Dieser Artikel erschien bereits am 22.12.2012 in der PAZ, am 15. März 2013 im Kulturteil des „Deutschen Ärzteblattes“ und am 14. April 2013 in Schleswig-Holstein am Sonntag.
Von Uta Buhr
Der Verzehr einer echten Marseiller Bouillabaisse, die Lektüre eines Buches von Marcel Pagnol, ein Ausfahrt mit einer Fähre zum Châreau d’If… Und dann natürlich noch die Hafenstadt Marseille, die sich gerade herausputzt, um als Europäische Kulturhauptstadt 2013 ihren ganzen Glanz zu entfalten. Frankreichs älteste Stadt hat es in sich.
Ein bleigrauer Himmel hängt heute über der Hafenstadt im Golfe de Lion. Nieselregen setzt ein und schafft ein Verkehrschaos auf der Canebière, einer lärmenden Verkehrsader, die sich frei mit „Reeperbahn“ übersetzten lässt. Hier wurden früher wie in der Partnerstadt Hamburg Taue für die Schifffahrt „geschlagen.“ Gegen Mittag klart der Himmel auf. Eine sanfte Brise weht vom Meer herüber. Die Stadt verwandelt sich wie von Zauberhand berührt von einem Augenblick zum anderen. Die Straßencafés füllen sich mit Menschen, Teller klappern, Gläser klirren. Ein verführerisches Aroma von gegrilltem Fisch, exotischen Gewürzen und Knoblauch liegt in der Luft.
Die Segelyachten im Vieux Port lichten ihre Anker und nehmen Kurs aufs offene Meer. Die Stadt zeigt jetzt ihr wahres Gesicht, sagen die Marseillais. Der Regen von vorhin war so etwas wie ein „meteorologischer Betriebsunfall.“ Mit der alten Fähre, die schon der berühmte provenzalische Schriftsteller Marcel Pagnol benutzte, schippern wir gemütlich durch den Mastenwald des Alten Hafens, dessen Quais gerade restauriert und aufpoliert werden. Am nördlichen Ufer liegt das barocke Rathaus. Sehr nüchtern gegenüber seiner Pracht nehmen sich die Zweckbauten zur Rechten und Linken aus. „Kriegsschäden“, sagen die Einheimischen lakonisch. Marseille wurde im Zweiten Weltkrieg arg zerbombt. „Aber werfen Sie einmal einen Blick auf die Place Villeneuve-Bargenon!“ Hier prunken die meisterhaft restaurierten Fassaden von Stadtpalais aus dem 17. Jahrhundert. Gerade schneidet eine Jolle die Fähre. Der Mann an Bord grinst und weist mit dem Finger auf den Hügel am südlichen Ufer. Auf dem Gipfel erhebt sich die Kathedrale Notre-Dame-de-la Garde, das Wahrzeichen Marseilles. Die vergoldete Mutter Gottes mit dem Jesuskind auf dem Arm misst fast 13 Meter. Nachts in gleißendes Licht getaucht, ist diesem im neobyzantinischen Zuckerbäckerstil erbauten Monument ein gewisser Charme nicht abzusprechen. Unzähligen verirrten Touristen dient die güldene Jungfrau zudem als Wegweiser.
Unser Freund Jean-Louis, gebürtig aus Paris und inzwischen „naturalisierter“ Marseillais, sieht seine Aufgabe darin, Fremden seine neue Heimat als ebenso liebenswerte wie interessante Metropole nahe zu bringen. „Nicht wenige sind der Meinung, Marseille sei eine Art französisches Chicago. Hochkriminell und dreckig.“ Eine sehr einseitige Betrachtung, wie nicht nur Jean-Louis meint. Inzwischen wurden große Summe investiert, um Marseilles Image zu verbessern und die südfranzösische Metropole als Mittlerin zwischen den Kulturen Europas und Nordafrikas zu präsentieren. Ein 15 000 qm großer Glasquader, der das brandneue Museum für Europa und die Kulturen des Mittelmeeraumes beherbergt, wurde vom französischen Architekten Rudy Ricciotti, einer Art enfant terrible seiner Zunft, entworfen. Und auch das Museum für provenzalische Kunst ist eine Sensation. Die Hälfte dieses futuristischen Bauwerks liegt unter Wasser. Eröffnet werden diese und andere architektonischen Wunderwerke allerdings erst anlässlich der Feierlichkeiten zum Kulturjahr „Marseille Provence 2013“ Anfang nächsten Jahres.
