erschienen in der PAZ
Von Dr. Manuel Ruoff
Seit dem Spanischen Erbfolgekrieg halten die Engländer das zur iberischen Halbinsel gehörende Gibraltar besetzt
Seit nunmehr drei Jahrhunderten ist Gibraltar, dessen Besitz mit der Kontrolle der Verbindung zwischen Atlantik und Mittelmeer einhergeht, ein Streitobjekt zwischen Großbritannien und Spanien. Die Gibraltarfrage belastet das Verhältnis der beiden zeitweiligen Groß- und Weltmächte mal mehr und mal weniger. Zurzeit einmal wieder etwas mehr.
Die Vorgeschichte beginnt damit, dass 1700 König Karl II. von Spanien starb. Da er keinen Stammhalter gezeugt hatte, erlosch damit die spanische Linie des Hauses Habsburg und es gab niemanden, dessen legitimer Anspruch auf den spanischen Thron evident und unbestritten gewesen wäre. Der Anspruch des Habsburgers Erzherzog Karl wurde vor allem von dessen Vater Kaiser Leopold I. unterstützt, der Anspruch des Bourbonen Philipp von Anjou insbesondere von dessen Großvater König Ludwig XIV. von Frankreich. Über die divergierenden Erbansprüche brach 1701 ein Krieg aus, der Spanische Erbfolgekrieg.
Im Jahr des Kriegsausbruchs schmiedete England mit den in Personalunion verbundenen Niederlanden und dem Kaiser die Haager Große Allianz gegen die Erbansprüche der Bourbonen. Ähnlich wie bei den heutigen Kriegen der Angelsachsen in Afghanistan, dem Irak, Libyen und nun möglicherweise Syrien ging es den Engländern im Spanischen Erbfolgekrieg erklärtermaßen nicht um Gebietsgewinn, sondern um die Bekämpfung eines als illegitim gebrandmarkten Herrschaftsanspruches. Umso bemerkenswerter, da inkonsequent, ist es, dass England den Krieg zur Annexion spanischen Territoriums nutzte.
Am 4. August 1704, nicht etwa am Morgen, wie es damals üblich war, sondern geschickterweise während der Siesta, eröffnete der englische Admiral Sir George
Rooke mit seinen über 50 Kriegsschiffen das Feuer auf Gibraltar. Anschließend stürmten über 1800 englische und niederländische Soldaten unter dem Kommando des Prinzen Georg von Hessen-Darmstadt, was die Schiffsartillerie von den Befestigungen übriggelassen hatte. Umgehend bemühten sich die Franzosen und die sie unterstützenden Spanier von Philipp von Anjou, der sich nun König Philipp V. von Spanien nannte, unter dem Kommando des Marquis von Villadarias, die von See her versorgten Eroberer wieder ins Meer zu werfen. Nach sieben Monaten Belagerung und 10000 Mann Verlust gaben sie diesen Versuch jedoch auf.
Als am 13. Juli 1713 der Spanische Erbfolgekrieg mit dem Utrechter Vertrag zumindest teilweise beendet wurde, standen Engländer und Niederländer immer noch in Gibraltar. Zwischenzeitlich war der in habsburgischen Diensten stehende Prinz Georg gefallen, während der Engländer Sir George Rooke die englische Flagge gehisst und Gibraltar im Namen seiner Königin Anne in Besitz genommen hatte.
Gibraltar gehörte zu dem Preis, den der Bourbone Philipp in Utrecht dafür zahlte, von den Briten und der internationalen Gemeinschaft als legitimer Herrscher Spaniens anerkannt zu werden. Im Artikel X des Utrechter Vertrages heißt es. „Der König von Spanien tritt aufgrund dieses Vertrages für sich und seine Erben und Nachfolger an die Krone Großbritanniens das volle und unverkürzte Eigentumsrecht auf die Stadt und Festung Gibraltar, den Hafen und die zugehörigen Verteidigungs- und Befestigungsanlagen für ewige Zeiten zum Besitz und Nutzen und ohne Einschränkung oder Behinderung ab.“
Diesen in einer Phase der Schwäche anerkannten Verlust der nationalen Integrität versuchen die stolzen Spanier seitdem, mit mehr oder weniger Energie rückgängig zu machen. Dabei gehört zur vollen Wahrheit, dass die Spanier ihrerseits afrikanisches Territorium auf der anderen Seite von Gibraltar nach wie vor besetzt halten.
Den imposantesten Versuch, Gibraltar mit einer Blockade in die Knie zu zwingen, unternahm Spanien in dem 1775 ausgebrochenen Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, als es mit dem ebenfalls bourbonisch regierten nördlichen Nachbarn und den 13 nordamerikanischen Kolonien gegen Großbritannien kämpfte. Ab 1779 belagerten 28000 Spanier und 33000 Franzosen das von 5000 Briten verteidigte Gibraltar. Und es gelang ihnen nicht, in den vier Jahren bis Kriegsende den Widerstand zu brechen. So wurde im Frieden von Paris, der den Unabhängigkeitskrieg 1783 beendete, Englands Besitz Gibraltars bestätigt.
Im Zweiten Weltkrieg bot sich dem Caudillo Francisco Franco die Chance, mit deutscher Hilfe die englische Herrschaft über den Felsen zu beenden. Doch war ihm der Preis, ein Krieg gegen Großbritannien und dessen Verbündete, zu hoch. Stattdessen versuchte er lieber, nach dem Zweiten Weltkrieg mit nichtmilitärischen Mitteln Druck auf Großbritannien auszuüben. Auf seiner Seite stand der zumindest nominell und offiziell auch von den Vereinten Nationen vertretene Nachkriegszeitgeist der Entkolonialisierung. Allerdings waren nicht nur Englands finanzielle, ökonomische und militärische Ressourcen größer als die spanischen, die Siegermacht war mit Nato und später der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auch ungleich besser vernetzt als das franquistische Spanien. Jenem blieb zwar als Lohn für die Neutralität im Zweiten Weltkrieg ein Regime Change (Regimewechsel) erspart, doch fristete es eine Art Paria-Dasein. Auf nennenswerte internationale Unterstützung durfte das Land seit dem Ende des Faschismus in Italien und des Nationalsozialismus in Deutschland nicht mehr hoffen. Und ein alleiniger Machtkampf, ob nun blutig oder auch nur unblutig, gegen die Engländer ähnelte dem Davids gegen Goliath.
Ähnlich wie in Argentinien führte auch in Spanien die Demokratisierung zu einer Verbesserung der Beziehungen zum Vereinigten Königreich. Allerdings hängt das demokratische Spanien nicht weniger an Gibraltar als das demokratische Argentinien an den Falklandinseln beziehungsweise Malwinen. Zwar öffnete das demokratische Spanien 1985 wieder die Grenze zu Gibraltar, die das franquistische 1969 geschlossen hatte. Doch blieb der spanische König der Hochzeit des britischen Thronfolgers 1981 demonstrativ fern, nachdem bekannt geworden war, dass die Hochzeitsreise von Charles und Diana auch über Gibraltar führen sollte.
Das britische Gibraltar bleibt auch für ein demokratisches Spanien eine Provokation. Aber es gibt kein ernst zu nehmendes Indiz, dass dieses chronische Problem durch den gegenwärtigen Sturm im Wasserglas eine entscheidende Wende erfahren könnte.