von Götz Egloff
Für Psychoanalytiker und Psychotherapeuten für Essstörungen in Heidelberg, Mannheim und Göttingen stellt eine mehrjährige Studie zur Bulimia nervosa ein spannendes Unterfangen dar, das im Idealfall Patientinnen von einer schweren Störung befreit – oder zumindest Linderung verschafft – und noch dazu weiteren Aufschluss über Entstehung, Aufrechterhaltung und Therapie dieser Symptomatik gibt. Nach langjährigen Therapien, ebenso langjähriger Datenerhebung und -auswertung werden nun erste Ergebnisse des „Forschungsprojekts zur Bulimia nervosa bei jugendlichen Mädchen und jungen Frauen“ vorgestellt, das an den Universitätskliniken Heidelberg und Göttingen von 2007 bis 2010 unter der Leitung von Günter Reich, Professor für Psychosomatik der Essstörungen in Göttingen, durchgeführt wurde.
Das der Studie zugrunde liegende Therapiemanual, aus dem nun in modifizierter Form ein Standardmanual entsteht, gibt für psychodynamische (also psychoanalytische bzw. tiefenpsychologische) Therapie ein 60-stündiges Behandlungssetting vor, sodass bei einer Frequenz von ein bis zwei Stunden pro Woche mit einer Therapiedauer von ca. einem bis anderthalb Jahren zu rechnen ist. Nach einer Therapieeröffnungsphase, in der eine störungsorientierte Diagnostik erstellt wird (Zentraler Beziehungskonflikt ZBK nach Luborsky, 1995), werden in der Behandlungsphase die Foki Beziehung, Konflikt und Struktur der Patientin in den Blick genommen und im psychodynamischen Prozess zielorientiert und symptomnah durchgearbeitet (Luborsky, 1995; OPD-2, 2006). In der Abschlussphase werden die angesteuerten Ziele auf ihre Umsetzung hin gemeinsam betrachtet.
Beim Studiendesign handelte es sich um eine randomisiert-kontrollierte Therapiestudie (RCT-Studie), deren Ziel unter anderem die Überprüfung der Wirksamkeit psychodynamischer Psychotherapie war. Die Kohorte sollte 60 Patientinnen mit (nach ICD-10) F 50.2 Bulimia nervosa und 40 Patientinnen mit F 50.3 atypischer Bulimia nervosa umfassen. Strukturelle Beeinträchtigungen wurden mitdiagnostiziert, spezifische persönlichkeitseigene Anteile miterfasst. Vor Beginn der Behandlung, nach 30 und 45 Therapiestunden sowie nach Beendigung der Behandlung wurden Erhebungen durchgeführt, sechs und zwölf Monate nach Beendigung Katamnese-Untersuchungen. Mittels Fremd- und Selbsteinschätzungserhebungen wurden somit die Therapieverläufe kontinuierlich begleitet.
Bereits in früheren Publikationen wurde von unterschiedlichen Autoren darauf hingewiesen, dass je nach Störung einmal mehr klassisch-psychoanalytische Konzepte wie das der Hysterie (Gress, 2001; Seidler, 2001; Greenson, 2007; Egloff, 2012b), neuere psychoanalytisch-psychodynamische (Reich, 2002; OPD-2, 2006) als auch systemisch-familiendynamische Ansätze in Richtung Kommunikationsstörungen (Gröne 1995; Reich & Cierpka, 1997; Egloff, 2010b; Egloff & Becker, 2011; Egloff, 2012c) greifen, erstere eher im Rahmen der Entstehung, die letzteren eher im Rahmen der Aufrechterhaltung der Symptomatik. Dass eine hysterisch anmutende Symptomatik nicht eine Hysterie im Kern sein muss sowie ganz anders imponierende Symptomatiken im Kern doch hysterisch sein können, darauf hat Greenson (2007, 66) hingewiesen. Auf diese Konzeptionen hin muss noch untersucht werden, damit die Tragweite dieser Überlegungen ersichtlich wird.
Die überwiegende Zahl bisheriger Studien ist quantitativ orientiert; man sucht in der biologischen Psychiatrie vermehrt nach Stoffwechselstörungen oder bleibt nah an beobachtbaren Verhaltensmustern, wie verschiedene Übersichtsarbeiten und die Veröffentlichungen des International Journal of Eating Disorders, dem Organ der amerikanischen Academy for Eating Disorders (AED), eindrucksvoll zeigen. Dies ist wichtig und notwendig, versperrt – und dessen sind sich viele Forscher nicht gewahr – oft jedoch den Blick auf das biographische und speziell sozialisationsbedingte Moment in der Entstehung psychischer und psychosomatischer Störungen (vgl. Gress, 2001). Selbst Akademiemitglied, stelle ich immer wieder fest, dass biographie-orientierte sozialwissenschaftliche Perspektiven in der biologischen Engführung vieler Fachwissenschaftler kaum eine Rolle spielen. Dies geschieht oft nicht absichtlich, sondern aus Unkenntnis. Initiativen wie die von Pritz (1996) und Fischer (2011) postulieren daher die dringend notwendige interdisziplinäre Fundierung und Neu-Ausrichtung der Disziplin. Und auch in den USA gibt es diese Entwicklungen, wie die integrativ-psychosomatischen Ansätze der in Missouri ansässigen American Association of Integrative Medicine (AAIM) zeigen.
