Kongressbericht zum Jaspers-Kongress der Universität Heidelberg: ´100 years of Karl Jaspers´ „General Psychopathology“´ Heidelberg, 15.-16.09.2011
von Götz Egloff
Im Rahmen der diesjährigen 625-Jahr-Feier der Universität Heidelberg konnte ein weiteres Jubiläum gefeiert werden, das für Philosophie und Psychiatrie von maßgeblicher Bedeutung ist: das Verfassen und Veröffentlichen der „Allgemeinen Psychopathologie“ (1913) durch Karl Jaspers (1883-1969). Dieser hatte als junger wissenschaftlicher Assistent an der Psychiatrischen Klinik Heidelberg ein Standardwerk geschrieben, das eine existenzphilosophische Grundlegung für Anthropologie und Psychiatrie darstellt, die weltweit wirkte und noch heute Geltung beanspruchen kann.
Geleitet von den Heidelberger Psychiatrie-Professoren Thomas Fuchs, Sabine Herpertz und Christoph Mundt, bot der Kongress im Rahmen heutiger Forschungs-Paradigmen eine kritische Würdigung Jaspersscher Grundkonzepte, mit denen Begrifflichkeiten wie z.B. Illusion und Grenzsituation verbunden sind. Die Auseinandersetzung mit Sigmund Freud und der Psychoanalyse (Sabine Herpertz, Heidelberg) war ebenso Thema wie die Verbindung zwischen Hermeneutik und Dialektik im psychiatrischen Verstehensprozess anhand der Polaritätsidee (Otto Dörr-Zegers, Santiago), Fragestellungen von Methodologie (Osborne Wiggins, Louisville), Nosologie (Henning Sass, Aachen) und Operationalisierung phänomenologischer Ansätze in heutigen Diagnosesystemen ICD und DSM (Alfred Kraus, Heidelberg). Diese sowie die weiteren hervorragenden Vorträge des Kongresses werden in einem voraussichtlich in 2012 erscheinenden Tagungsband veröffentlicht, der mit Spannung erwartet werden darf.
Psyche ist kein Objekt, kein Ding, kein materiales Etwas – eher schon der existenzielle Zustand des In-der-Welt-seins. So hatte Jaspers schon vor 100 Jahren der von ihm so benannten Hirnmythologie strenger Naturwissenschaften eine Absage erteilt; etwas, hinter das – bei aller Notwendigkeit neurobiologischer Forschung – nicht zurückgefallen werden sollte. Zwischen biologischer Psychiatrie mit ihrem radikalen Materialismus, die Psyche als chemisches Gewitter im Gehirn erklärt und allein in den bildgebenden Verfahren Erklärungen für normales und abnormales Verhalten sucht, radikalem Konstruktivismus, und immer noch – oder wieder – den in monotheistischen Religionen weit verbreiteten vormodernen Vorstellungen von Psyche als Beseelung ´von außen´, stellt Jaspers´ phänomenologischer Ansatz ein wohltuendes Konzept der Hinwendung zum Menschen dar, das quer liegt auch zur experimentellen Forschung der akademischen Psychologie.
In Zeiten von Optimierungsdenken und damit verbundener schneller Lösungen, die sich zunächst großer Beliebtheit erfreuen und in ihrem Scheitern ebenso rasch Anlass zur Klage geben, ist der mühsame Weg des Verstehens, des Bemühens um das Erfassen bio-psycho-sozialer Zusammenhänge aktueller und notwendiger denn je. Es gilt, die eigenen Vorannahmen immer wieder kritisch zu reflektieren – und ebenso die Unerkennbarkeit der Welt zu Gunsten vorläufiger Arbeitsmodelle zu akzeptieren. Jaspers, als Vertreter der Lebensphilosophie, sah die Grundlage des Seins nicht gegenständlich. Stattdessen bewegt sich der Mensch in einem fortwährenden Spannungsfeld, das höchstens fließend kategorisierbar ist und sich somit immer irgendwo zwischen normal und abnormal befindet. Die Existenzphilosophie Jaspersscher Prägung erscheint daher unerlässlich zum Verständnis von undurchdringlichen Phänomenen und Zusammenhängen, mit denen der Mensch täglich konfrontiert ist.
Als Leitmotiv des Jaspers-Kongresses lässt sich die konsequente Ausrichtung auf den Menschen festhalten. Um den von Thomas Fuchs zitierten, Terentius zugeschriebenen lateinischen Schlusssatz der Konferenz hier in der Kongresssprache aufzunehmen: „Being human, I consider nothing human being alien to me.“