Jeder, der Marseille mit offenen Augen und Sinnen durchstreift, wird von dieser quirligen Stadt, die nie zu schlafen scheint, fasziniert sein. Allein ihre Geschichte – Marseille ist Frankreichs älteste Stadt – stellt alle anderen Städte in den Schatten: Bereits um 600 v. Chr. zeigten sich die griechischen Phokäer aus Kleinasien sehr angetan von dem durch hohe Berge geschützten natürlichen Hafenbecken. Als Massalia ging der Ort in die Annalen ein. Von hier aus trieben die neuen Siedler einen lukrativen Handel mit den Mittelmeer-Anrainern. Im Jahre 49 v. Chr. übernahmen die Römer unter Julius Cäsar das Kommando über Stadt und Hafen. Und in späteren Jahrhunderten tummelten sich hier Ostgoten, die von den Normannen abgelöst wurden. 1481 fiel die Stadt zusammen mit der gesamten Provence an die französische Krone und mauserte sich zu einer der wichtigsten Städte des Landes. Im 19. Jahrhundert wurde Marseille schließlich nach dem Pariser Vorbild des Barons Georges Haussmann mit einem Netz breiter Boulevards neu gestaltet. Protzbauten mit klassizistischen Elementen entstanden, und mit dem Triumphbogen an der Porte d’Aix setzte sich das Kaiserreich ein Denkmal für die Ewigkeit.
Wer mit einem guten Reiseführer ausgerüstet Marseille erkundet, wird neben den bekannten Bauwerken wie dem Hôtel de Cabre (Grand’ Rue 27), dem Hôtel Dieu, dem prächtigen, 1593 erbauten Hospital, und der Vieille Major, der romanischen Bischofskirche aus dem 12. Jahrhundert, viel Reizvolles entdecken. Insgesamt sechzehn Arrondissements (Stadtteile) zählt Marseille. Einige davon sind intakte Fischerdörfer mit schmucken Häuschen und farbenfroh lackierten Booten, die direkt vor der Haustür im Wasser dümpeln.
Ein Erlebnis ist der Fischmarkt im Vieux Port am frühen Morgen. Hier preisen Fischer ihren frischen Fang lauthals an: Seebarsch, Peterfisch, Seeteufel und anderes Seegetier. Hausfrauen prüfen die Qualität, feilschen und lassen sich gern mit ihren Einkäufen am Quai des Belges zu einem „petit café“ nieder. Währenddessen legt die Fähre ab, die ihre Passagiere zum Château d’If bringt. Hinter den dicken Mauern dieser Zitadelle ließ Alexandre Dumas seinen literarischen Märtyrer, den Grafen von Monte Cristo, schmachten. Die Realität sah nicht minder düster aus. Hier wurden nach dem Widerruf des Toleranzediktes von Nantes unter Ludwig XIV. Protestanten und andere der Krone unliebsame Untertanen eingekerkert. Heute hat die Festung ihren Schrecken verloren. Man durchquert hohe Gewölbe und erreicht über steinerne Treppen eine breite Aussichtsplattform, die sich vorzüglich für ein Sonnenbad eignet.
Vor einer Reise nach Marseille ist die Lektüre eines Buches von Marcel Pagnol unerlässlich. Kein anderer Schriftsteller hat die Schlitzohrigkeit des waschechten Marseillais so treffend skizziert wie er. Man trifft seinen Helden Marius, einen etwas aufschneiderischen, zutiefst gutmütigen Bonvivant, auch heute noch mit seinen Freunden Fanny und César in der Bar Marine am Quai de Rive Neuve 14. Hier ersann Pagnol einst seine Romanfiguren. Nach einem Pastis und kurzem Plausch mit dem „patron“ des Etablissements folgt ein weiteres Abenteuer, das dîner. Wer nennt die Restaurants, wer beschreibt die Speisefolgen? Obligatorisch aber ist der Verzehr einer echten Marseiller Bouillabaisse. Welcher Koch die beste macht, ist schwer zu sagen. Keinen Fehler begeht jener, der die berühmte Fischsuppe im „Miramar“ am Quai du Port 12 bestellt. Der Kellner serviert sie kochendheiß und empfiehlt auch gleich den passenden Wein dazu. Ein Hochgenuss. Bon appétit!
Fotos: Uta Buhr