Von Urs Wiefele
Uwe Friesel stellte in der Hansestadt Salzwedel sein neues Buch vor.
Zwischen allen Stühlen ist der Platz des freien Autors
…ist ein aufmüpfiger und selbstbewusster Titel, wenn man bedenkt dass das Wort „Essay“, vom Altfranzösischen essai abgeleitet, zur Zeit seines Erfinders
Montaigne (1533 bis 1592) vielmehr Vorsicht, Rücksicht und verdecktes Fragen meinte. Ein Essay sei ein bloßer Denkversuch, keineswegs die Behauptung einer Wahrheit, definierte Montaigne, um den Folgen der gefährlichen Dogmen der Kirche, die seinem vogelfreien Denken diametral entgegenstanden, nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Nietzsche, der 300 Jahre später am radikalsten an den Dogmen rüttelte, bewunderte in ihm einen frühen Vorgänger, ohne den modernes aufgeklärtes Denken und Schreiben gar nicht möglich sei.
Die deutsche Literatur in Nietzsches Nachfolge hat zwar etliche Essayisten hervorgebracht – zwischen den Kriegen Tucholsky und Ossietzki, neuerlich Enzensberger und Safranski, um hier nur vier zu nennen. Doch beim deutschen Leser war der Essay nie wirklich beliebt: späte Folge einer obrigkeitsstaatlichen Zensur seit den Karlsbader Beschlüssen bis in unsere Tage? Ja nicht selbst zu denken wagen? Bei uns bekommt man, während der Leser mediterraner Zeitschriften jede Woche im Feuilleton ein, zwei Essays von freien Schriftstellern zu tagesaktuellen Themen liest, meist nur die Leitartikel angestellter Redakteure zu Gesicht –bescheidener Rest des an die Wurzeln gehenden literarischen Essays.
Hier nun kommt just 2015, da doch in Deutschland fraglos die Einigung umjubelt werden wird, ein Essayband auf den Markt, der ganz umgekehrt die Umstände und die Zustände dieser Einigung hinterfragt. „Essays aus vierzig Jahren Deutschland“, heißt es im Untertitel. Dazu, frei nach Heine, „Soll man in Krähwinkel stets das Maul halten?“
Das tut der Autor Uwe Friesel, Jahrgang 1939, prinzipiell nicht. Seine Themen reichen von kuriosen Luft-Schiffen über Bali bis zu den wundersamen Reisen der Schriftsteller nach 1989 in Ostsee, Schwarzmeer und Ägäis. Diese Kreuzfahrten gipfelten in der Gründung internationaler Schriftstellerzentren in Visby/Gotland und auf Rhodos, für die er mit verantwortlich war. Aber neben solchen Triumphen werden auch die Niederlagen sichtbar: etwa in der Behandlung des Mephisto-Romans von Klaus Mann durch deutsche Gerichte, die noch heute die Meinungs- und Kunstfreiheit in Deutschland einschränkt. Etwa im Wiedererstarken der Nazis unter von NPD bis Pegida, und im Wiedererwachen des Antisemitismus.
Was die Zeitzeugenschaft betrifft, so ist sie vielleicht am authentischsten in jenen Aufsätzen zu spüren, die um den Schriftstellerkongress von 1991 in Travemünde kreisen. Dort wurde Uwe Friesel zum ersten gesamtdeutschen Vorsitzenden des VS gewählt, mit der nicht leichten Aufgabe, die beiden vier Jahrzehnte lang getrennten Literaten aus Ost und West wieder zu einen. Das war nach Meinung des früheren schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Björn Engholm „eine Sisyphos-Arbeit. Friesel habe sie mit „Besonnenheit, Geduld und Empathie“ gemeistert.
Für den mehr literaturgeschichtlich orientierten Leser werden vor allem die Essays über den Steierischen Herbst, die Autoren Edition bei C. Bertelsmann, die PEN-Kongresse in Rio und Dubrovnik , die Entwicklung von Sprache und Druckkunst interessant sein. Wogegen Heine-Liebhaber in drei sehr unterschiedlichen Texten völlig neue Aspekte der Heine-Rezeption kennenlernen dürften.
All dies ist vorgetragen in einer fast leichtfüßigen Sprache, wie ja überhaupt der Essay den Vorzug hat, selbst bei komplexen Themen verständlich und amüsant zu sein. So liegt hier eine kleine Kulturgeschichte von der späten Nachkriegszeit bis zur Vereinigung vor, bei der es sich empfiehlt, einen Ratschlag aus dem Vorwort des ehemaligen Kulturministers von Sachsen-Anhalt, Karl-Heinz Reck, zu befolgen: „Gehen Sie chronologisch vor. Fangen Sie ganz vorn an zu lesen. Es lohnt sich!“
(Uwe Friesel, Zwischen allen Stühlen oder Soll man in Krähwinkel stets das Maul halten? Essays aus vier Jahrzehnten Deutschland. Jmb-Verlag. ISBN 978-3-944342-75-7. 320 Seiten. Hannover 2015, 16,95 Euro)
www.jmb-verlag.de
Fotos: Wöhlke