Vor 135 Jahren übergab Prinz Luitpold den Kaiserbrief Ludwigs II. an Wilhelm I.
Von Manuel Ruoff
Der „Kaiser“ hat(te) wie das „Reich“ in Deutschland einen besonderen Nimbus. Man denke nur an das geflügelte Wort von der kaiserlosen, der schrecklichen Zeit. Insofern lag es nahe, daß Bismarck sein Einigungswerk durch die Schaffung eines beziehungsweise die Revitalisierung des Kaisertums krönen wollte. Der Eiserne Kanzler selber sprach von der „Nützlichkeit des Kaisertitels für Förderung der nationalen Einheit“.
Es stellte sich jedoch die Frage, wie dieser für das Bundespräsidium, sprich den preußischen König, vorgesehene Titel zu legitimieren war. Wäre die Reichseinigung eine Aktion von „unten“ gewesen, hätte es sich angeboten, daß eine irgendwie geartete Volksvertretung dem Preußenkönig die Krone angetragen hätte. Die deutsche Einigung war jedoch trotz aller Sympathie von „unten“ ein Unternehmen von „oben“, ein Fürstenbund. Wer schien angesichts dieser Konstellation besser geeignet, in Vertretung aller Fürsten dem mächtigsten unter ihnen die Krone anzutragen als der zweitmächtigste, der König von Bayern?
Auch die preußische Diplomatie beantwortete für sich diese Frage mit niemand, und so versuchte sie den Bayernkönig für eine entsprechende Aktion zu gewinnen. Doch was sollte Ludwig II., dessen Vorbild der gleichnamige „Sonnenkönig“ war, dazu bewegen, über sich einen Kaiser zu installieren? Antwort gibt wohl die folgende Aufzeichnung des preußischen Gesandten in München, Georg von Werthern, die um den 20. November 1870 angefertigt wurde und eine Reise Graf Max von Holnstein, des Oberstallmeisters Ludwigs II., zum preußisch-deutschen Hauptquartier während des Deutsch-Französischen Krieges zum Thema hat:
„Holnstein geht im Allerhöchsten Auftrage am Dienstag nach Versailles …, um in einer ganz curiosen Angelegenheit mit Bismarck zu reden. Der König ist nemlich durch das Theater, welches aus einem Defizit von 200000 fl. abschließen soll, den neuen Wintergarten auf der Residenz, dessen eisernes Bauwerk allein über 800000 fl. kostet, den Bau des heil. Gral über Hohenschwangau, der auf 4 Millionen veranschlagt ist, so wie durch die kostbaren Liebhabereien für Möbel und Bett im Gemache Ludwigs XIV in die allerpeinlichste Geldverlegenheit gerathen. Die Civilliste besitzt zwar … einen Baarbestand von 4 Millionen, sie verschweigt denselben aber dem König und die Privat-Chatouille ist ganz leer. Holnstein hat nun dem König vorgerechnet, am Regieren habe er doch keine Freude, wenn er sich mit uns verbinde, werde er die Sorgen in den Kammern und mit dem Militärbudget ganz los, es sei also von der unbeschränkten Souveränität im Grunde gar so viel nicht verloren, er möge also doch die Concessionen an Deutschland machen, die man verlangt und zusehen, ob er dabei nicht etwas für seine Privatannehmlichkeiten kuriren könne. Diese Reden müssen auf einen fruchtbaren Boden gefallen sein, denn heute steht die Sache so, daß Seine Majestät geneigt ist für 6 Millionen Gulden alles zu thun was man von ihm verlangt, in specie selbst nach Versailles zu gehen und Se. Majestät viva voce zum deutschen Kaiser aus zu rufen. Die ganz vertraulichen Vorbesprechungen mit Bismarck sind der Zweck der Reise des Grafen H. und derselbe versichert mich, daß sein erhabener Herr die schriftliche Proclamation auch noch um vieles billiger von sich geben würde.“
Nicht de jure, aber de facto läßt sich der sogenannte Kaiserbrief, den Ludwig II. Wilhelm I. am 30. November 1870 auf seinem Schloß Hohenschwangau schrieb, als die von Werther angesprochene „schriftliche Proclamation“ interpretieren. Praktischerweise hatte Bismarck Ludwig drei Tage vorher einen Briefentwurf geschickt, an den sich der Bayernkönig weitgehend hielt. Am 3. Dezember 1870 wurde das königliche Schreiben durch Holnstein dem späteren Prinzregenten Luitpold übergeben, der es noch am selben Tag dem Adressaten aushändigte.
Wilhelm I. wäre zwar lieber „Kaiser von Deutschland“ als „Deutscher Kaiser“ geworden, aber auf Drängen seines Regierungschefs griff er die im Kaiserbrief angesprochene „Anregung“ auf und ließ sich am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles zum Kaiser ausrufen, ein Ereignis, das bis zum heutigen Tage als Reichsgründungstag gilt.
„In der Form eines Darlehens, aber ohne jede Hoffnung auf Deckung“ ließ Bismarck Ludwig bis zum Oktober 1885 in Jahresraten insgesamt fünf Millionen Goldmark zukommen.
Kaiserbrief Ludwigs II. von Bayern an Wilhelm I. von Preußen
Durchlauchtigster Großmächtigster Fürst! Freundlichlieber Bruder und Vetter!
Nach dem Beitritt Süddeutschlands zum deutschen Verfassungsbündniß werden die Ew. Majestät übertragenen Präsidialrechte über alle deutschen Staaten sich erstrecken.
Ich habe mich zu deren Vereinigung in einer Hand in der Überzeugung bereit erklärt, daß dadurch dem Gesamt-Interesse des deutschen Vaterlandes u. seiner verbündeten Fürsten entsprochen werde, zugleich aber in dem Vertrauen, daß die dem Bundespräsidium nach der Verfassung zustehenden Rechte durch Wiederherstellung eines deutschen Reiches und der deutschen Kaiserwürde als Rechte bezeichnet werden, welche Eure Majestät im Namen des gesammten deutschen Vaterlandes auf Grund der Einigung seiner Fürsten ausüben.
Ich habe mich daher an die deutschen Fürsten mit dem Vorschlage gewendet, gemeinschaftlich mit mir bei Eurer Majestät in Anregung zu bringen, daß die Ausübung der Präsidialrechte des Bundes mit Führung des Titels eines Deutschen Kaisers verbunden werde. Sobald Ew. Majestät und die verbündeten Fürsten Ihre Willensmeinung kundgegeben haben, werde ich meine Regierung beauftragen, das Weitere zur Erzielung der entsprechenden Vereinbarungen einzuleiten.
Mit der Versicherung der vollkommensten Hochachtung und Freundschaft verbleibe ich Euerer Königlichen Majestät freundwilliger Vetter Bruder und Neffe Ludwig