe diese Worte in die Familienbibel geschrieben, als seine Ehefrau Auguste Friederike mit Cäcilie Bertha, genannt Bertha, am 3. Mai 1849 in Pforzheim zum dritten Mal statt eines Stammhalters ein Kind zur Welt brachte, bei dem zum großen Glück ein kleines Stück fehlte. Es heißt ferner, Bertha Ringer habe diese fünf Worte im zarten Alter von zehn Jahren gelesen. Trotzdem hatte sie wie viele Töchter ein sehr inniges Verhältnis zu ihrem Vater und wollte ihm möglicherweise deshalb ein guter Sohn sein. Möglicherweise wollte auch der Vater aus ihr einen guten Sohn machen.

Fakt ist – und da hören die Spekulationen auf –, dass Bertha Ringer Fähigkeiten und Interessen besaß, die traditionell eher als männlich gelten. So interessierten sie Technik und Naturwissenschaft. Ihr Vater, ein Zimmermeister, liebte sie, obwohl sie „nur ein Mädchen“ war, war durch Immobiliengeschäfte zu Wohlstand gekommen und gönnte ihr eine für damalige Verhältnisse gute Schulbildung.

Mittellos, aber gutaussehend

Angesichts ihres für ein Mädchen in der damaligen Zeit bemerkenswerten Interessenschwerpunktes verwundert es nicht, dass sie sich in einen Ingenieur verliebte – der zudem auch noch gut aussah und gern tanzte. Bei einer Ausfahrt des Vereins „Eintracht“ lernte sie am 27. Juni 1869 Carl Benz kennen. Benz war zwar mittellos, aber sie ließ sich von seiner Begeisterung für die Idee, einen motorgetriebenen Straßenwagen zu erfinden, anstecken.

Abermals zeigte sich bei Bertha Ringer eine Eigenschaft, die traditionell eher als männlich gilt: Willenskraft. Sie wollte diesen Mann zum Ehemann. Seine Mittellosigkeit schreckte sie nicht ab. Sie brachte ihren Vater dazu, ihr bereits vor der 1872 erfolgten Eheschließung ihre Mitgift und ihren Erbanteil zur Verfügung zu stellen. Sie investierte das Geld in die Realisierung des Traums des fünf Jahre Älteren, der zu ihrem gemeinsamen wurde. Bertha Ringer brachte jedoch nicht nur Geld ihres Vaters, sondern auch Sparsamkeit in das Unternehmen ein und Geschäftstüchtigkeit, abermals eine Fähigkeit, die traditionell eher Männern zugetraut wird.

Mit finanzieller wie auch technischer Hilfe seiner Ehefrau gelang Carl Benz schließlich der technische Durchbruch, die ersehnte Erfindung eines selbstfahrenden Kraftwagens. 1886 erhielt Carl Benz ein Patent auf seinen Motorwagen. Die Produktion für den Markt konnte beginnen. Drei Jahre zuvor hatte er bereits mit zwei Teilhabern die Firma „Benz & Cie. Rheinische Gasmotorenfabrik in Mannheim“ gegründet.

Das Auto war da, aber was fehlte, waren Kunden. Ausfahrten auf öffentlichen Straßen und Wegen, welche die Öffentlichkeit mit den Autos konfrontiert und ihr die Leistungsfähigkeit der neuen Erfindung vor Augen geführt hätten, waren verboten. Die Obrigkeit verhielt sich hier sehr restriktiv und wenig innovationsfreundlich.

Die erste Überlandfahrt

In dieser Situation schrieb Bertha Benz mit etwas Verbotenem Geschichte. Sie war eine gut aussehende Frau, ein scheinbar hilfloses Weib. Und Polizisten waren Männer. Bertha hatte da größere Chancen als ihr Gatte, dass sich die Vertreter der Obrigkeit im Zweifelsfall als nachsichtige Kavaliere und Gentlemen erweisen würden. So war sie es, die sich über die restriktiven Vorgaben der Obrigkeit für die Erprobung des Automobils hinwegsetzte und die erste Überlandfahrt unternahm – angeblich ohne das Wissen ihres Mannes.

Am frühen Morgen eines der ersten Tage im August des Dreikai­serjahres 1888 verließ Bertha Benz mit ihren 13 und 15 Jahre alten Söhnen Eugen und Richard auf beziehungsweise in einem Exemplar des ersten für den Verkauf produzierten Benz-Automobils, des Benz Patent-Motorwagens Nummer 3, das heimische Mannheim. Das Ziel war die in Pforzheim wohnende Mutter. Auch hier zeigte Bertha Benz wieder Willensstärke und technischen Verstand. Wenn Kühlwasser nachgefüllt werden musste, holte sie es aus Dorfbrunnen, Bahnwärterhäusern, Wirtshäusern oder einem Wassergraben. Als in Wiesbach der Treibstoff ausging, kaufte sie Leichtbenzin für die Kleiderreinigung in einer Apotheke. Als eine Benzinleitung verstopft war, machte sie diese mit ihrer Hutnadel wieder frei. Als die Zündung wegen Kurzschlusses streikte, funktionierte sie ihr Strumpfband zum Isolierband um. Und als die Bremsen schwächelten, ließ sie die Bremsbacken von einem Schuster mit Leder beschlagen. Nach 106 Kilometern Fahrt war am Abend des Tages das Ziel erreicht. Drei Tage später ging es über eine andere Route wieder zurück. Der Benz hatte den Praxis­test bestanden.

Wenn die Werbewirkung der Ausfahrt auch nicht überschätzt werden sollte, so setzte sich das Automobil doch durch. Vor allem Bertha Benz war es vergönnt, den Erfolg noch mitzuerleben, aber auch Carl. Er starb 1929, sie erreichte ein geradezu biblisches Alter. Vor 75 Jahren, zwei Tage nach ihrem 95. Geburtstag, an dem sie noch zur Ehrensenatorin der Technischen Hochschule Karlsruhe ernannt worden war, starb sie in Ladenburg, dem Sitz des 1906 von ihrem Mann Carl und ihrem Sohn Eugen gegründeten Automobilherstellers und -zulieferers „C. Benz Söhne“.