Von Dr. Manuel Ruoff
Auch bei der Hamburger Epidemie von 1892 kollidierte das Allgemeinwohl mit Lobbyinteressen
Wie die aktuelle Ehec- hatte auch die Hamburger Chloleraepidemie von 1892 ihren Schwerpunkt in Norddeutschland. Dieses ist jedoch nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen den beiden Epidemien.
„Nein, ich auch nicht und ich finde, wenn das Robert-Koch-Institut diese Warnungen ausspricht, dann gilt das erst mal.“ So antwortete die grüne Landwirtschaftsministerin von Rheinland-Pfalz, Ulrike Höfken, am 8. Juni in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (DLF) auf die Frage, ob sie im Moment Gurken esse. Da einer Grünen kaum zu unterstellen ist, dass sie in ihrem Privatleben einer Empfehlung von staatlicher Seite Folge leistet, ohne an deren Sinnhaftigkeit zu glauben, hielt Höfken zum Zeitpunkt des Interviews offenkundig den Verzehr von Gurken für ein Gesundheitsrisiko.
Dass die Landwirtschaftsministerin die entsprechende Warnung des Robert-Koch-Instituts (RKI) also als begründet erachtete, hielt sie jedoch nicht davon ab, im selben DLF-Interview diese Warnung mehr oder weniger verklausuliert zu kritisieren – aus Rücksicht auf die Agrarlobby. So antwortet sie auf die Frage, ob die aus der Gurkenwarnung resultierenden „Wegwerforgien unvermeidlich“ seien: „Na ja, also ich will da in diese Empfehlungen des Robert-Koch-Institutes nicht eingreifen. Was aber vielleicht nötig wäre, das wäre …“ Die Ministerin zieht dann die Glaubwürdigkeit der RKI-Empfehlung in Zweifel, indem sie „erhebliche Kritik“ an den Befragungen anmeldet, die ihr zugrunde lagen, und antwortet auf die Frage, ob nur dann gewarnt werden solle, wenn wissenschaftliche Beweise vorliegen, was bei der Gurken-Warnung des RKI nicht der Fall war: „Nein, man kann nicht sagen, dass Verbraucher nicht gewarnt werden sollen, wenn ein Verdacht besteht. Das wäre in manchen Fällen dann auch fahrlässig. Aber …“ Und dann kommt sie auf die Interessen ihrer Klientel zu sprechen: „Aber man muss die Sachen zusammenbinden, und da hakt es eher dran, das heißt, was die Erzeuger erwarten können. Die sind ja im Moment, finde ich, arg außen vor gelassen und sehen mit Entsetzen diesem ganzen Geschehen zu.“
Eine derartige Missachtung des unbedingten Primats der Volksgesundheit vor separaten Lobbyinteressen führte maßgeblich zum letzten großen Ausbruch der Cholera in Deutschland im Jahre 1892 in Hamburg. In der Stadtrepublik waren es nicht die Sonderinteressen von Agrariern, sondern von Vermietern, sogenannten Hausagrariern, die mit dem Allgemeininteresse kollidierten. Von dem als „Reichs-Commissar für die Gesundheitspflege im Stromgebiet der Elbe“ von Berlin nach Hamburg entsandten Entdecker des Cholera-Erregers, Robert Koch, stammt die denkwürdige Einschätzung: „Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie in den sogenannten Gängevierteln, die man mir gezeigt hat, am Hafen, an der Steinstraße, in der Spitalerstraße oder an der Niedernstraße.“ Berühmt sind seine zusammenfassenden Worte: „Ich vergesse, dass ich in Europa bin.“
Zu diesem menschlichen Versagen kamen ungünstige natürliche Bedingungen in diesem Sommer 1892. Es war heiß, der Pegel der Elbe, aus der für Hamburg das Leitungswasser – im Gegensatz zur preußischen Nachbarstadt Altona – ungefiltert entnommen wurde, war niedrig und das Flusswasser ungewöhnlich warm. In dieser Situation bedurfte es nur noch eines Funkens, eines Auslösers für die Katastrophe. Es besteht die Vermutung, dass Russen, die über Hamburg in die Neue Welt auswandern wollten, die Seuche aus ihrer Heimat eingeschleppt haben. Diese Theorie wird allerdings mittlerweile aus der Historikerzunft als angeblich ausländerfeindlich abgelehnt – denn Ursachensuche unter Migranten für ein Problem oder einen Missstand verstößt gegen die poltische Korrektheit.
Das erste bekannte Todesopfer der Epidemie war ein Kanalarbeiter, der den Auslass der Kanalisation am Kleinen Grasbrook überwachte. Er starb am 17. August 1892. Im Oktober galt die Epidemie als erloschen. Bis zum Februar 1893 kamen allerdings noch vereinzelte Erkrankungen und auch Todesfälle vor. Insgesamt wurden 16596 Erkrankungen und 8605 Todesfälle registriert.
Zur vollen Wahrheit über die Hamburger Choleraepidemie gehört aber auch, dass die Bürgerrepublik aus der Katastrophe lernte und ihre Konsequenzen zog. Dieses geschah langsam sowie unter teilweise erheblichem Druck von außen und aus der eigenen Arbeiterschaft, aber es geschah. In dem der Epidemie folgenden Kalenderjahr wurde das Filtrierwerk der Hamburger Wasserwerke auf Kaltehofe fertiggestellt, am Bullerdeich die erste Müllverbrennungsanlage Deutschlands errichtet und Bernhard Nocht als Hafenarzt nach Hamburg gerufen, dessen 1900 eingeweihtes Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten (Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin) Weltruf erlangte.
Nach dem großen Hafenarbeiterstreik von 1896 konnte die Stadtregierung 1898 schließlich gegen den erbitterten Widerstand der Grundeigentümer ein Wohnungspflegegesetz durchsetzen, das gesundheitliche Mindeststandards für die Wohnungen festsetzte. Nach dessen Verschärfung im Jahre 1907 verfügten die Hamburger über eines der schärfsten und modernsten Regelwerke auf diesem Gebiet des gesamten Kaiserreiches.
Es ist zu hoffen, dass in analoger Weise auch die politische Führung der Bundesrepublik aus der Ehec-Epidemie lernt und ihre Konsequenzen für den Schutz der Bevölkerung vor Seuchen ziehen wird.