von Götz Egloff
Sasha Grey, Neü Sex, erschienen bei Vice, New York 2011 (dt. Neü Sex, Heyne, München 2011). Fotos: Sasha Grey, Ian Cinnamon
Individuation vollzieht sich anders als es viele Lehrbücher darstellen. Es ist ein innerer und äußerer Prozess, eine Suche, die vielleicht lebenslang läuft und nie abgeschlossen ist. Eher eine Odyssee – eine Reise, bei der man nie so ganz ankommt. Georg Lukácz wusste dies, Erik Erikson hat sich an einer Systematisierung versucht. Das Leben als Krisenbewältigung; nicht linear, eher schon rückbezüglich, oft chaotisch, co-evolutionär.
Sasha Grey, 23-jährige Performance-Künstlerin, Sexdarstellerin, Soderbergh-Actrice und vieles mehr, präsentiert in ihrem Foto-Band Neü Sex nun alles davon zusammen und auf einmal und ganz viel davon. Die Frau, das Gesamtkunstwerk. Wer nun grelles Makeup, buntes Plastik und Transgender-Schrillheit à la Lady Gaga erwartet, wird beim Blick in den Band enttäuscht. Selten stellt sich zwischen Naturalismus, Realismus und Post-Feminismus eine Serie weiblicher Erkundung des Selbst und der Welt so direkt und so dazwischen dar. Ein Dazwischen als Dauerzustand.
Die Stärke des Bandes liegt im Einfangen eben dieses Dazwischen. Nan Goldin und Terry Richardson lassen grüßen, dennoch hat der Band etwas Eigenständiges und Organisches. Folgt man Sasha Greys Bilderserie chronologisch von Anfang bis Ende, wird deutlich, dass hier eine Entwicklung stattfindet. Die Dynamik der Bilder ist einmal moderat, einmal wild, immer entschlossen; dabei fällt auf, dass die Protagonistin zum Ende hin öfter einmal Kleidung trägt…
Obwohl in Zeiten medialer Reizüberflutung kaum eine Einstellung neu sein dürfte, gelingt Grey im Gesamt der Serie ein Hinausgehen über eine etwaige Aneinanderreihung (halb-)nackter Alltagsmotive ihrer Person. (Doch die Motive stehen durchaus auch für sich: Nacktes Kuchenbacken wurde selten so kunstvoll prosaisch dargestellt wie in diesem Band.) Ihr Darüberhinausgehen wird in der Zusammenschau der Bilderfolge deutlich; was manchmal als biologisches Geschlechts-Motiv erscheint, trägt meist auch das soziale Gender-Motiv in sich; deswegen heißt der Band gewiss auch nicht neu, sondern neü.
Frauen-Bilder wie diese waren bislang vornehmlich an der Volksbühne Berlin zu sehen, verkörpert vielleicht durch Kathrin Angerer oder Maria Kwiatkowsky. Sehr privat, und sehr öffentlich zugleich. Wie in einem Brennglas bündeln sich so individuell-psychologische und gesellschaftlich-soziologische Sichtweisen vor dem Hintergrund von Andy Warhols 15-Minuten-Ruhm-Devise.
Ästhetisch irgendwo zwischen Glam Slam, Peaches und Trailerpark, aber eben immer dazwischen, tummelt sich Sasha Grey auf der Suche nach sich selbst, stellt aus, erkundet, nimmt teil. Ihr Rückgriff auf Così Fan Tuttes Leben-um-zu-erfahren-Topos passt hier sehr gut. Ein Foto-Doku-Kunstwerk, das das Leben vieler junger Frauen irgendwo zwischen Post-Anpassung, Post-Rebellion und alltäglicher Selbst-Ausbeutung spiegeln dürfte und die Fragen, die René Pollesch in seinen Inszenierungen stellt, intuitiv visuell und taktil zu beantworten sucht. Unerwartet und ungewöhnlich.