Aus psychodynamischer Sicht besteht eine Symptombildung aus konflikthaften, gegenläufigen psychischen Strebungen, die nicht oder kaum miteinander in Einklang zu bringen sind. Nachwievor besteht in der psychoanalytisch-psychodynamischen Theoriebildung also ein Determinismus des innerpsychischen Sinns von Symptomen (vgl. Egloff, 2003), so auch bei der Bulimie. Während der familiendynamischen Perspektive eher ein systemisch-strukturfunktionaler Aspekt innewohnt, wird im psychodynamischen Denken auf individueller Ebene nach psychischen Strebungen gesucht, die eine Symptombildung nötig machen – um dann diese auflösen und überflüssig machen zu können. Dass mit der Bulimie spezifische intrapsychische Konfliktlagen einhergehen, haben Reich & Cierpka (1997) anschaulich dargestellt. Mit diesen Konfliktlagen gehen Emotionen und Affekte einher; zu denen gehören Scham- und Schuldgefühle, die nun einerseits als Resultat von Konflikten, aber auch als Ergebnis früher Belastungs-Entitäten selbst zu verstehen sind. Bulimie-Syndrome weisen zumeist ein Gepräge verschiedener klinischer Phänomene auf, innerhalb derer die obigen Affekte regelhaft auftauchen.
Bislang wurde im Rahmen der Studie vorwiegend unter dem Aspekt der Scham untersucht (Frost, Strack, Kronmüller et al., 2010) sowie im Verhältnis mit dysfunktionalen familiären Beziehungsmustern (Frost, Kronmüller, Rutz et al., 2011).
Der zentrale Topos subjektiv empfundener Schuld im Ödipus-Konzept der Psychoanalyse wird zu untersuchen sein. Hier nur ein kurzes Schlaglicht auf eine Patientin, die nach bei mir abgeschlossener Therapie mit passablem Erfolg ihre Zustimmung zur breitenwirksamen Veröffentlichung gab. Die Patientin hatte immer wieder mit einem Schuld-Affekt zu kämpfen:
Es ist auffällig, dass die 18-jährige Patientin kein gutes Haar an ihrer Mutter lässt und ihren Vater vergöttert. Sie erlebt auch andere Männer so; denen gibt sie sich rasch hin, ohne genauer auszuwählen. Auf die Deutung hin, dass sie mit dem schnellen Wechsel der Liebhaber nach einer Liebesbeziehung zu ihrem Vater sucht, der jedoch nicht mit ihr, sondern mit ihrer Mutter ins Bett geht, zeigt sich die Patientin erst entsetzt, dann zerknirscht. Der ödipale Übertrumpfungsversuch an der Mutter, der nicht gelingen kann, schafft bei ihr Schuld- und Schamgefühle, die nicht ausgehalten werden können. Auf die Überlegung hin, ob die Patientin nicht auch diese Gefühle loswerden müsse, erklärt sie mutig, dass sie eigentlich alles, egal was, auch Gefühle generell wieder „auskotzen“ müsse. Dies ist ein gängiger Topos bei Bulimie-Patientinnen (vgl. Egloff, 2009), der erst nach dessen innerer Annahme aufgelöst werden kann. Das Ich der Patientinnen muss therapeutisch enorm gestärkt werden, sodass es solche amorphen, abgründigen Verinnerlichungen aushalten, erhellen und steuern lernen kann. Die Patientin berichtet zum Ende der Therapie, dass ihr dies mittlerweile gut gelinge, was für sie am Allerwichtigsten gewesen sei. Der Wiederholungszwang derartiger Verinnerlichungen zeigte sich nicht nur im Symptom, sondern in diesem Fall auch szenisch genau am ersten Tag der Besprechung dieses Themas darin, dass beim Verlassen des Therapiezimmers der bunte Ethno-Rock der Patientin über die schmalen Hüften rutschte und für einen Moment den Blick auf ihr Gesäß freigab. Dies kann als Verführungsbild verstanden werden und ebenso als Geste der Entwertung des Therapeuten. Parallel zur Einsicht der Patientin in das Besprochene der Sitzung erscheint also gleichermaßen die emotionale Abwehr der Einsicht im Rahmen des Wiederholungszwangs, hier in der Herstellung eines Verführungsbildes. Dass darin auch eine Entwertungs-Geste zum Ausdruck kommt, also eine Externalisierung von Scham und Schuld an den Therapeuten, ist durchaus wichtig, da die erotisierte Übertragung der Patientin sich somit nur in einem moderaten Maße zeigt. Damit tritt sie nicht als starker, sondern als milder Widerstand in Erscheinung; ein analytisches Arbeiten ist bei manchen Patientinnen sonst nicht mehr möglich (vgl. Greenson 2007, 348-351).
Die gängigen familiendynamisch relevanten Muster sind nicht nur bei der Bulimie ausführlich beschrieben worden (Reich & Cierpka, 1997). Zentrale Themen in Familien mit Essstörungen stellen sich in der psychodynamisch und familiendynamisch orientierten Praxis grundlegend als folgende dar:
Konflikthaftigkeit, Impulsivität, Resonanz, Übergriffigkeit, Geheimnisse, Stimulation
(K-I-R-Ü-G-S-Themen nach den Anfangsbuchstaben).
Das Wie der Austragung dieser Themen ist nun unterschiedlich gefärbt: In Abgrenzung zu Familien, in denen ein Mitglied anorektisch ist, weisen Familien mit einem bulimischen Mitglied eher offen ausgetragene Konflikte aus, ein höheres Maß an Impulsivität, eine geringere affektive Resonanz, mehr offene Übergriffigkeit sowie mehr Familiengeheimnisse. Themen mit potentiell sexuellem Stimulationsfaktor werden eher forciert. Wo in Familien mit anorektischem Modus Konflikte eher unterdrückt, Impulse eher gehemmt, affektive Resonanz eher stärker, Übergriffe im Verborgenen, Geheimnisse weniger relevant erscheinen und Themen mit sexuellem Stimulationscharakter eher gehemmt werden, wird in Familien mit bulimischem Modus eher agiert, also nach außen getragen. Dies gilt nicht nur für das bulimische Familienmitglied, sondern tendenziell für alle im System Beteiligten; es fällt bei Letzteren nur meist nicht so auf, ist sub-klinisch. Generell gilt in bulimischen Familien: Handeln statt Unterlassen (Reich & Cierpka, 1997). Die anorektische Haltung ist daher eine restriktive Haltung, um Ängste zu beherrschen; die bulimische Haltung eine pseudoautonom und leger erscheinende, um Wünsche abzuwehren. Ob es bei diesen Haltungen zentral um intrapsychische Individuationsthemen, ja Autonomie und Abhängigkeit sowie Autarkie und Versorgung geht, ist nicht völlig geklärt. Aus Lacanscher Sicht ist freilich Skepsis angebracht, stellt doch die strukturale Triade (Lang, 2011) per se etwas dar, in der ein rein Ich-psychologisches Verstehen und Vorgehen nicht aufgeht. Aus pragmatischen Gründen scheint es aber angemessen – solange bis die psychoanalytisch-psychodynamische Forschung weitere Erkenntnisse vorlegen kann. Hilfreich ist es allemal.
Psychoanalytisch-psychodynamische Therapie in ihren verschiedenen Modifikationen – störungsorientiert, tiefenpsychologisch, auch manualgeleitet – stellt ein wirksames Mittel gegen bulimische Symptomatik dar. Es müssen nicht unbedingt hunderte Stunden auf der Couch sein, ganz rasch kann es jedoch nicht gehen. Und nicht zu vergessen: auch verhaltenstherapeutische Interventionen sind hilfreich (Salbach-Andrae & Pfeiffer, 2011), vor allem wenn sie in ein Konzept eingebettet sind, in dem sich die Patientin als biographischer Mensch und nicht als lebendes Reiz-Reaktions-Schema erkannt sieht (vgl. Egloff, 2010a; 2012a). In der Praxis werden verhaltenstherapeutische Interventionen sinnvollerweise durchaus auch in psychoanalytischen Therapien gegeben. Zusätzliche pharmakotherapeutische Maßnahmen mit Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI) können in manchen Fällen ebenso angezeigt sein und zeitigen in Kombination mit verbaler Psychotherapie respektable Erfolge.
Literaturhinweise:
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Fischer, G. (2011): Psychotherapiewissenschaft. Psychosozial, Gießen.
Frost, U., Strack, M., Reich, G., Kronmüller, K., Stefini, A. (2010): Die Rolle der Scham in den Familienbeziehungen bulimischer Patientinnen. Vortrag auf dem Kongress Essstörungen, Alpbach, AT, Okt. 2010.
Frost, U., Kronmüller, K., Rutz, U., Strack, M., Reich, G. (2011): Zum Zusammenhang von dysfunktionalen Familienbeziehungen und Scham bei bulimischen Patientinnen. Poster auf der 62. Tagung des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM), Essen, März 2011.
Greenson, R.R. (2007): Technik und Praxis der Psychoanalyse. Klett-Cotta, Stuttgart.
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Seidler, G. (Hg.) (2001). Hysterie heute. Psychosozial, Gießen.
Seidler, G. (Hg.) (2002): Das Ich und das Fremde. Psychosozial, Gießen.
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